Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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war gefangen von diesem entzückenden, kleinen Mädchen mit dem breiten Lächeln und den Zahnlücken und sah ihr tief in die glänzenden, braunen Augen. Er sah in ihre braunen und sie sah in seine grauen, die tief blicken ließen. Was er sah, erfreute und beunruhigte ihn zugleich: er sah einen Teil von sich selbst. Was sie sah, war so ähnlich, nur, dass ihr Blick noch weiter ging.

      Was sah Stefania? Wie unsichtbare, biegsame Periskope drang ihr Blick durch Linse, Glaskörper und Sehnerv bis in die unendlichen Windungen seines Gehirns, in dem sie sich einerseits seltsam heimisch fühlte, andererseits rasch die Orientierung verlor, so dass sie ihre Tentakel schnell wieder zurückzog, ehe sie sich verhedderten.

      Kyonna stand an ihrem Fenster hinter der Gardine und beobachtete die Szene dort unten mit gemischten Gefühlen. Er hockte vor ihrer Enkeltochter, zu der sie aus Angst bisher keine Beziehung aufgebaut hatte, was sie überaus bedrückte. Aus ihrer Perspektive konnte sie ihn nicht genau sehen, aber die Statur konnte passen. Er kam wohl ganz nach seinem Vater. Er war zwar etwas größer als ihre Tochter, aber sicher nicht groß. Er war schlank, fast athletisch, wie sein Vater. Er hatte das gleiche graue, kurze Haar und den gleichen, grauen Stoppelbart. Seine Bewegungen, seine Gesten glichen denen seines alten Herren. Wenn er herausbekam, dass er gerade seiner kleinen Schwester in die Augen sah, konnten sie einpacken. Sie selbst würde wahrscheinlich im Gefängnis landen, Holly wäre die Kleine los und Dads Rente würde für die Strafzahlungen oder das Schmerzensgeld draufgehen. Und all das, weil sie ihrer Tochter im bekifften Zustand diese Sache aufgeschwatzt hatte. Blieb nur zu hoffen, dass er es nie herausbekommen würde. Kyonna blinzelte, um wieder einen klaren Blick zu bekommen. All ihre Hoffnungen waren auf sehr wackligem Untergrund gebaut.

      Die Reisenden hatten sich ausbedungen, am Ankunftstag noch nicht mit den Verwandten konfrontiert zu werden, und so konnte Magnus in aller Ruhe eine winzige, stickige Dachkammer beziehen, in der er sich kaum drehen konnte. Das Angebot, Stefanias Zimmer zu übernehmen, hatte er abgelehnt und dafür einen dankbaren Blick des Mädchens geerntet.

      Ihm wurde zunehmend mulmig zumute. Was würde ihn hier erwarten? Ein durchgeknallter Familienchronist, der auf der richtigen Spur war, was aber niemand außer Montanus wusste, so hoffte er; ein Kind, von dem eine seltsame Ausstrahlung ausging, eine schöne Frau, zu der er sich hingezogen fühlte, eine seltsame, völlig verrückte Mutter, die eine irrwitzige Idee in die Tat umgesetzt hatte.

      Will war ein schlauer, einfühlsamer Mann, der alles tat, um diese Patchworkfamilie mit ihren schwierigen Charakteren zusammenzuhalten. Auf Kyonna angesprochen, verdrehte er nur die Augen und meinte, dass sie ihren eigenen Kopf hätte. Magnus solle nicht damit rechnen, sie zu Gesicht zu bekommen. Will war etwa siebzig, klein, untersetzt und hatte einen weißen Haarkranz und einen weißen Schnauzbart in seinem schwarzen Gesicht. Er war ein lustiger Mann, der häufig lachte und so für gute Laune sorgte. Allerdings sah man ihm sein Alter wohl an.

      Glücklicherweise unterzog er seinem Gast keinem Kreuzverhör oder bedrängte ihn sonstwie mit Fragen, er schien Geduld zu besitzen. So konnte Magnus sich in seiner warmen Dachkammer auf das schmale Bett legen, hoffen, dass alles gut werden würde und ein wenig ruhen.

      Doch er ahnte, dass er sich hier auf Glatteis begab, und das in mancherlei Hinsicht.

      „Das duftet gut.“, meinte Magnus hungrig, als er am Abend in der Patchworkküche auftauchte. Als er die Stiege zu seiner Kammer hinabgeklettert war, hatte sich gerade eine Tür im Obergeschoss geschlossen. „Ich glaube, ich wäre beinahe deiner Mutter begegnet.“

      Holly, die am Herd stand, drehte sich zu ihm um. „Da hast du aber Glück gehabt.“

      „Oh, ich bin schon vielen schwierigen Menschen in meinem Leben begegnet.“

      „Du kennst Mom nicht.“ Er musste an Inquisiteure und Nazischergen denken, schwieg aber lieber.

