Am nächsten Sonntage gingen Alle zur Kirche; und man fragte sie, ob sie mit wolle; aber sie blickte betrübt, mit Thränen in den Augen, auf ihre Krücken. Und dann gingen die Andern hin, Gottes Wort zu hören, sie aber ging allein in ihre kleine Kammer; die war nur so groß, daß blos das Bett und ein Stuhl darin stehen konnten. Hier setzte sie sich mit ihrem Gesangbuche hin; und als sie mit frommen Sinn darin las, trug der Wind die Orgeltöne von der Kirche zu ihr herüber; und sie erhob ihr Angesicht mit Thränen und sagte: »O Gott hilf mir!«
Da schien die Sonne so klar; und gerade vor ihr stand Gottes Engel in den weißen Kleidern; derselbe, den sie in jener Nacht an der Kirchthüre erblickt hatte. Aber er hielt nicht mehr das scharfe Schwert, sondern einen herrlichen, grünen Zweig, der voll Rosen war; er berührte damit die Decke, und sie erhob sich sehr hoch; und wo er sie berührt hatte, glänzte ein goldener Stern. Er berührte die Wände, die erweiterten sich, und sie erblickte die Orgel, welche rauschte; sie sah die alten Bilder mit Predigern und Predigerfrauen; die Gemeindemitglieder saßen in den geputzten Stühlen und sangen aus ihren Gesangbüchern. – Die Kirche war selbst zu dem armen Mädchen in die enge Kammer hinein gekommen, oder auch sie war dahin gekommen. Sie saß im Stuhle bei den übrigen Leuten des Pfarrers; und als sie den Psalm beendet hatten und aufblickten, nickten sie und sagten: »Das war Recht, daß Du kamst, Karen!«
»Das war Gnade!« sagte sie.
Die Orgel klang, und die Kinderstimmen im Chore tönten weich und lieblich! Der klare Sonnenschein strömte warm durch das Fenster in den Kirchenstuhl, wo Karen saß, hinein, ihr Herz wurde so voll Sonnenschein, Frieden und Freude, daß es brach; ihre Seele flog auf Sonnenstrahlen zu Gott; und dort war Niemand, der nach den rothen Schuhen fragte.
Das stumme Buch.
An der Landstraße im Walde lag ein einsames Bauerngehöft, die Straße führte quer durch dessen Hofraum. Die Sonne schien hernieder, alle Fenster waren geöffnet; drinnen im Hause herrschte ein reges Leben; hier im Hofe, in einer Laubhütte von blühendem Flieder, stand ein offener Sarg – den Todten hatte man dahin getragen, diesen Vormittag sollte er begraben werden. Niemand weinte eine Thräne um ihn, sein Gesicht war mit einem weißen Tuche bedeckt, und unter seinem Haupte lag ein großes dickes Buch, dessen Blätter aus ganzen Bogen Löschpapier bestanden, und in jedem Blatte lag eine verwelkte Blume; es war ein Herbarium, an verschiedenen Orten gesammelt; es sollte mit ins Grab, so hatte er's selbst verlangt. An jede Blume knüpfte sich ein Kapitel aus seinem Leben.
»Wer ist der Todte?« fragten wir, und man antwortete uns: »Der alte Student! Er soll einst ein flinker Mensch gewesen sein, alte Sprachen getrieben, gesungen und selbst Lieder gedichtet haben, so sagt man; du kam irgend Etwas dazwischen, und darum warf er seine Gedanken und sich selbst auf den Branntwein, und als endlich auch gar seine Gesundheit darauf ging, so kam er zuletzt hier aufs Land heraus, wo Jemand Kost und Logis für ihn bezahlte. Er war fromm wie ein Kind, wenn ihn nur nicht der finstere Sinn überkam; aber dann war er schlimm, und er wurde wie ein Riese und lief wie ein gehetztes Wild im Walde umher; aber wenn wir ihn erst wieder nach Hause kriegten, und ihn dahin brachten, daß er das Buch mit den trockenen Pflanzen öffnete, so saß er oft ganze Tage und blickte bald die, bald jene Pflanze an, und manchmal rollten ihm die Thränen über die Wangen; Gott weiß, was er dabei dachte. – Aber das Buch bat er uns, in den Sarg zu legen, und jetzt liegt er da, und in einer kleinen Weile wird der Deckel zugenagelt, und er wird seine süße Ruhe im Grabe haben!« –
Das Leichentuch wurde emporgehoben; es war Friede auf des Todten Antlitz, ein Sonnenstrahl fiel darauf; eine Schwalbe schoß in ihrem pfeilschnellen Fluge in die Laubhütte hinein und kehrte im Fluge um, zwitschernd über dem Haupte des Todten.
