Noch immer hatte Sara keinen rechten Appetit, auch wenn das Brot ausgesprochen köstlich duftete und der kalte Braten besonders schmackhaft aussah. Akosh hingegen langte kräftig zu. Er hatte sich sichtlich Mühe gegeben und sogar wilden Honig und eine Gewürzpastete mitgebracht.
„Du solltest wirklich etwas essen.“ riet er. „Hier müssen wir nicht mehr mit Vorräten haushalten. Vas-Zarac hat gut gefüllte Speisekammern. Kein Wunder, niemand würde es wagen, die Cas hungern zu lassen, wenn sie hier sind.“
Augenscheinlich hatte der Schmied aus Goriol beste Laune.
„Warum hat sie es mir nicht gesagt?“ fragte Sara geradeheraus.
Akosh ließ das Stück Brot, das er sich gerade genommen hatte, langsam sinken.
„Sara...“
„Ich meine, ich verstehe das. Wirklich. Im Nebeltempel, in Goriol und Fangmor und Gahl... Aber hier, im Sichelland? Musste ich es unbedingt so erfahren?“
„Es war nicht meine Entscheidung, Sara.“
„Natürlich nicht. Das ist es nie. Aber vielleicht kennst du trotzdem die Antwort? Warum nicht wenigstens in Askaryan?“
„Ich weiß es nicht. Nein, sieh mich nicht so an. Ich weiß es wirklich nicht. Anfangs kannte sie dich nicht. Und du weißt inzwischen genug, um verstehen zu können, dass wir kein Risiko eingehen können. Für die Hantua wäre die Shaj der Nacht wohl die erstrebenswerteste Beute überhaupt. Nicht einmal Iandal scheint zu wissen, wer Lennys heute ist. Als er damals seinen Tod vortäuschte, war Saton gerade erst gestorben, er hat überhaupt nichts davon mitbekommen, wie es in Cycalas weiterging. Es wundert mich trotzdem, weil er ja eigentlich gut informiert ist. Oder es war ihm doch egal. Aber was Lennys betrifft.... Vielleicht hätte sie es dir gesagt, als wir aus dem Verlassenen Land zurück kamen. Aber dann erhielten wir die Nachricht von dem Mord an Makk-Ura. Kannst du dir nicht vorstellen, wie ernst die Lage war? Makk-Ura tot. Talmir ein alter Mann. Und Lennys, die dritte Herrscherin, befindet sich quasi inmitten der Hantua jenseits der cycalanischen Grenzen. Deshalb musste sie so schnell zurückkommen. Und wahrscheinlich hat sie deshalb beschlossen, ihr Geheimnis weiter für sich zu behalten. Was wäre gewesen, wenn die Hantua dich gefangen genommen hätten und die Wahrheit aus dir heraus gepresst hätten? Oder wenn ein unbedachtes Wort im falschen Moment gefallen wäre? Niemand hätte dir einen Vorwurf gemacht, Sara, gewiss nicht. Aber das Risiko war einfach zu groß. Nicht, weil wir dir nicht vertraut hätten. Sondern weil dieses Wissen eine viel zu große Gefahr dargestellt hätte. Insgeheim hat Lennys wohl gehofft, du würdest von selbst darauf kommen. Ich weiß nicht, warum sie es dir nicht erzählt hat, nachdem ihr über die Grenze gekommen seid. Vielleicht dachte sie, es käme darauf auch nicht mehr an. Aber eines solltest du wissen. Wenn du sie gefragt hättest, dann hätte sie dich nicht angelogen. Da bin ich mir sicher.“
„Ich kenne meinen Stellenwert, Akosh.“ sagte Sara. Sie klang plötzlich sehr ernst. „Ich weiß, dass ich keinen Anspruch auf irgendein Wissen habe und dass ich eigentlich gar nicht hier sein dürfte. Ich weiß nicht, was ich hier tue. Vielleicht ärgere ich mich nur über mich selbst. Noch vor einigen Wochen hatte ich mir gewünscht, Beema hätte eine andere Novizin als Leibdienerin für Lennys ausgesucht, weil ich mich der Aufgabe nicht gewachsen gefühlt habe. Und jetzt sitze ich hier und beschwere mich, weil man mir eines der größten cycalanischen Geheimnisse nicht anvertraut hat. Ich bin nicht wütend auf Lennys oder dich oder sonst jemanden, sondern nur auf mich selbst. Für euch bin ich ein Nichts, ein Niemand. Aber ihr seid für mich alles, was ich habe. Ich hatte nie eine Familie, sondern nur den Tempel. Die lange Reise mit euch hat mich verändert und mir wird immer mehr klar, dass ich meinen Platz erst noch finden muss. Er ist nicht im Nebeltempel und dort war er auch nie. Aber ich weiß auch nicht, wo er sonst sein könnte. Hier gehöre ich nicht her, ich werde nie eine von euch sein. Aber was bin ich dann? Wie kann ich euch nützen? Ich kann nicht gegen hunderte Hantua in den Kampf ziehen wie die Cas. Ich kann keine Waffen schmieden wie du. Oder wie Menrir Gespräche mit Log führen. Alles, was ich kann, ist herumsitzen und jammern.“
Akosh entspannte sich ein wenig und griff wieder zum Brot.
