Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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zu tun, die seit hundert Jahren tot waren? Holly kam nicht auf den Gedanken, auf den ihr Großonkel Dick vielleicht gekommen wäre, dass nämlich Magnus‘ Interesse einen ganz einfachen Grund hatte.

      „Du musst Dick fragen.“ Das würde er tun.

      „Kyonna, zieh dir doch endlich etwas Vernünftiges an, sie kommen gleich.“, maulte Will.

      „Erstens dauert es noch ein paar Stunden und zweitens habe ich keine Lust, mich blicken zu lassen.“, antwortete seine Tochter schnippisch.

      „Was hast du nur? Er kommt extra aus diesem Europa angereist, um uns kennenzulernen.“

      „Ich habe ihn nicht eingeladen.“, entgegnete Wills Tochter trotzig.

      Kyonna trug eine gewagte Kurzhaarfrisur, die die Kopfseiten nahezu unbehaart ließ, riesige Ohrringe und ein weites, buntes Gewand, das an traditionelle Kleider afrikanischer Frauen erinnerte. Ihre sehnigen Unterarme waren mit bunten Armreifen bestückt. Ihr durchaus hübsches, ovales Gesicht mit der kleinen, fast schmalen Nase und den vollen Lippen, das erstaunlich jung wirkte und an dem besonders ihre großen Augen auffielen, drückte vor allem eins aus: Unwillen.

      „Seine Vorfahren bedeuten dieser Familie sehr viel.“, erklärte ihr Vater Bekanntes.

      Eben, dachte sie. Vor allem einer, aber das weiß glücklicherweise ja niemand außer mir.

      „Mir aber nicht.“, umschiffte sie die Wahrheit wie eine gefährliche Klippe. Sie rauschte, begleitet von einem missbilligendem Kopfschütteln ihres Vaters und dem Klimpern der Armreifen, davon.

      Sie schloss die Tür ihres Zimmers hinter sich ab und warf sich auf ihr Bett, um an die Decke zu starren. Fünf Jahre. Seit Stefanias Geburt schleppte sie dieses schlechte Gewissen mit sich herum, das sie fast erdrückte. Sie konnte dem Kind nicht in die Augen sehen, denn dort sah sie immer nur ihn. Seine Mimik, seine Gesten, sein Blick, sein Lachen, alles fand sich bei der Kleinen wieder. Sie waren damals zwar nur einige Stunden zusammen gewesen, aber er hatte eine dermaßen starke Ausstrahlung gehabt, dass sie diese Stunden immer wieder in voller Länge abrufen konnte. Bei keinem ihrer anderen Lover passierte dies, nur bei ihm. Manchmal dachte sie, wenn er keinen Gummi getragen hätte, wäre sicher etwas passiert mit ihr, als er kam. Etwas Unheimliches. Sie würde seinem Sohn nicht unter die Augen treten, egal, wie lange er bliebe. Sie könnte es nicht ertragen. Er sah seinem Vater zu ähnlich. Ihr reichte als ewige Anklage schon die Kleine. War der tägliche Anblick Stefanias nicht schon Strafe genug? Mussten sie auch noch seinen Sohn hierher schleppen?

      Sie bestiegen den Leihwagen und fuhren los. Nach einer Weile fragte Magnus: „Wieso war deine Mutter dagegen, dass du zu mir fuhrst?“

      „Ich glaube, sie hatte gar keinen wirklichen Grund. Sie interessiert sich nicht für die Familiengeschichte, sie hält das für Zeitverschwendung, unnötiges Zeug. Sie meint, wir würden dir eine Dankbarkeit erweisen, die dir nicht zusteht, denn schließlich waren es deine Vorfahren, die geholfen hatten.“ Ein klein wenig Unsicherheit schwang schon mit in ihrer Rede, was ihm durchaus nicht entgehen konnte.

      „Sie hat recht.“, konstatierte er irreführend.

      „Ja, vielleicht. Doch es geht nicht in erster Linie um Dankbarkeit, jedenfalls nicht mir. Deine Vorfahren haben nichts mehr davon, wenn wir ihnen oder dir dankbar sind. Ich finde es einfach schön, dich kennengelernt zu haben, auch unabhängig von den alten Geschichten.“ Holly lächelte ihn süß von der Seite an und eine Glocke in seinem Innern fing an, sich bemerkbar zu machen. Gleichwohl war da noch etwas anderes, Profaneres, was er aber mitdenken musste und das ihm nun in den Sinn kam.

      „Wovon lebt ihr eigentlich?“ Holly starrte nach vorne und war rot geworden. Schön, dass ihre Haut nicht so dunkel ist, dass man diese Röte noch sehen kann, dachte er, sie steht ihr gut. Für die Antwort brauchte sie eine Zeit.

      Holly hatte einen zaghaften Versuch gemacht, ihm ein wenig ihre Gefühle für ihn zu offenbaren, und nun das. Ein romantischer Typ schien er nicht zu sein. Insoweit war sie traurig, sie schämte sich allerdings auch, und das hatte nichts mit Romantik, umso mehr aber mit Realität zu tun.

