Die Wahrheit ist immer anders. Friedrich von Bonin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich von Bonin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746710259
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von beträchtlicher Kapazität hatten, die, ohne dass ein Mensch eingreifen musste, in einem solchen Fall automatisch ansprangen und die Stromversorgung in Gang hielten. Diese Aggregate waren allerdings in dem Brand, der die Stromzufuhr unterbrochen hatte, ebenfalls beschädigt worden und sprangen eben nicht an. Dies wurde aufgrund menschlichen Versagens zu spät bemerkt, so dass die Kernbrennstäbe einige Zeit ohne Kühlung waren. Das barg die Gefahr einer Überhitzung dieser Brennstäbe, die dann hätten schmelzen und die Schutzhülle durchbrechen können. Radioaktivität in unvorstellbarer Menge wäre freigesetzt worden und hätte das Leben aller Menschen in einem großen Umkreis gefährdet. Das Unternehmen hätte diesen schweren Störfall sofort melden müssen, hatte dies aber unterlassen. Nach den herrschenden Regeln hätte der Vorfall zu einer Untersuchung geführt, ob das Unternehmen die nötige Zuverlässigkeit zum Betrieb eines Kernkraftwerkes hatte und im Zweifel zur Stilllegung des Kraftwerkes.

      Ich hatte eine Woche lang mit Unterstützung unserer Anwälte von der Anwaltsfirma Carp and Rigger mit dem zuständigen Umweltminister verhandelt und die Überprüfung der Zuverlässigkeit abwehren können. Der Minister hatte sich unserer Auffassung angeschlossen, dass eine Stilllegung die Stromversorgung in seinem Bundesland erheblich gefährdet hätte. Das Unternehmen hatte durch meine Vermittlung an die Partei des Umweltministers eine Spende von einer Million Euro gerichtet. Das sollte nach der Anklageschrift Bestechung sein.

      In einem anderen Fall ging es um die Unternehmenssteuerreform, die bis heute nicht abgeschlossen und verabschiedet war. Die Bundesregierung hatte eine solche Reform geplant, die die in meiner Gesellschaft zusammengeschlossenen Unternehmen mit erheblichen zusätzlichen Steuern belasten sollte. Ich hatte von Anfang an versucht, auf das Gesetzgebungsverfahren Einfluss zu nehmen. Die Steuer war wohl politisch nicht zu verhindern gewesen, auch die uns an sich wohlgesonnene Bundesregierung hatte sie nicht etwa in Angriff genommen, weil sie sie für richtig hielt, sondern weil sie nicht dagegen stimmen konnte, ohne Schaden zu nehmen. Zu ungeschickt hatten sich die Vorstände der großen Unternehmen in Deutschland in Pressekonferenzen zu gigantischen Gewinnen und Gewinnsteigerungen geäußert. Die öffentliche Meinung verlangte ultimativ eine höhere Besteuerung dieser Gewinne.

      Bei den Verhandlungen ging es also nicht darum, die Steuer zu verhindern, sondern sie erträglich zu gestalten. Ich hatte in vielen Gesprächen mit dem Kanzleramtsminister und dem Staatssekretär im Wirtschaftsministerium erreicht, dass wir in die Entwicklung des Gesetzes eingebunden waren, so dass letztlich unsere Anwaltsfirma Carp and Rigger in London den Text ausformulierte. Der Gesetzentwurf, der nun beraten werden sollte, war wegen der diversen Ausnahmen, die er vorsah, für uns erträglich.

      Mir wurde vorgeworfen, mit Bestechung in die Gesetzgebung eingegriffen zu haben, weil wir die Anwälte bezahlten, die für die Regierung arbeiteten und weil meine Gesellschaft zwei Staatssekretären mehrere Urlaube finanziert hatte.

      Der dritte Fall, der in der Anklage besonderen Raum einnahm, war die Errichtung des Autowerks in Neurhied in Ostdeutschland.

      Ein großer Fahrzeughersteller aus Westdeutschland plante die Errichtung eines Werkes in Neurhied in Sachsen. Gegen die Errichtung gab es Widerstand von Seiten der Bevölkerung, nicht so sehr, weil die Menschen gegen das Werk in Neurhied waren, sondern weil es in einem Naturschutzgebiet angesiedelt werden sollte, in dem der Hersteller Eigentümer großer Ländereien war. Die Landesregierung war der Volksmeinung gefolgt und hatte angedeutet, dass sie die Genehmigung zu versagen gedenke. Wir hatten interveniert, indem wir Mitglieder der Landesregierung zu Einzelgesprächen gebeten hatten und außerdem, indem wir unseren Einfluss bei dem Bundeskanzler geltend gemacht hatten, der wiederum die Parteifreunde in der Landesregierung gefügig machte. Das Werk war daraufhin genehmigt worden. Der Staatsanwalt warf mir vor, die Spende, die der Hersteller der Regierungspartei übergeben hatte, sei Teil der Bestechungshandlung gewesen.

      In der Anklageschrift las sich dieses Stück solider und normaler Lobbyarbeit, die es nach meinem Verständnis war, wie eine Korruptionsposse aus einer Bananenrepublik.

