Am auffälligsten aber waren die Menschen in Askaryan. Und zwar, weil sie überhaupt nicht auffielen. Beinahe alle trugen schwarze Umhänge, nur einige junge Leute hatten ein dezentes Taubenblau, dunkles Violett oder eine unauffällige Schieferfarbe gewählt. Und obwohl Askaryan mindestens so groß wie Goriol zu sein schien, wäre niemand auf die Idee gekommen, einen Vergleich zu ziehen. In der Stadt der Wanderer lärmte buntes Treiben, Marktschreier priesen ihre Waren an, man lachte und scherzte auf der Straße oder stritt über den Gartenzaun hinweg.
Doch hier, in Askaryan, herrschte Stille.
Niemand sprach. Niemand grüßte. Niemand lachte und niemand eilte seinem übermütigen Kind hinterher oder schlug seinem Nachbarn auf die Schulter. Sie alle standen hinter den Zäunen und Mauern oder verschwanden gerade in den Nebenstraßen. Keiner kreuzte ihren Weg oder sah ihnen neugierig nach. Und doch glaubte Sara, aus dem Augenwinkel zu erkennen, wie sich Köpfe neigten und zuweilen die schwarzen Umhänge wie verlorene Schleier zu Boden glitten, weil ihre Träger herniedersanken.
All die Eindrücke waren für Sara zu überraschend und auch zu unerklärlich, als dass sie inmitten dieser fremden Welt noch weitere Besonderheiten hätte in sich aufnehmen können. Ein quadratischer Platz, in dessen Mitte mehrere Steinblöcke im Kreis aufgestellt waren, ein großes Gebäude ohne Fenster, jedoch mit umso schwerer gesicherten Türen, sowie eine lange Mauer, in die seltsam verschlungene Gestalten als eine Art Relief eingehauen worden waren, glitten vorbei, ohne dass sie auch nur versuchte, ihren Sinn zu hinterfragen.
Irgendwann veränderte sich ihre Umgebung erneut. Immer größer wurden die Abstände zwischen den Häusern, immer häufiger wichen die gepflasterten Plätze sauber gestutzten Rasenflächen und statt der kunstvoll geschmiedeten Zäune trennten düstere Hecken die einzelnen Grundstücke voneinander. Schon bald wuchsen die Grünflächen immer mehr zusammen, bis sie sich zu einer ausgedehnten Parkanlage verbanden.
Ein heller Streifen schimmerte ihnen weit hinten entgegen und als sie näher kamen, erkannte Sara ein hohe Mauer aus weißen Steinen, die an einer Stelle von einem unüberwindbaren Eisentor durchbrochen wurde. Mehrere schwarz gewandete Wachen standen zu beiden Seiten und unter ihren Umhängen blitzten die Klingen der Shajkane hervor.
Nur wenige Schritte von dem Tor entfernt brachte Lennys den Mondhengst zum Stehen und ließ Sara absteigen. Anschließend sprang sie selbst zu Boden.
Einer der schwarzen Wächter löste sich nun aus der Reihe, verbeugte sich knapp und übernahm die Zügel des Pferdes. Lennys achtete nicht weiter auf ihn und schritt jetzt auf das Tor zu, das sich plötzlich wie von selbst öffnete. Angespannt folgte Sara ihrer Herrin in den dahinterliegenden Bereich.
Die Wachen beäugten die Dienerin misstrauisch, doch sie stellten sich ihr nicht in den Weg.
Hinter dem Tor durchquerten sie zunächst einen ordentlich angelegten Garten, der schließlich vor einem imposanten Bauwerk endete. Es unterschied sich nicht nur in Größe und Stil von den anderen cycalanischen Häusern, sondern fiel vor allem dadurch auf, dass es aus denselben weißen Steinen erbaut war, aus der auch die hinter ihnen liegende Mauer bestand. Hohe Fenster, ein säulenverzierter Balkon, der allein schon die Größe eines kleinen Marktplatzes besaß und fremdartige Steinfiguren an den Wänden machten deutlich, dass wohl nicht alle Cycala einen ausgeprägten Sinn für Nüchtern- und Bescheidenheit hatten. Wer auch immer hier lebte, zeigte gern seinen Reichtum.
Bevor sie die Stufen zu der ebenfalls gut bewachten doppelflügligen Eingangstür emporstiegen, drehte Lennys sich zu Sara um.
