Hans Christian Andersen - Gesammelte Werke. Hans Christian Andersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Christian Andersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746750194
Скачать книгу
Platze« – das geht doch nicht, und deshalb steckte er den Zweig in die weiche Erde. »Wachse und gedeihe, wenn Du es vermagst, und treibe ihnen dort am Herrenhofe eine tüchtige Flöte!« – sagte er, denn er gönnte dem gnädigen Herrn und dessen Sippschaft einen gehörigen Spießruthenmarsch. – Darauf begab er sich in's Schloß, doch nicht in den Ahnensaal, für diesen war er zu gering! – in die Gesindestube trat er ein, und die Knechte und Mägde beschauten seine Waaren und handelten; oben von der herrschaftlichen Tafel schallte es schreiend und lärmend herab, es sollte singen heißen; sie thaten ihr Bestes. Lautes Gelächter und Hundegeheul drang durch die offenen Fenster heraus; dort oben war Schmausen und Schwelgen; Wein und altes starkes Bier schäumten in den Gläsern und Krügen, und die Leibhunde fraßen mit der Herrschaft; dann und wann wurde eine dieser Bestien von den Junkern geküßt, nachdem man ihr mit dem Behänge die Schnauze abgewischt hatte. Den Hausirer ließ man heraufholen, aber nur um Scherz mit ihm zu treiben. Der Wein war in die Köpfe gestiegen, der Verstand herausgeflogen. Sie gossen ihm Bier in einen Strumpf, daß er mittrinken könne, aber schnell! das sollte nun Witz sein und gab Veranlassung zum Gelächter. Ganze Viehtriften, Bauern und Bauerhöfe wurden auf eine Karte gesetzt und verspielt.

      »Alles am rechten Platze!« sagte der Hausirer, als er endlich wieder wohlbehalten aus Sodom und Gomorrha heraus war, wie er es nannte. »Die offene Landstraße ist mein rechter Platz, dort oben war es mir nicht wohl.« Das kleine Mädchen, das die Gänse hütete, nickte ihm freundlich zu, als er durch's Gehege schritt.

      Tage und Wochen verstrichen, und es zeigte sich, daß der abgebrochene Weidenzweig, den der Hausirer am Schloßgraben in die Erde gesteckt, immer frisch und grün blieb, ja sogar junge Zweige trieb; das kleine Gänsemädchen sah, daß der Zweig Wurzel geschlagen habe und freute sich recht herzlich darüber; der Baum, so meinte es, sei nun sein Baum.

      Ja mit dem Baume ging es vorwärts, aber mit allem Andern auf dem Hofe ging es durch Gelage und Spiel gar sehr rückwärts; sind diese doch zwei Rollen, auf denen Niemand sicher steht.

      Es waren keine sechs Jahre verstrichen, als der gnädige Herr, ein armer Mann am Bettelstabe, von Haus und Hof wanderte, und der Herrensitz von einem reichen Krämer gekauft wurde; und dieser war gerade derselbe, der dort zum Spott und Gelächter gedient, dem man Bier in einen Strumpf eingeschenkt hatte; aber Ehrlichkeit und Betriebsamkeit geben guten Fahrwind, und jetzt war der Krämer Herr des Rittergutes. Von dieser Stunde an wurde aber kein Kartenspiel mehr dort geduldet: »Es ist eine böse Lectüre,« sagte er; »als der Teufel zum ersten Mal die Bibel sah, wollte er derselben ein Zerrbild gegenüber stellen, und erfand das Kartenspiel!«

      Der neue Gutsherr nahm sich ein Weib, und wen nahm er? – das kleine Gänsemädchen, das stets gut und fromm geblieben, und in den neuen Kleidern so fein und schön aussah, als wäre es eine vornehme Jungfrau. Und wie geschah das Alles? – Das ist eine zu lange Geschichte in unserer geschäftigen Zeit, aber es geschah in der That, und das Wichtigste kommt erst noch.

      Herrlich und gut war es auf dem alten Hofe zu sein; die Mutter selbst stand der inneren Haushaltung, der Vater der äußeren vor; es war, als ströme der Segen herbei! Wo Wohlstand ist, kehrt Wohlstand ein! Der alte Herrensitz wurde abgeputzt und angestrichen, die Gräben wurden gereinigt und Fruchtbäume angepflanzt; Alles war dort freundlich und gut, und die Fußboden sahen blank wie em Spickbrett. In den langen Winterabenden saß die Frau mit ihren Mägden am Spinnrade im großen Saale, jeden Sonntag Abend wurde laut aus der Bibel vorgelesen, und zwar vom Justizrathe selbst; dieser Titel war dem Krämer geworden, wenn auch erst in seinen alten Tagen. Die Kinder wuchsen auf – denn es kamen Kinder – und sie genossen alle den besten Unterricht, aber sie hatten nicht alle gleich gute Köpfe, wie dies denn in allen Familien der Fall ist.

Illustration: Hutschenreuter/Petersen

      Unterdessen war der Weidenzweig an der Schloßbrücke zu einem prächtigen Baume herangewachsen, der frei und ungestutzt dastand. »Der ist unser Stammbaum!« sprachen die alten Leute, und diese Weide müsse geachtet und geehrt werden, sagten sie den Kindern, auch denjenigen, die gerade keinen guten Kopf hatten.