      „Ist gleich fertig. Nimm dir ein Bier und geh schon mal zu Will und Stefania, die decken gerade.“

      „Ah, Magnus. Ich darf doch Magnus sagen?“, begrüßte ihn Will im Esszimmer und legte eine letzte Gabel auf den Tisch. Stefania lächelte ihren Gast an. Magnus hob seine Bierflasche zum Gruß.

      „Kein Problem.“

      „Ich finde es wirklich sehr schön, dass du gekommen bist, für mich und meinen Bruder geht ein Lebenstraum in Erfüllung. Na ja, Dick hätte sich vielleicht etwas anderes erhofft, aber ich finde das schön, dass der Nachkomme, der letzte in der Reihe der Montanus‘ bei uns zu Besuch ist.“

      „Ob ich der letzte sein werde, wird sich erweisen.“ Er kniff dem alten Mann ein Auge zu und der kicherte.

      „Bist ja noch jung genug.“, lachte Will zurück. Gut, dass du es nicht besser weißt, dachte Magnus. Holly trug auf.

      „Es handelt sich um ein Rezept aus Sarahs Tagebüchern; sie hat es wohl von der französischen Frau.“, erklärte sie.

      „Paul …“ Magnus biss sich auf die Zunge.

      „Wie bitte?“

      „Schon gut. Ich hätte es gerne, wenn wir, bevor wir beginnen, ganz kurz Sarahs gedenken, denn sie hat es vielleicht am schwersten von euch allen gehabt.“, sagte er mit heiserer Stimme. Stefania sah ihn merkwürdig an. Will schaute Holly an und hob die Augenbrauen. Holly hob die Schultern. Schon wieder Sarah. Magnus senkte den Kopf und faltete unwillkürlich die Hände. Zögernd taten es ihm die anderen nach, wobei Holly überlegte, ob sie in den letzten Tagen Anzeichen von Religiosität bei ihm bemerkt hatte. Ihr fielen die vielen Bibeln ein. Nach zwei Minuten wurde Holly aber unruhig und Will schaute hinüber zu dem Gast, aber Stefania war es dann, die mit gerunzelter Stirn sagte: „Es wird kalt.“ Mit einem Ruck hob der Gedenkende den Kopf und riss die Augen auf. „Ist wohl noch der Jetlag.“, murmelte er. Dann ließen sie es sich schmecken.

      Während des Essens wanderte sein Blick immer wieder zu dem Mädchen, das die Nahrungsaufnahme geradezu zu zelebrieren schien. Sie war hoch konzentriert am Werke und hantierte mit ihren kleinen Händen rasch und zielstrebig. Holly war nicht entgangen, dass Magnus von ihrer Tochter seltsam angetan schien und war stolz darauf, dass der eigenartige Fremde aus Europa Stefania ganz offenbar mochte.

      „Geht doch schon einmal hinaus auf die Veranda, Holly und ich machen den Abwasch.“, schlug Will nach dem Essen vor und füllte die Reste in einen kleinen Topf für Kyonna, deren Abwesenheit in keiner Weise angesprochen worden war. Will wollte partout nichts davon wissen, dass Magnus seine Hilfe anbot, und so fügte sich der Gast und ging mit Stefania hinaus.

      9.

      Er setzte sich mit einem Bier auf einen hölzernen Sessel, den Will nach Stefanias Auskunft selbst gebaut hatte, und das Mädchen erklomm eine ebenfalls selbst gebastelte Holzbank. Sie rutschte ganz nach hinten, um sich anlehnen zu können. Das hatte zur Folge, dass ihre Beine waagerecht teils auf der Sitzfläche lagen, teils in die Luft ragten. Eine Zeit lang schwiegen sie. Magnus trank Bier und rauchte eine Zigarette, Stefania trank Limonade.

      „Das tötet.“, meinte sie nach einer Weile und deutete auf den Glimmstengel.

      „Mich nicht.“, behauptete er.

      „Bist du sicher?“

      „Ja.“, meinte er apodiktisch. Stefania runzelte die Stirn. Das war eine der üblichen Ausreden von Rauchern, die ihre Sucht nicht zugeben wollten, wie Will immer sagte, der lange selbst geraucht hatte.

      „Du bist etwas ganz Besonderes.“, durchbrach das Mädchen die abermalige Stille experimentierfreudig.

      „Jeder Mensch ist etwas Besonderes.“, hielt Magnus philosophisch entgegen.

      „Du bist besonderer.“, beharrte Stefania. Magnus musste schmunzeln.

      „Wie kommst du darauf?“

      „Ich habe dir hinter die Schädeldecke geschaut, wie Mom das nennt.“ Magnus‘ Nerven waren mit einem Mal gespannt wie die Sehne eines etruskischen Kriegsbogens.

      „Was hast du entdeckt?“, fragte er, bemüht, nicht allzu argwöhnisch