„Hier herrschen strenge Regeln und Gesetze, auch wenn der Herr dieses Hauses gelegentlich darüber hinwegsieht. Trotzdem wirst du dich, solange wir hier sind, so verhalten, wie man es von einer gehorsamen Dienerin erwartet. Du sprichst nicht, es sei denn, man fordert dich dazu auf. Du hältst dich stets hinter mir und wenn wir im Empfangssaal sind, wirst du die Letzte sein, die Platz nimmt. Schlag deine Kapuze hoch und halte den Kopf gesenkt. Sieh niemandem gerade ins Gesicht. Beobachte die anderen Dienstboten und tu es ihnen gleich, wenn sie sich verneigen oder in den Hintergrund treten, es sei denn, ich sage dir etwas anderes. Hast du das alles verstanden?“
„Natürlich.“
„Es wird Gerede geben, weil ich dich überhaupt mit hierher gebracht habe und erst recht werden viele nicht verstehen, dass du Zutritt zu diesem Hause erhältst. Dies ist eines der beiden Domizile des Shajs Talmir. Für gewöhnlich lebt er in unserem Haupttempel in Zarcas, aber derzeit wird er hier in Askaryan gebraucht. Du kannst dir ja denken, warum. Vergiss also nicht, dass du gleich einem unserer Herrscher gegenübertreten wirst, ganz gleich, wie freundlich er dich begrüßt und wie nachsichtig er dich behandelt.“
Sara nickte.
„Gut. Wir werden hier nicht lange bleiben.“ Sie wandte sich noch einmal an den Wachposten, der die Zügel des Mondhengstes hielt.
„Füttern und Tränken. Ansonsten lass die Finger von ihm. Ich brauche ihn bald wieder.“
Der Sichelländer verbeugte sich zum Zeichen, dass er verstanden hatte und führte das Pferd dann in einen anderen Teil des Parks. Die restlichen Wachen verharrten bewegungslos, bis Lennys ihnen ein Zeichen gab. Dann trat einer von ihnen vor und öffnete das große Portal.
Der Empfangssalon war noch um einiges größer als der Festsaal des Nebeltempels. Die Marmorfliesen waren auf Hochglanz poliert und die Wände waren durch kostbare Wandteppiche in Silber, Blau und Rot geschmückt. Es gab keinerlei Möbel mit Ausnahme eines großen runden Tisches, um den mehrere hohe Lehnstühle standen, deren lederne Polster mit Silbernieten beschlagen waren. Kniehohe, buntglasierte Vasen mit weißen Rosen standen vor den Fenstern.
Lennys und Sara waren allein. Der Hausdiener hatte sie hierher geführt, ohne auch nur ein Wort zu sagen und anscheinend war er jetzt davon geeilt, um ihren Besuch anzumelden. Das alles war so selbstverständlich vor sich gegangen, dass Sara eine gewisse Erleichterung verspürte. Akosh war also wohlbehalten in Askaryan angekommen und hatte ihr Kommen angekündigt.
Die Flügeltüren des Saales schwangen lautlos auf.
Selbst Talmirs strahlendes Lächeln konnte die Sorgen, die ihn quälten, nicht verbergen. Um seine Augen zeichneten sich noch mehr Falten ab als bei ihrem letzten Treffen und sein Blick war müde und abgespannt.
Im Schlepptau hatte er ein halbes Dutzend Hausdiener, die sich jetzt mit gesenktem Haupt an der Wand neben der Tür aufstellten. Zwei weitere folgten mit schwer beladenen Tabletts und begannen nun, Tee, Gebäck und frische Blumen auf dem Tisch zu verteilen.
„Was für eine Freude!“ rief Talmir. „Ich bin wirklich erleichtert über deine Ankunft, umso mehr, da sie schneller erfolgte als ich zu hoffen wagte! Mein Bote sagte mir, dass er die Nachricht an Fraj übergeben hatte, weil du nicht aufzufinden warst. Ich fürchtete schon, dieser Taugenichts hätte sich weder durch Drohungen noch durch eine hübsche Summe Silber beeindrucken lassen. Als Akosh gestern hier ankam und mir berichtete, dass du auch bald eintreffen würdest, war das die erste gute Nachricht seit Tagen!“
„Ich würde gern allein mit dir sprechen.“ erwiderte Lennys nur.
„Natürlich, natürlich. Bitte setzt euch doch. Oh, natürlich bist auch du herzlich willkommen, Sara. Es freut mich, dass Lennys dich mit hergebracht hat, obwohl ich es nicht erwartet hätte.“ Er gab seinen Dienern ein Zeichen. „Es ist gut, ihr könnt gehen. Ich wünsche keine Störungen.“
Sara machte Anstalten, den Dienern zu folgen, doch Lennys schüttelte kaum merklich den Kopf. Nachdem sich die Flügeltür wieder