Die Wahrheit ist immer anders. Friedrich von Bonin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich von Bonin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746710259
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du, wie vor einigen Jahren in München.“

      „Aber wird darüber noch diskutiert? Ich denke, die Räterepublik ist gescheitert, haben sie die nicht niedergeschlagen und ihre Führer ermordet?“

      „Ja, eben, sie haben ihre Führer ermordet, und seitdem machen sich auch in München, wie hier in Königsfeld, die Schläger der Freikorps breit. Wir wollen das verhindern.“

      Eduard wunderte sich. Er hatte sich nie mit Andrea über Politik unterhalten, sich auch nie dafür interessiert. Klar, der Kaiser war geflohen, das Kaiserreich gab es nicht mehr, erst hatte Revolution auf dem Programm gestanden, dann war die Republik gegründet worden, aber Eduard kannte weder die politischen Parteien noch die Menschen, die sie vertraten. Er hatte genug damit zu tun, sich und seine Schwester zu ernähren und noch zu studieren, für anderes hatte er keine Zeit.

      Er hatte allerdings die Rotten von uniformierten jungen Männern wahrgenommen, die sich in der Innenstadt immer wieder versammelten und ihre Parolen schrien. Er wusste, auch in Königsfeld ermordeten sie diejenigen, die ihnen entgegentreten wollten. Eduard empfand Unbehagen, wenn er sie sah und wich ihnen aus. Er für seinen Teil hatte genug gekämpft, er wollte sich möglichst schnell ein ziviles Leben aufbauen, nein, mit Politik wollte er nichts zu tun haben.

      „Bitte, Eduard, dieses eine Mal komm doch mit“, bat ihn Andrea, als er ihr das sagte, „hör dir doch einfach nur mal an, was sie sagen, du brauchst ja nicht selbst mit zu machen.“

      Und so gingen sie, es war Herbst und die Bäume hatten angefangen, ihr Laub abzuwerfen, durch den regnerischen Abend in die Innenstadt. Der Weg war weit, aber Eduard ging gerne und viel. Nach einer Dreiviertelstunde kamen sie an einem Hochhaus an, das am Ende des Krieges durch Bomben stark beschädigt und noch nicht wiederaufgebaut worden war. Andrea kannte sich offenbar aus, sie führte ihn durch die Eingangstür in den Hof und in einen Keller, aus dem Stimmen kamen.

      Andrea stellte Eduard dem Posten vor, der an der Tür die Besucher kontrollierte.

      „Das ist Eduard Eschenburg, Maurer und Student, ich bürge für ihn.“

      Der Posten nickte und sie betraten den Keller.

      In der rauchgeschwängerten Luft konnte Eduard zunächst nichts erkennen, er, der nie geraucht hatte, empfand einen starken Hustenreiz, unterdrückte ihn und setzte sich neben Andrea auf einen Stuhl am Rand einer ganzen Reihe. Der Saal war voll besetzt, ziemlich weit vorne sprach ein Mann mit einer hellen, durchdringenden Stimme.

      „Und deshalb, Genossen“, rief er gerade energisch, „müssen wir verhindern, dass wir in Königsfeld und dass das ganze deutsche Reich jemals wieder in einen imperialistischen Krieg gezogen wird.“

      „Richtig“, schallte es ihm entgegen und Eduard fühlte sich erleichtert. Das kam ihm mindestens entgegen. Er fing an, sich zu entspannen und betrachtete die Menschen um sich herum. Männer waren es zumeist, Eduard konnte höchstens drei oder vier Frauen entdecken, von denen eine Andrea war. Sonst saßen hier Männer, junge Männer unter dreißig waren in der Überzahl, aber direkt vor ihm saß einer, der mit Sicherheit über fünfzig Jahre alt war und mehrere andere, die Eduard ansah, waren ungefähr ebenso alt. Harte und kluge Gesichter sah er um sich herum, die Falten tief eingegraben, auch die jungen hatten viel gesehen, klar, dachte er, die waren alle wie er im Krieg gewesen und hatten gelitten.

      Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Redner zu.

      „Wir wissen, wie die Räterepublik von den Freikorps und den Berliner Soldaten zusammengeschossen worden ist, wir wissen, wie sie die Idee der Menschenrechte und der Freiheit in Blut erstickt haben“, schmetterte er, „und trotzdem werden wir nicht ruhen, bis wir hier in Königsfeld und im deutschen Reich eine neue kommunistische Republik errichten, kraftvoll, mit unseren proletarischen Ideen!“

      Tosender Beifall, Klatschen und Zurufe erfüllten den engen Raum und der Redner trat von der Bühne ab, er wurde von einem stillen jungen Mann abgelöst, der die Grüße der bayrischen Genossen überbrachte, ein anderer forderte die anwesenden Genossen auf, einen Räterat zu gründen.