      Oberstaatsanwalt Pagelsdorf hatte von derartigen Vorkommnissen, in denen wir im Sinne unserer Gesellschafter Einfluss auf Regierungen genommen hatten, noch weitere vierzehn zusammengetragen und vor allem mir angelastet. Ich hätte, so die Anklageschrift, unter dem Mäntelchen der Lobbyarbeit ein weitverzweigtes Netz von Korruption aufgebaut und aufrechterhalten.

      Mittags war ich mit der Lektüre fertig, ich hatte mir im Laufe des Vormittags zwei Kannen Kaffee von Frau Seibold bringen lassen und sie hatte, wie ich sie gebeten hatte, keinerlei Telefongespräche oder Besucher zugelassen. Nun rief ich sie herein.

      „Frau Seibold, ich mache jetzt meinen täglichen Mittagsrundgang, ich bin in einer Stunde wieder da, danach geht dann der Bürobetrieb wie üblich weiter.“

      Sie nickte und ich verließ das Büro, um meinen üblichen Spaziergang zu machen. Als ich auf die Straße trat, hatte sich das Tauwetter endgültig durchgesetzt. Es tropfte aus den Regenrinnen und von den Dächern, ein ganz leiser feiner Nieselregen hatte eingesetzt, gegen den ich den Kragen meines Mantels hochschlug und den Schirm aufspannte. Vorsichtig ging ich durch den Schneematsch auf dem Bürgersteig, ich achtete nicht darauf, dass meine Schuhe nach kurzer Zeit durchnässt waren, obwohl ich Winterschuhe trug. Mit den Gedanken war ich bei den Vorwürfen, die ich gelesen hatte. Was sollte ich tun?

      Ich überlegte kurz, ob ich nicht einfach flüchten sollte. Wir hatten vor zehn Jahren ein kleines Sommerhaus in Südspanien gekauft, in der Nähe des Kap Trafalgar an der Costa de la Luz. Weite Sandstrände am Atlantik, ausgedehnte duftende Pinienwälder im Hinterland, riesige Grundstücke mit einzelnen Häusern darauf und hin und wieder ein kleines spanisches Dorf und Temperaturen, die selbst im Winter selten einmal unter zehn Grad Celsius sanken. Warum sollte ich nicht dorthin umsiedeln und Oberstaatsanwalt Pagelsdorf, die Justiz und die Politiker weit hinter mir lassen?

      Aber nein, so wusste ich selbst hier, im regnerischen, ungemütlichen Königsfeld mit seinen drei Grad über Null, mit seinem Schneematsch und den Fahrzeugen, die mit zu hoher Geschwindigkeit an mir vorbeifuhren und mir gerade jetzt einen Schwall von Tauwasser und Schneematsch auf den Mantel warfen, das ging nicht. Nein, hier lebte ich und hier musste ich kämpfen. Es hatte auch keinen Zweck zu flüchten, auch in Spanien wäre ich nicht sicher vor der Justiz, nein, hier musste ich mich verteidigen. Hatte ich nicht den besten Strafverteidiger engagiert, der zu haben war? Hatte ich nicht Beziehungen zu meiner Partei, zum Bundeskanzler und zu Politikern in allen Parteien? War ich nicht bekannt und geschätzt als zuverlässiger Gesprächspartner in der Wirtschaft und bei den Managern?

      Ich richtete mich auf, während ich den Rückweg zu meinem Büro antrat. Ab heute Nachmittag würde ich meiner geregelten Arbeit wieder nachgehen und heute Abend mit Hanna sprechen. Ich würde versuchen, mein Verhältnis zu ihr zu klären und zu verbessern. Hanna war in ihrem Beruf ebenso engagiert wie ich in meinem, wir würden unser Leben ungestört von den Anfeindungen der Justiz wiederaufnehmen.

      7.

      „Dein Vater will dich sprechen, er hat nach dem Strafverfahren gefragt“, empfing Hanna mich abends, als ich vom Büro nach Hause kam. Ich sah ihr in die Augen, ich fand Mitleid darin, die Kälte von gestern Abend war verschwunden. Sie konnte sich vorstellen, was mein Vater mir zu sagen haben würde. Der hochgemute Vorsatz vom Nachmittag, mein Leben ungestört von der Justiz wiederaufzunehmen, verschwand so schnell, wie er gekommen war.

      Mein Vater rief mich selten, noch weniger sprach er mit Hanna mehr als das Notwendige. Er hatte seine eigene Haushälterin, die für ihn sorgte, für ihn putzte und kochte und seine Einkäufe erledigte. Heute Mittag, so sagte Hanna, habe er nach mir verlangt, ich solle ihm über das Strafverfahren gegen mich berichten.

      Müde nickte ich und ging in seine Wohnung.

      Richard Eschenburg, mein Vater, war mehr als achtzig Jahre alt. Bis zum Tode meiner Mutter hatte er die ganze Villa bewohnt, allerdings die Räume, die vorher mein Großvater innegehabt hatte, leer stehen lassen. Als meine Mutter starb und er mich rundheraus fragte, ob ich nicht in die Villa ziehen wolle, er würde sich mit der kleinen Wohnung im Erdgeschoss begnügen, hatte ich zuerst gezögert. Ich hatte nie ein gutes Verhältnis zu meinem Vater gehabt, ernst und streng und groß war er mir stets begegnet. Nur einmal schlich sich etwas Herzlichkeit in unsere Beziehungen,