Die Wahrheit ist immer anders. Friedrich von Bonin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich von Bonin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746710259
Скачать книгу
erzählt, ich kenne sie.“

      „Dann wirst du sie dir auch zum einundzwanzigsten Mal anhören können, merke sie dir gut“, erwiderte er ungerührt und erzählte weiter, als hätte ich nichts gesagt. Dabei hat mich schon damals eine ganz andere Frage berührt. Acht oder neun Jahre, die ich damals war, hatte ich doch schon die Faszination gespürt, die von Mädchen ausging, ich war schon das erste Mal verliebt gewesen, hoffnungslos, in eine vier Jahre ältere Mitschülerin, die mich nicht einmal beachtete. Aber ich wusste schon, dass Männer und Frauen sich küssten, dass sie Kinder machten, ich wusste nur nicht, wie.

      „Großvater, wann hast du denn Großmutter zum ersten Mal geküsst?“, fragte ich naseweis, erhielt aber nie eine Antwort darauf. Mein Großvater verstummte regelmäßig und verfiel in schweigsames Brüten.

      Wie schön war es, in meinem Arbeitszimmer in Erinnerung zu schwelgen, anstatt mich mit der Anklage zu beschäftigen, die immer noch unberührt auf dem Schreibtisch lag in der Dunkelheit, die herrschte, weil ich kein Licht gemacht hatte. Irgendwann am Abend hatte Hanna still die Tür zu meinem Zimmer geöffnet.

      „Franz, willst du nicht mit uns essen kommen?“, hatte sie gefragt, ich hatte nur den Kopf geschüttelt, mir war nicht nach Essen zumute, auch jetzt nicht. Was sollte ich machen? Sollte ich die Anklageschrift jetzt lesen oder sollte ich mir das aufsparen für morgen, wenn ich ins Büro ging? Sollte ich morgen übrigens ins Büro gehen? War meine Tätigkeit nicht beendet, wenn die Presse von der Anklage erfuhr?

      Ich wusste sehr wohl, dass ich die ganze Nacht nicht würde schlafen können, weil ich die Bedrohung nicht kannte und dass es klüger wäre, das Papier sofort zu lesen, dann wüsste ich, was da auf mich zukam. Aber bei dieser Gelegenheit klug sein? Ich war immer klug gewesen in meinem Leben, ich hatte auch immer Bedrohungen und Hindernisse, die auf meinem Weg lagen, möglichst schnell kennen lernen wollen. Gegen eine bekannte Gefahr konnte ich kämpfen, damit konnte ich mich auseinandersetzen, eine unbekannte Gefahr erzeugte Angst, keine Widerstandskraft.

      Ich nahm zum wiederholten Male das Papier vom Schreibtisch und knipste die Schreibtischlampe an.

      „Wird angeklagt . . .“ da war ich schon, „indem er als Geschäftsführer der VBI Verband der Banken und der Industrie Interessengesellschaft mit beschränkter Haftung. . .“ Wie das klang: Geschäftsführer der VBI Verband der Banken und der Industrie Interessengesellschaft mit beschränkter Haftung.

      Ja, ich war Geschäftsführer dieser Gesellschaft, aber das war zu leicht, zu kurz.

      Der Sitz dieses Zentralverbandes und damit mein Büro befand sich im Zentrum von Königsfeld, in einem der alten stolzen Patrizierhäuser, die noch aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in der Altstadt stehen geblieben waren. Ein Backsteinbau war das, fünf Stockwerke hoch, mit einer prächtigen verziert gemauerten Fassade und mit sehr hohen Fenstern auf jeder Etage, die innen bis auf den Fußboden reichten, mit einem repräsentativen Eingangstor, das seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet werden musste, weil in seinem rechten Flügel eine Tür eingelassen war, durch die man das Haus betreten konnte, eine Tür, die zu öffnen einige Kraft kostete, so schwer war sie gebaut.

      Ging man hindurch, kam man in ein riesiges Treppenhaus mit einer geschwungenen hohen Treppe, mit Holzschnitzereien verziert, die in weiten Bögen vom Erdgeschoss in das erste Geschoss und dann weiter nach oben führte. Das Treppenhaus vermittelte den Eindruck von gediegener Altertümlichkeit, von Zuverlässigkeit und Reichtum, ein Eindruck, der durch die Tür und den Schacht eines Fahrstuhles ein wenig gemindert wurde, den man irgendwann gegenüber dem Eingang in den Flur gesetzt hatte.

      Mein Büro befand sich im ersten Geschoss, das Erdgeschoss war belegt durch einen traditionellen Wein- und Tabakimporteur, an dessen Eingangstür stolz verkündet wurde, dass es ihn seit hundertfünfzig Jahren an dieser Stelle gab. Schon seit dem zweiten Weltkrieg wurden hier keine Waren mehr gelagert, dennoch meinte ich immer, wenn ich das Haus betrat, einen leichten Duft nach Wein und Tabak zu verspüren.

