3.
Zwei Jahre später war mein Großvater dann, von der Höflichkeit der Menschen fast mehr angezogen als von den politischen Parolen überzeugt, in die Partei eingetreten. Er hatte das erste Examen gerade, ebenso wie Andrea, Alfons und Agnes, bestanden, alle vier hatten eine Stelle als Rechtsreferendare in Königsfeld bekommen, konnten daher ihre Verbindung aufrechterhalten und auch für das zweite Examen lernen.
Der Bürgermeister der Stadt und vier der Stadträte gehörten der gleichen Partei an wie Alfons und Eduard. Unmittelbar nach seinem zweiten Staatsexamen bewarb er sich auf eine Stelle als Assistent des Stadtoberhauptes, Hans Herburg. Hier kam ihm zum ersten Mal neben seiner militärischen Vergangenheit seine Mitgliedschaft in der Partei zugute. Bei dem Vorstellungsgespräch begrüßte der Bürgermeister ihn als Parteifreund, sie kannten sich aus Versammlungen. Eduard wusste, dass Herburg ihn schätzte. Der wiederum hatte es leicht, seinen Kandidaten Eschenburg durchzusetzen, weil die Politiker junge Leute in der Stadtverwaltung wollten. Bald hatte er sich bei Hans Herburg unentbehrlich zu machen verstanden, so dass dieser kaum noch eine Entscheidung traf, ohne seinen Assistenten zu fragen. Eschenburg war intelligent, ein sehr guter Jurist, loyal und entschlossen, in der Zivilgesellschaft Fuß zu fassen. Er war ein glühender Verehrer der Republik, die jetzt im deutschen Reich eingeführt war, weil diese Regierungsform, so dachte er, die Gewähr dafür bot, dass es so bald nicht wieder Krieg geben werde. Darin war er sich mit dem Bürgermeister, der ebenfalls im ersten Weltkrieg gekämpft hatte, und mit den meisten seiner Parteifreunde einig. Und so machte er nicht nur in der Stadtverwaltung, sondern auch in der Partei schnelle Fortschritte.
Drei Jahre nach dem Beginn seiner Arbeit bei der Stadt fand sich mein Großvater auf den Wahlplakaten für die Kommunalwahl in Königsfeld wieder, die seine Partei mit großer Mehrheit gewann. Hans Herburg wurde wieder zum Bürgermeister gewählt und Eduard Eschenburg vom neugewählten Stadtrat zum Kämmerer der Stadt ernannt, der nun die nächsten fünf Jahre die Finanzen der Stadt zu verwalten hatte.
Er wohnte mit meiner Großmutter und ihrem 1929 geborenen Sohn Richard, meinem Vater, in der Villa seiner Eltern, in deren ersten Stock seine Schwester Kathrin eine Wohnung hatte, die sie aber 1932 verließ, als sie einen amerikanischen Diplomaten heiratete und ihm in die Vereinigten Staaten folgte. Ich habe sie nie kennen gelernt.
4.
Die Ermahnungen meines Vaters hatten mindestens einen Erfolg gehabt: Ich überlegte zum ersten Mal, wie ich dem Ermittlungsverfahren gegen mich begegnen sollte. Eines war klar: Mit den Erinnerungen an meinen Großvater konnte ich mich beruhigen, helfen würden mir diese Erinnerungen nicht. Ich beschloss daher, am nächsten Morgen wie üblich zur Arbeit zu gehen. Gleichzeitig nahm ich mir vor, eine Liste von Freunden und Bekannten zusammen zu stellen, von denen ich annahm, dass sie mir in der einen oder anderen Weise helfen würden. Im Übrigen musste ich mit dem Anwalt dringend telefonieren, um eine Strategie zu entwickeln. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.
Am nächsten Morgen kam ich wie gewohnt um halb zehn in mein Büro, Frau Seibold empfing mich mit der gleichen mitleidigen Miene wie gestern, die sich aber sofort änderte, als sie mein Gesicht sah. Ich hatte mir vorgenommen, wie immer mit einem freundlichen Gruß und gleichgültigem Gesicht herein zu kommen und das beruhigte meine Sekretärin offenbar.
„Guten Morgen“, erwiderte sie meinen Gruß, „Kaffee?“ Ich nickte und sie kam zehn Minuten später mit der dampfenden Tasse herein, in der anderen Hand die Liste der Anrufe und Termine, die ich heute erledigen musste.
„Herr Randemann vom Finanzministerium drängt nun sehr, er sagt, er müsse dringend mit Ihnen sprechen, und dann hat auch Herr Ratenberg von der Energiecon angerufen, auch er hat es dringend gemacht. Die anderen habe ich Ihnen vom Leibe gehalten, aber die beiden sollten Sie schnell anrufen.“
Ich nickte. In all der Zeit hatte Frau Seibold ein sicheres Gespür dafür entwickelt, welche Anrufe eilig waren und welche nicht. Wenn sie meinte, ich müsse die beiden als erstes anrufen, dann war das wohl richtig.