      „Schade“, flüsterte Andrea Eduard zu, „wir sind ein bisschen spät gekommen, wir haben den Genossen Tondern nur am Schluss gehört, das ist ein Redner.“

      Zum Ende der Versammlung sangen sie die Internationale. Eduard sang mit, von der Begeisterung um ihn herum angesteckt, bis zur letzten Zeile

      „. . . die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“

      Eduard stockte, sang nicht mehr, mit offenem Mund saß er da, biss sich fest, hielt inne bei dem Wort „erkämpft“.

      Kampf, immer wieder Kampf, ob Freikorps, Kommunisten, Politiker, allen ging es um den Kampf, aber er, Eduard, hatte gekämpft.

      Er war wieder in Frankreich, an der Front, im Schützengraben. Gerade war es ruhig geworden nach dem mörderischen Artilleriefeuer, das die Franzosen ihnen in die Gräben geschickt hatten, ein stundenlanges Dröhnen bei Abschuss und Pfeifen bei dem Einschlag der Granaten, endlos, nervenzerfetzend, Eduard wollte aus dem Graben stürmen, wurde von den Kameraden aufgehalten, wollte sich die Ohren zuhalten, schreien, um das ständige Brüllen der Kanonen zu übertönen, es hatte nichts geholfen. Und nun die Stille, endlich Ruhe.

      „Jetzt greifen sie an, Herr Fähnrich“, sagte der alte Hauptfeldwebel, der neben ihm stand, „jetzt werden wir uns wehren müssen.“

      Und tatsächlich, da kamen sie in langen Reihen gelaufen, zu erkennen an den flachen Helmen, „Lasst sie nahe heran, Männer!“ brüllte Eduard Eschenburg, der den Befehl über diesen Abschnitt hatte und der merkte, wie ihn selbst die Versuchung überkam, zu feuern, jetzt zu feuern, gleich zu feuern auf diese bedrohliche Reihe, die im Laufschritt immer näher kam und jetzt sich auflöste in einzelne Feinde, Franzosen, wie er an den Uniformen erkannte und jetzt hatte er einen im Visier, brüllte „Feuer jetzt!“ und nahm den Mann aufs Korn. Ein junger Mann, der mit angstverzerrtem Gesicht auf den Graben zulief, behindert von seinem Sturmgewehr und dem schweren Mantel. Fähnrich Eschenburg sah ihn, sah das Gesicht und zog langsam den Abzug, fühlte den Rückstoß und sah das Gesicht des jungen Mannes sich verzerren, sah, wie er im Lauf stolperte, sich an die Brust griff und fiel, endlos fiel, im Zeitlupentempo, Eschenburg sah und hörte nichts, nichts Anderes als diesen jungen Mann, den ersten, den er je in seinem Leben getötet hatte, und hier, in dem dunklen verräucherten Keller, sah er ihn wieder.

      Tränen liefen ihm über das Gesicht. Nie, nie mehr wird er das Gesicht dieses jungen Mannes vergessen, viele hat er getötet seitdem, von weitem und im Nahkampf, hat im Rausch des Gefechtes die Mordlust in sich gefühlt, hat sie und sich hinterher gehasst, aber wenn er an den Krieg und das Töten denkt, sieht er dieses Gesicht.

      Salzige Tränen liefen ihm über das hagere Gesicht, über die tief eingegrabenen Falten auf den Wangen.

      „Lass uns gehen, jetzt“, bat er mit erstickter Stimme Andrea, die sah ihn an, nickte und zog ihn hinaus in den regnerischen Herbstabend, zog ihn an der Hand weiter, bis sie zu einer Gastwirtschaft kamen, die noch Licht zeigte.

      „Was ist mit dir, Eduard?“, fragte sie besorgt und Eduard, immer noch flossen ihm die Tränen über die Wangen, erzählte von seiner Angst vor neuem Kampf.

      Da nahm sie seine breite, zerrissene, harte, schwielige Maurerhand in ihre weichen feingliedrigen Frauenhände und hielt sie, lange, schweigend, und wartete, bis er sich langsam beruhigte und sie ansah.

      „Eduard, du brauchst nicht mehr zu kämpfen, der Krieg ist vorbei, und uns brauchen weder Räte noch Freikorps zu interessieren.“

      Sie sah ihn an. Eduard Eschenburg war ein kleiner Mann, kaum größer als sie, mit einem kantigen Kopf, mit hoher Stirn und weit auseinanderstehenden Augen unter den dunkelbraunen dichten Brauen. Schmal war er, hager, zerfurcht war das Gesicht, vom Krieg und den Entbehrungen danach gezeichnet, jetzt auch noch von Leid und Kummer. Sie hielt immer noch seine Hand und streichelte sie, ganz leicht und vorsichtig.

      4.

      Wie oft hat nicht der Großvater mir die Geschichte von dem ersten Mann erzählt, den er getötet hat, jedes Mal mit Trauer in seinem