      Hundert Jahre waren verstrichen.

      Es war in unsrer Zeit; der See war in Moorland umgewandelt, und der ganze Herrenhof gleichsam verschwunden; ein Tümpel mit Wasser, an der Seite einige Mauerreste: das waren die Ueberbleibsel der tiefen Gräben, und hier stand noch ein prächtiger alter Baum mit herabhängenden Zweigen, das war der Stammbaum; er stand hier und zeigte, wie schön eine Weide sein kann, wenn man sie sich selbst überläßt. Der Stamm war zwar mittendurch gespalten, von der Wurzel bis zur Krone, der Sturm hatte ihn ein wenig gebeugt, aber er stand immerhin da, und aus jeder Ritze und Spalte, in welche Wind und Wetter Erde getragen, schossen Grashalme und Blumen hervor; namentlich oben, wo die großen Zweige sich theilten, war gleichsam ein ganzer hängender Garten mit Himbeeren und Wegebreit, ja selbst ein kleiner Vogelbeerstrauch hatte hier Wurzeln geschlagen und stand schlank und sein mitten im alten Weidenbaume, der sich in dem dunkeln Wasser abspiegelte, wenn der Wind manchmal die Meerlinsen in einen Winkel des Tümpels trieb. – Ein Feldweg führte dicht an dem Baume vorüber.

      Hoch am Waldeshügel, mit herrlicher Aussicht, lag der neue Herrenhof, groß und prächtig, mit Glasscheiben, so klar, daß man glauben konnte, es seien gar keine da. Die große Treppe, die zum Eingänge führte, sah aus, als sei sie eine Laube von Rosen und großblätterigen Gewächsen! Der Rasenplatz war so grün, als wenn jeder Halm Morgens und Abends einzeln gesäubert würde. Im Saale drinnen hingen kostbare Gemälde, standen seidene und sammetne Stühle und Sophas, die fast auf ihren eigenen Beinen umhergehen konnten, Tische mit blanken marmornen Platten und Bücher in Saffian und Goldschnitt... ja, hier wohnten freilich reiche Leute, vornehme Leute, hier wohnte der Baron und seine Familie.

      Das Eine entsprach daselbst dem Andern. »Alles am rechten Platze!« hieß es auch hier, und deshalb hingen alle die Gemälde, die einst zum Staat und zu Ehren auf dem alten Herrenhofe gewesen, jetzt in dem Gange, der in die Gesindestube führte; altes Gerumpel war es, namentlich zwei alte Portraits, das eine einen Mann in rosenrothem Rock mit Perrücke, das andere eine Dame mit gepudertem und frisirtem Haar und einer Rose in der Hand vorstellend; Beide aber in gleicher Weise von einem großen Kranze von Weidenzweigen umgeben. Diese Beiden hatten gar viele Löcher, und zwar deshalb, weil die kleinen Barone immer die beiden alten Leute als Zielscheibe für ihre Armbrüste benutzten. Sie stellten den Justizrath und die Frau Justizräthin vor, von welchen die ganze Familie abstammte.

      »Aber sie gehören nicht recht zu unserer Familie!« sagte einer der kleinen Barone. »Er war Krämer und Sie hütete die Gänse. Sie waren nicht wie Papa und Mama!«

      Die Bilder seien altes Gerumpel, und »Alles am rechten Platze!« sagte man, und deshalb kamen auch der Urgroßvater und die Urgroßmutter auf den Gang nach der Gesindestube.

      Der Sohn des Ortspredigers war Hauslehrer auf dem Gute. Eines Tages ging er mit den kleinen Baronen und deren ältesten Schwester, die kürzlich eingesegnet worden war, spazieren, und zwar über den Feldweg, der an dem alten Weidenbaume vorüberführte, und während sie alle dahinschritten, band sie einen Strauß von Feldblumen: »Alles am rechten Platze,« und der Strauß war ein schönes Ganzes. Indessen hörte sie doch sehr wohl Alles, was gesprochen wurde, und es erfreute sie gar sehr, den Predigersohn von den Naturkräften, von den großen Männern und Frauen der Geschichte erzählen zu hören; sie war eine gesunde herrliche Natur, geadelt an Seele und Gedanken, und mit einem Herzen, das alles von Gott Geschaffne mit Liebe umfing.

      Die Spaziergänger machten Halt an dem alten Weidenbaume, der jüngste der Barone wollte durchaus eine Flöte davon haben, eine solche hatte man ihm früher aus anderen Weiden geschnitten, und der Predigersohn brach einen Zweig von ihm ab.

      »O, thun Sie es nicht!« sagte die junge Baronesse; aber es war schon geschehen. »Das ist ja unser alter berühmter Baum! Ich liebe ihn gar sehr! Ich werde deshalb sogar zu Hause ausgelacht, aber das thut nichts: Man erzählt eine Sage von diesem Baume!«

      Und nun erzählte sie das, was wir wissen, vom Baume, vom alten Herrenhofe, vom Hausirer und dem Gänsemädchen, die an dem Baume sich zum ersten Male trafen, und die Stammeltern der vornehmen Familie und der jungen Baronesse wurden.