Dennoch beschäftigte ich mich erst einmal mit der Liste der Freunde, die ich um Rat und Hilfe bitten konnte. Da waren zuerst die einflussreichen Politiker. Der Justizminister im Bund war ein Parteifreund von mir, ich kannte zwar nicht ihn, allerdings noch aus Studientagen seinen Staatssekretär, Dietrich Heuberg, der kam als erster auf meine Liste. Ich wusste nicht genau, wie viel Einfluss er nehmen konnte. Nicht sein Minister war weisungsberechtigt gegenüber dem Staatsanwalt, sondern die Justizministerin des Landes, aber die kannte ich gar nicht, auch niemanden aus ihrer Umgebung.
„Herr Heuberg ist in einer Sitzung“, teilte mir die Sekretärin mit, „kann ich ihm etwas ausrichten?“
„Ja, Franz Eschenburg ist hier, er möchte mich bitte dringend zurückrufen.“
„Das richte ich ihm gerne aus.“
Drei Minuten später klingelte das Telefon. „Herr Heuberg möchte Sie sprechen“, sagte Frau Seibold und stellte durch.
„Franz, Dietrich ist hier, was kann ich für dich tun?“
Es war angenehm, seine sonore Stimme am Telefon zu hören.
„Dietrich, schön, dass du so schnell anrufst. Hör zu, ich habe ein kleines Problem, möglicherweise auch ein großes.“
„Schieß los, wenn ich etwas tun kann, du weißt, tue ich es.“ Ich erzählte ihm von den Ermittlungen, die gegen mich liefen und von der Anklageschrift.
„Ach Herrjeh, das ist böse“, dehnte er langsam und leise, „ach du liebe Zeit, was ist da zu tun?“ Ich wartete, ich wollte ihn nicht beim Nachdenken stören. „Ja, was kann man da tun“, wiederholte er und schloss die Frage an: „Hast du eine Vorstellung?“
„Ich dachte, vielleicht könntest du deinen Minister dazu bringen, diesen Staatsanwalt zu bremsen.“
„Nein“, Dietrich wirkte ehrlich erschrocken, „das geht auf keinen Fall, wir können nicht in laufende Ermittlungen eingreifen, nein, stell dir mal vor, das würde bekannt. Aber ich kann dich in die Runde der Staatssekretäre einladen. An sich wären wir turnusmäßig mal wieder dran, und dann kannst du sehen, wen von uns du ansprichst. Mag sein, dass der ein oder andere Einfluss nehmen kann.“
Ich bedankte mich herzlich bei ihm, ja, das sei eine gute Idee, und wir verabschiedeten uns.
Nachdenklich saß ich an meinem Schreibtisch. Das hätte ich mir selbst denken können. Niemand würde offen für mich eintreten, jeder glaubte, die Justiz würde schon einen gerechten Spruch finden. Aber was würden meine Gesellschafter sagen, wenn sie von der Anklage erfuhren, was meine politischen Kontakte? Hatten vielleicht deshalb schon Randemann und Ratenburg angerufen? Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer des Staatssekretärs.
„Guten Tag, Frau Rieber, kann ich bitte Herrn Randemann sprechen? Er hat mich um Rückruf gebeten.“
Kurz darauf hatte ich die Stimme des Staatssekretärs am Ohr.
„Herr Eschenburg, gut, dass Sie anrufen, ich versuche seit drei Tagen, Sie zu erreichen. Sagen Sie mir bitte, was ist das für ein Gerücht, die Staatsanwaltschaft Königsfeld habe Sie angeklagt wegen Bestechung?“
„Das ist leider wahr, Herr Staatssekretär, ich glaube zwar nicht, dass da irgendetwas dran ist, aber sie haben die Anklage erhoben.“
„Sind wir denn da ebenfalls erwähnt?“
„Nein, das Finanzministerium wird nicht genannt, ich glaube nicht, dass Sie da hineingezogen werden können.“
„Sie müssen das auf jeden Fall verhindern, hören Sie? Wir haben hier schon genug Schwierigkeiten mit der Finanzkrise. Der Minister schläft seit einigen Wochen jede Nacht hier im Ministerium. Sehen Sie zu, dass Sie eine Einstellung des Verfahrens erreichen, auf keinen Fall darf der Minister damit zu tun haben.“
Wir verabschiedeten uns. Von da war Hilfe nicht zu erwarten, eher im Gegenteil. Ich wusste jetzt, wenn ich verurteilt werden