Was Sara aber am meisten auffiel, war die Tatsache, dass sie nur sehr selten anderen Sichelländern begegneten. Hier und da gab es zwar sauber gemauerte Häuser, doch niemand war in ihrer Nähe zu sehen. Nur zwei- oder dreimal konnten sie in der Entfernung vereinzelte Menschen ausmachen, die aber zu weit weg waren, um auch nur ihr Geschlecht zu erkennen.
Inzwischen spürte die Mittelländerin den Schmerz nicht mehr, den das ständige Reiten in ihren Knochen hervorrief. Sie genoss die herrliche Landschaft, den Duft der wilden Kräuter und das Gefühl der Freiheit, dass sich hier unweigerlich einstellte. Keine Stadtwachen, die sie des Diebstahls bezichtigten, keine missgünstigen Tempeloberinnen, keine stinkenden Hantua. Selbst wenn die Cycala sie hier nicht mögen oder dulden würden, fühlte sie sich dennoch geschützt.
Auch in Lennys war eine gewisse Veränderung vorgegangen. Sie war ruhiger und ausgeglichener geworden und wenn sie auf Saras seltene Fragen nicht antworten wollte, schwieg sie und verzichtete auf bissige Zurechtweisungen. Trotz der ernsten Situation, in der sie sich befanden, wirkte die Sichelländerin entspannt und sie konnte es kaum verbergen, dass sie froh war, wieder in ihrer Heimat zu sein.
Zweimal machten sie kurz Rast, um etwas zu essen und ihre Wasserflaschen neu zu füllen. Für längere Ruhepausen war keine Zeit.
„Du wirst bald genug Gelegenheit haben, dich von der Reise zu erholen.“ sagte Lennys einmal, als Sara sich erleichtert ins Gras sinken ließ. „In Semon-Sey werde ich kaum Zeit für dich haben. Uns stehen ungemütliche Zeiten bevor und alle Krieger werden gefordert. Solange ich dir nichts anderes auftrage, wirst du tun können, was du willst. Natürlich musst du dich an Regeln halten. Aber das erfährst du noch früh genug."
Gegen Abend tauchten plötzlich in der Ferne die Umrisse eines kleinen Dorfes auf. Sara wunderte sich ein wenig, denn sie hatte sich Semon-Sey eigentlich um einiges größer vorgestellt. Doch ihr Irrtum wurde schnell aufgeklärt.
„Das dort drüben...“ rief Lennys ihr zu, „... ist nichts für dich. Dort wohnen Cycala, die keine Fremden in ihrem Ort dulden. Auch nicht in meiner Begleitung. Sie bleiben lieber unter sich.“
„Dann ist das nicht Semon-Sey?“
„Nein. Es ist ein Dorf der Batí. In Cycalas gibt es einige Gegenden, in denen du keine anderen Stämme antreffen wirst. Natürlich leben in Semon-Sey auch andere Cycala, aber die Batí würden niemals in Städte wie Zarcas oder Askaryan ziehen. sie gehören hoch in den Norden. Einige von ihnen leben noch viel weiter oben, in den Wäldern. Dort steht auch ihr Tempel. Selbst den anderen Sichelländern ist der Zutritt dort verboten. Halte dich am besten fern von ihnen, die meisten wollen nichts mit Fremdländern zu tun haben."
„Woran kann ich sie erkennen?“
„Du wirst schon merken, wer dazu gehört. Und die, bei denen du es nicht merkst, sind vielleicht auch weniger verschlossen und verhalten sich wie die anderen Sichelländer. Du wirst auch in Semon-Sey einigen von ihnen begegnen. Das Beste ist, wenn du zu allen Abstand hältst, die nicht von selbst auf dich zugehen."
Es war bereits Nacht geworden, als sie die Stadtgrenze Semon-Seys erreichten. Im ersten Moment fühlte sich Sara an Askaryan erinnert, auch wenn auf den Türmen der hohen Stadtmauer keine Feuerschalen entzündet waren. Doch kaum hatten sie das schwere Tor, das zu beiden Seiten von jeweils drei vermummten Kriegern bewacht war, passiert, musste sie erkennen, dass sie sich in einer völlig anderen Welt befand.