      „Grandpa bekommt eine Rente.“, informierte sie mit ein wenig Trotz im Timbre. Er schwieg und wartete.

      „Ich kümmere mich um Stefania.“ Das klang nach Rechtfertigung. Er schwieg und fuhr.

      „Mom hilft manchmal in einem Kosmetiksalon aus und verkauft Trödel.“ Da schwang Missbilligung mit.

      Magnus schwieg und konzentrierte sich auf den Verkehr. Sollten sie sich finanzielle Unterstützung erhoffen? Hatten sie deshalb Holly losgeschickt? Er mochte diesen Gedanken nicht und wünschte, dass es anders sei. An Schlimmeres, wie zum Beispiel Erpressung, wagte er gar nicht zu denken. Holly wäre wohl kaum mit dem Messer auf ihn losgegangen, wenn sie Materielles von ihm erwarteten, nicht wahr? Obwohl – etwas schräg schienen die ja zu sein. Nicht wie Sarah. Die schmale, ernste Sarah, die einfach nur froh gewesen war, frei zu sein.

      Die Köche waren bescheidene Leute gewesen, die aus ihrer Geschäftsbeziehung nie einen Vorteil gezogen hatten. Patty hatte ihm verhalten gedankt und den Blutfleck auf seinem Hemd angestarrt, nachdem er dem Irren die Pistole abgerungen hatte. Und Lyndon, Abes Vater, war in Tränen ausgebrochen, als er seinen Jungen in die Arme schloss und hatte ihm stumm zugenickt. Patty und Abe würde er wiedersehen. Es war zu früh, sich eine Meinung zu bilden.

      „Entschuldige.“, sagte Holly.

      „Was?“

      „Wir haben nur eine kleine Kammer, die wir dir anbieten können, du bist sicher mehr Komfort gewohnt. Aber wenn du lieber in ein Hotel willst…“ Die letzten Worte klangen wie eine Bitte, das eben nicht zu tun, was er mit einer gewissen Genugtuung zur akustischen Kenntnis nahm.

      „Woher willst du wissen, was ich gewohnt bin?“ Er dachte an Löcher und Höhlen.

      „Du hast eine Villa.“

      „Ja, jetzt habe ich eine Villa.“ Wenn du wüsstest, dachte er.

      Sie fuhren nun durch eine Gegend, die man vielleicht früher in Europa proletarisch genannt hätte und heute ärmlich, ja, schäbig nennen würde. Der Leihwagen, der zwar nicht der teuerste gewesen war, passte dennoch nicht hier hin. Allerdings machte das kleine, hölzerne Haus, vor dem sie hielten, einen gepflegten Eindruck, von ein paar fehlenden hölzernen Schindeln einmal abgesehen. Das Grundstück wirkte, im Gegensatz zu manchem Nachbargrundstück, aufgeräumt. Magnus stieg aus, und schon klebte ihm das Polo am Leib; die vielen klimatisierten Stunden in Flughäfen, Flugzeugen und nun im Auto vertrugen sich nicht mit der Schwüle des Sommernachmittages. Das zweigeschossige Haus hatte einen Verandavorbau, wie viele der Häuser in diesem Viertel. Rechts neben dem Haus verdeckte ein großer Laubbaum, der angenehmen Schatten spendete, einen kleinen Schuppen und ein selbstgezimmertes Schaukelgestell. Ein alter Pickup stand neben dem Leihwagen vor dem Haus. Als Holly ebenfalls ausgestiegen war, flog die Fliegendrahttür auf und ein kleines Wesen mit einer ganz aparten Frisur kam mit ausgebreiteten Armen und flatterndem Röckchen hinausgestürmt.

      „Mom!“, rief das Wesen.

      „Stefania!“, rief Mom und beide Personen flogen aufeinander zu und einander in die Arme, um sich ausgiebig zu herzen. Eine rührende Szene, fand Montanus, der geneigt war, dieses kleine Mädchen nicht nur interessant zu finden. Allerdings musste er zugeben, dass diese Neigung auch in Bezug auf Holly durchaus an sein Pumporgan pochte, doch er war aus guten Gründen entschlossen, hierfür diese Tür verschlossen zu halten.

      Magnus stand auf dem Platz vor dem Haus, als die beiden jüngsten Bryant-Damen Hand in Hand auf ihn zukamen.

      „Das ist Magnus.“, erklärte Holly, meinte aber genauso ihre Tochter und sah den Mann strahlend an, als würde sie ihm mit Stefania ein besonders gelungenes Ergebnis einer Handarbeit zeigen und auf sein wohlwollendes Urteil warten, was wiederum auch von dem Mädchen erwartet wurde. Magnus hatte den flüchtigen Eindruck, als würde er künftigen Schwiegereltern vorgestellt. Er ging in die Hocke und reichte dem Mädchen die Hand.

      „Hi, Stefania.“, sagte er und blickte sie