„Ehrlich gesagt, jammerst du viel weniger als ich es an deiner Stelle tun würde.“ erwiderte er kauend. „Es ist sicher nicht leicht für dich, hier in einem fremden Land auf dein Schicksal zu warten. Und um dir kurz zu widersprechen – du hast uns mehr geholfen als viele andere, die es schon allein aufgrund ihrer Herkunft tun sollten. Sieh dir Fraj an, der sitzt nur in Gahl und versucht, seine Schulden zu bezahlen und hofft, dass ihm neben seinen Gläubigern nicht auch noch Hantua oder Cycala auf den Fersen sind. Aber du...“ Er nahm sich noch ein Stück Braten. „Du... hast gelernt zu kämpfen und dein Talent dahingehend schon mehrfach unter Beweis gestellt. Du bist eine ausgezeichnete Köchin, eine hervorragende Heilerin und ganz nebenbei eine Leibdienerin, die Lennys nicht gleich nach ein paar Tagen zum Teufel geschickt hat. Es sind nicht immer die größten Krieger, die eine Schlacht entscheiden, Sara. Hab Geduld und warte ab. Jeder von uns muss seinen Weg gehen. Und ich bin davon überzeugt, dass der deine sich noch nicht so bald von uns trennen wird.“
„Was soll ich denn hier tun? Gibt es irgendwelche Arbeiten, die ich erledigen kann?“
„Arbeiten?“ Akosh lachte. „Nein, du musst hier nicht arbeiten. Ruh dich aus. Geh in den Burggarten oder sieh dir die Festung an. Ich kann dich gern ein wenig herumführen, soweit es meine Zeit erlaubt. Heute wird daraus aber wohl nichts mehr. Wir erwarten Talmirs Ankunft und sobald er hier ist, wird der Hohe Rat zusammentreten. Man hat mir erlaubt, an der Versammlung teilzunehmen. Aber du wirst dich trotzdem nicht langweilen. Du hast nämlich Besuch.“
„Besuch? Ich?“
Ein vielversprechendes Grinsen breitete sich auf Akoshs Gesicht aus. „Du wirst dich freuen, denke ich. Sie werden gleich hier sein, sobald sie mit Lennys gesprochen haben.“
In diesem Moment klopfte es.
„Als hätte ich es geahnt.“ Akosh stand auf und warf seine Serviette auf den Tisch. „Bitte entschuldige mich jetzt. Die Reste hier lasse ich abholen, du brauchst dich nicht darum zu kümmern.“
Er öffnete die Tür und verschwand nach draußen, allerdings nicht, ohne die nächsten Gäste mit einem freundlichen Augenzwinkern eintreten zu lassen.
„Menrir! Imra!“ schrie Sara auf und flog den beiden Männern freudestrahlend um den Hals. „Wie kommt ihr denn hierher? Wie geht es euch?“
Beide sahen müde aus, hatten aber offenkundig ebenso gute Laune wie Akosh. Imra errötete als Sara ihn genauso herzlich begrüßte wie den alten Heiler.
„Eins nach dem anderen.“ antwortete Menrir. „Uns geht es hervorragend, wenn man davon absieht, dass mir jeder Knochen einzeln weh tut. Ich bin wirklich zu alt für solche weiten Reisen. Aber ganz im Ernst: Du glaubst nicht, wie froh ich bin, dich gesund und munter wieder zu sehen. Lennys hielt es nicht für nötig, in ihren Nachrichten zu erwähnen, wie es dir geht und ob du überhaupt noch bei ihr bist.“
„Mir geht es gut, danke! Und dir, Imra?“
„Ich kann nicht klagen. Wie unser Freund Menrir schon sagte, es war ein beschwerlicher Weg hierher, aber ein solcher Empfang entschädigt uns natürlich.“
Hastig schob Sara die benutzten Teller und Platten zusammen. Von den Speisen war nicht viel übrig geblieben.
„Vielleicht kann ich euch irgendwo noch etwas zu essen...“
„Lass gut sein, mein Kind.“ Menrir zog einen Stuhl zu sich. „Wir sind schon seit heute mittag hier und haben uns bereits gestärkt. Aber wir sind ausgehungert nach Neuigkeiten. Zwar haben wir von Akosh und Oras schon das Wichtigste erfahren, aber...“
„Oras ist auch hier?“ fragte Sara überrascht.
„Nein, das nicht. Wir haben ihn zwischen Gahl und Elmenfall getroffen. Aber dazu später mehr. Erst musst du uns erzählen, wie es euch ergangen ist. Oras und Akosh haben uns von den Ereignissen im Verlassenen Land berichtet, aber in beiden Fällen hatten wir nicht viel Zeit für Einzelheiten.“
Also