Im Gegensatz zu Askaryan schien die Stadt hier wie ausgestorben. Askaryan war still gewesen, weil die Menschen am Straßenrand kein Wort gesprochen hatten, doch hier war überhaupt niemand zu sehen. Dass es an der späten Stunde lag, konnte sich Sara nicht vorstellen, waren doch die Cycala dafür bekannt, dass sie lieber in der Nacht als am Tage ihren Beschäftigungen nachgingen. Auch in den Fenstern brannten kaum Lichter, nur vereinzelt flackerte eine Kerze einsam in der Finsternis hinter zugezogenen Vorhängen. Die Häuser waren aus demselben dunklem Stein gebaut, mit dem auch die breiten Straßen gepflastert waren, nur selten hob sich das eine oder andere durch ein helleres Grau ab. Alles war sehr sauber und gepflegt, aber zugleich auch merkwürdig unheimlich und finster. Auch hier gaben sich die Cycala sichtlich Mühe mit den kleinen Gärten, doch auf den polierten Eisenzäunen saßen glitzernde Spitzen und die Tore waren mit schweren Riegeln und Schlössern gesichert. Hier und da verbreiterten sich die Straßen zu runden Plätzen, in deren Mitte kunstvoll gemauerte Brunnen eingelassen waren und um die sich Geschäfte und Handwerksbetriebe reihten. Vor der verschlossenen Schmiede stand eine große Pferdetränke.
Lennys hielt an.
„Steig ab.“
Etwas überrascht kam Sara der Anweisung nach. Gleich nach ihr landete auch Lennys lautlos auf dem Boden. Der Rappe trottete gleichmütig zu dem Steinbecken und stillte seinen Durst.
Unbehaglich sah Sara sich um. Es war gespenstisch in dieser Stadt, weder Wachen noch späte Wirtshausbesucher oder Wanderer waren unterwegs. Keine streunenden Katzen und Hunde, kein verstohlenes Husten.
Lennys wartete wortlos, bis der Hengst fertig war, nahm ihn am Zügel und führte ihn nun hinter sich her. Seine Hufschläge waren das einzige Geräusch.
Sie bewegten sich weiter die Hauptstraße entlang, die nach einigen Biegungen schließlich schnurgerade in einen weniger dicht bebauten Teil der Stadt führte. Niedrige Gebäude wechselten sich mit kleineren Rasenflächen ab, die zu mancher Seite durch dichte Hecken begrenzt wurden. Schließlich endete der Weg erneut vor einem Eisentor, zu dessen beiden Seiten eine schulterhohe Mauer ein weitläufiges Areal einschloss. Beeindruckt starrte Sara durch die Gitterstäbe.
Eine breite Treppe führte über mehrere terassenartige Absätze hinauf. Immer wieder bildeten kniehohe Rabatte symbolische Barrieren, über die wilder Wein rankte. Hinter einer weiteren Mauer, deren Durchlass jedoch nur von zwei in Stein gemeißelten Sicheln eingerahmt wurde, erhob sich ein riesiger Schatten.
Schwarz und drohend thronte die Festung Semon-Seys über ihnen.
„Bei allen Göttern...“ hauchte Sara überwältigt.
„Das solltest du hier lieber keinen hören lassen...“ mahnte Lennys leise. „Cycalas ist kein Land, in dem man einen anderen Gott als Ash-Zaharr verehrt.“
„Entschuldigt. Ich war nur... ich habe noch nie ein solches Gebäude gesehen...“
Die Burg war gänzlich aus schwarzem Stein errichtet, der sich kaum von dem Nachthimmel dahinter abhob. Obwohl mehrere Türme und Balustraden ihr ein majestätisches Antlitz verliehen, strahlten ihre glatten und schmucklosen Wände doch eine beklemmende Nüchternheit aus. Hinter keinem der hohen Fenster gab es auch nur die geringste Spur von Leben.
„Du musst von jetzt an sehr vorsichtig sein mit dem was du sagst.“ warnte Lennys. „Man wird auf jedes deiner Worte achten.“
„Es tut mir leid. Aber es hat mich wohl auch niemand gehört. Ich habe weit und breit niemanden gesehen.“
„Hast du nicht inzwischen genug über uns gelernt? Dachtest du wirklich, wir können unbeobachtet durch eine Stadt wie Semon-Sey spazieren? Und bis zu ihrem Zentrum vordringen?“
Sara blickte sich um, doch noch immer konnte sie kein anderes Lebewesen erkennen.
„Diese Festung... Sie wirkt so... verlassen...“
Lennys nickte.
„Das ist sie. Hier lebt zur Zeit niemand. Es ist die Burg 'Vas-Zarac'. Mitternacht. Oder auch Zentrum der Dunkelheit. Es gibt viele Möglichkeiten, es zu übersetzen. Für die Krieger Cycalas' ist dies der wohl wichtigste Ort des ganzen Landes. Es ist das Zuhause des Shajs der Nacht.“
Es war nicht der beständige kalte Wind, der Sara jetzt erschauern ließ. In diesem einen Moment wurde ihr plötzlich klar, wo sie sich befand. Mitten im Sichelland, dem berüchtigten Reich der Krieger und Dämonen. Und hier, direkt vor ihr, lag der Ort, von dem all jene Macht ausging, die andere Völker