      Jeden Morgen ging ich die ausladende Treppe hinauf und stand vor einer eichenen Etagentür, ebenfalls reich geschnitzt, neben der ein kleines bronzenes Schild mit schwarzen Buchstaben meine Firma nannte.

      „VBI GmbH“, stand da, bewusst bescheiden gehalten, und benannte die Gesellschaft, als deren Geschäftsführer ich arbeitete, eine Gesellschaft, deren voller Name „VBI Verband der Banken und der Industrie Interessengesellschaft mit beschränkter Haftung“ war. So stand sie im Handelsregister und ich war dort als Geschäftsführer eingetragen.

      Aber ob ich morgen früh die schwere Tür öffnen und in mein Büro gehen und arbeiten sollte, hatte ich noch nicht entschieden.

      Draußen war es vollends dunkel geworden. Ich entschloss mich, meine Klause zu verlassen und in das Esszimmer zu gehen, um mit meiner Frau und meiner Tochter einen Wein zu trinken. Ewig konnte ich hier doch nicht bleiben, irgendwann würde ich mich ihren Fragen stellen müssen.

      „Dem Himmel sei Dank, Franz, dass du kommst, ich war schon beunruhigt.“ Hanna kam mir entgegen. Ich sah, dass sie ebenfalls nicht gegessen hatten, sie und Mara, unsere Tochter, die noch am Tisch saß und mir erwartungsvoll entgegenblickte.

      „Hast du denn die Anklageschrift jetzt gelesen?“ fragte sie. Ich schüttelte bedrückt den Kopf.

      „Ehrlich gesagt, nein, ich glaube, ich nehme sie morgen mit ins Büro, aber heute konnte ich mich dazu nicht aufraffen.“

      Ich sah, wie Hanna mich anblickte, jetzt kühl, und wie meine Tochter Mara die Lippen kräuselte, verächtlich ob ihres Vaters, der einer Gefahr nicht ins Auge blicken mochte, oder interpretierte ich Hannas Kälte und Maras Verachtung nur, meine eigenen Gefühle widerspiegelnd?

      „Meinst du denn, du wirst sie morgen lesen oder übermorgen oder wann überhaupt?“ fragte mich Hanna, „jedenfalls wäre es nett, wenn du mir sagst, worum es geht, sobald du es selbst weißt.“

      Mara assistierte:

      „Mich würde es schon auch interessieren, wessen mein Vater angeklagt ist, wenn du also mich auch informieren könntest.“

      Ich hatte nicht Kraft genug mehr, meine Tochter auf den unpassenden Ton gegen ihren eigenen Vater hinzuweisen, sondern verließ das Zimmer und ging zurück, zu meinem Schreibtisch, zu der Anklageschrift und zu dem Bett, in dem ich heute Nacht schlief.

      5.

      Am nächsten Tag fuhr ich zur gewohnten Zeit in mein Büro, allerdings ohne das Frühstück, das die Familie üblicherweise gemeinsam einnahm. In der Nacht hatte es nun doch zu tauen begonnen, endlich waren nach zwei Wochen die Temperaturen über den Gefrierpunkt gestiegen. Als ich aus dem Haus trat, war es noch dunkel, ich konnte das eigenartige Geräusch hören, das entsteht, wenn Schnee taut: Überall rieselte es, Feuchtigkeit lag in der Luft, dem Schnee war hier, in dem Vorgarten unserer Villa, noch keine Veränderung anzusehen, strahlend weiß spiegelte er das Licht der Außenlaterne zurück. Ich fuhr aus der Vorstadt in das Zentrum, den vertrauten Weg entlang, erst aus dem Viertel, in dem ich wohnte, auf die vierspurige Ausfallstraße, die sich verbreiterte auf erst sechs, dann acht Spuren, immer Richtung Zentrum, die Stadt wurde dichter, die Häuser höher, der Verkehr aufreibender, bis ich in der Straße anlangte, in der mein Büro lag und in die Tiefgarage einfuhr, in der meine Gesellschaft einen Platz für mein Fahrzeug gemietet hatte. Je weiter ich mich dem Zentrum näherte, desto grauer und schmutziger wurde der Schnee, von den Räumfahrzeugen an die Seite geschoben und dort mit dem Dreck der vorbeifahrenden Fahrzeuge in schmutziges Grau verwandelt. Ich betrat die Räume meines Büros.

      „Herr Eschenburg, gut, dass Sie kommen“, Frau Seibold, meine Sekretärin, stand hinter ihrem Schreibtisch auf und kam mir entgegen, „ich habe mir schon Sorgen gemacht, wie es Ihnen geht. Wie war es denn bei Dr. Dragon? Soll ich Ihnen erst einmal einen Kaffee machen?“

      Nach der spöttischen Behandlung, die ich zu Hause erfahren hatte, tat mir der mitfühlende Ton in meinem Büro gut.

      „Danke, Frau Seibold, es geht mir gut, aber einen Kaffee könnte ich jetzt brauchen, vielleicht können Sie organisieren, dass mir ein Croissant besorgt wird, ich habe wenig gefrühstückt heute Morgen. Und dann wäre es nett, wenn Sie mir