Welch sonderbares Gefühl ist es doch – wir kennen es gewiß Alle – alte Briefe aus unserer Jugendzeit wieder zu durchblättern; ein neues Leben taucht gleichsam mit allen seinen Hoffnungen und Sorgen empor. Wie viele der Menschen, mit denen wir in jener Zeit innig verkehrten, sind uns jetzt wie gestorben, und doch leben sie noch, aber wir haben ihrer seit lange nicht gedacht, ihrer, an die wir einst immer festzuhalten glaubten, mit denen wir Freud und Leid theilen wollten!
Das verwelkte Eichenblatt im Buche hier erinnert an den Freund, den Schulfreund, den Freund für's ganze Leben; er heftete dieses Blatt auf die Studentenmütze, im grünen Walde, als der Bund für dieses Dasein geschlossen wurde; – wo lebt er jetzt? – Das Blatt ist aufgehoben, die Freundschaft zerstoben! Hier ist eine fremde Treibhauspflanze, zu zart für die Garten des Nordens – es ist, als dufteten die Blätter noch! Sie gab sie ihm, das Fräulein aus dem adeligen Garten. Hier ist eine Wasserrose, die er selbst gepflückt und mit salzigen Thränen genetzt hat; – die Rosen der süßen Gewässer. Und hier ist eine Nessel, was sprechen ihre Blätter wohl? Was dachte er wohl, als er sie pflückte, als er sie aufhob? Hier ist ein Maiblümchen aus des Waldes Einsamkeit, hier ist Immergrün aus dem Blumentöpfe der Schenkstube, und hier der nackte scharfe Grashalm. –
Der blühende Flieder neigt seinen frischen, duftenden Büschel über das Haupt des Todten, die Schwalbe fliegt wiederum vorüber, »quivit! quivit!« – Jetzt kommen die Männer mit Nägeln und Hammer, der Deckel wird über den Todten gelegt, damit sein Haupt auf dem stummen Buche ruhe; – aufgehoben – zerstoben.
Das Kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen.
Es war entsetzlich kalt; es schneite und war beinahe dunkel, der letzte Abend des Jahres. In dieser Kälte und Finsterniß ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopfe und nackten Füßen. Als sie das Haus verließ, hatte sie freilich Pantoffeln angehabt; aber was half das? Es waren sehr große Pantoffeln, die ihre Mutter bisher benutzt hatte, so groß waren sie. Die Kleine aber verlor dieselben, als sie über die Straße weg huschte, weil zwei Wagen schrecklich schnell vorüber rollten. Der eine Pantoffel war nicht wieder zu finden, den andern hatte ein Junge erwischt und lief damit fort. Da ging nun das kleine Mädchen mit nackten Füßen, die roth und blau vor Kälte waren. In einer rothen Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzchen und ein Bund davon in der Hand. Niemand hatte ihr den ganzen langen Tag etwas abgekauft, Niemand ihr einen Pfennig geschenkt.
Zitternd vor Kälte und Hunger schlich sie einher, ein Bild des Jammers, die arme Kleine!
Die Schneeflocken bedeckten ihr langes blondes Haar, welches in schönen Locken um den Hals fiel; aber daran dachte sie nun freilich nicht. Aus allen Fenstern glänzten die Lichter, und es roch herrlich nach Gänsebraten: es war ja Sylvesterabend. Ja daran dachte sie!
In einem Winkel, von zwei Häusern gebildet, von denen das eine etwas mehr vorsprang als das andere, setzte sie sich hin und kauerte sich zusammen. Die kleinen Füße hatte sie an sich gezogen; aber es fror sie noch mehr, und nach Hause zu gehen wagte sie nicht; sie hatte ja keine Schwefelhölzchen verkauft und brachte keinen Pfennig Geld mit. Von ihrem Vater würde sie gewiß Schläge bekommen, und zu Hause war es auch kalt; über sich hatten sie nur das Dach, durch welches der Wind pfiff, wenn auch die größten Spalten mit Stroh und Lumpen zugestopft waren.
Ihre kleinen Hände waren beinahe vor Kälte erstarrt. Ach! ein Schwefelhölzchen konnte ihr gar wohl thun, wenn sie nur ein einziges aus dem Bunde herausziehen, es an die Wand streichen und sich die Finger erwärmen dürfte. Sie zog eins heraus. Rrscht! wie sprühte, wie brannte es! Es war eine warme, helle Flamme, wie ein Lichtchen, als sie die Hände darüber hielt; es war ein wunderbares Lichtchen! Es schien wirklich dem kleinen Mädchen als säße sie vor einem großen, eisernen Ofen mit polirten Messingfüßen und einem messingenen Aufsatze. Wie brannte das Feuer darin, wie wohlthuend wärmte es! Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen: – doch – da erlosch das Flämmchen, der Ofen verschwand, sie hatte nur die kleinen Ueberreste des abgebrannten Schwefelhölzchens in der Hand.
Ein zweites wurde an der Wand abgestrichen; es leuchtete, und wo der Schein auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Schleier: sie konnte in das Zimmer hineinsehen. Auf dem Tische war ein weißes Tischtuch ausgebreitet, darauf stand glänzendes Porzellangeschirr, und herrlich dampfte die gebratene Gans,