Ich hatte einige Ersparnisse, ich hatte einige Immobilien, eine Zeit lang würde ich mich über Wasser halten können. Aber wie lange würde das halten?
Ich merkte, wie der Druck auf meinen Magen wieder zunahm. Heute Morgen war ich einigermaßen zuversichtlich hierhergekommen, aber zwei Gespräche hatten mir wieder klargemacht, wie sehr meine Existenz bedroht war.
Meine Freunde und meine Geschäftspartner würden mich nicht lange stützen können, zu gefährlich waren die Vorwürfe gegen mich, zu sehr konnten sie sich kompromittieren, wenn sie mir halfen, zu unsicher fühlten sie sich selbst angesichts der Krisen, die Deutschland erschütterten.
Die Finanzkrise von 2008 war glücklich überstanden, die Regierung hatte den Bundeshaushalt bis an die Grenze belastet, die Wirtschaft hatte sich seitdem zwar etwas erholt, meine Aktien waren wieder auf dem Stand von 2008, aber wie lange würde die Stabilität vorhalten? Schon meldeten sich jetzt nicht mehr nur Banken, sondern ganze Staaten und teilten mit, ihre Zahlungsfähigkeit sei bedroht, mit Griechenland fing es an. „Die Märkte jagen die Politiker vor sich her“, wie ein Analyst einer Privatbank öffentlich notiert hatte. Nein, ich konnte mich nicht zur Ruhe setzen, ich konnte nicht kapitulieren, selbst wenn ich gewollt hätte. Also musste ich mich zur Wehr setzen.
Auf meiner Telefonliste stand als nächster Herr Ratenburg, der Vorstandssprecher der Energiecon AG. Die Energiecon war einer meiner vier Hauptgesellschafter, einer der großen Stromproduzenten des Landes.
Ratenburg war anwesend gewesen, als die Staatsanwaltschaft meine Büroräume durchsucht hatte, er hatte den Staatsanwalt abblitzen lassen, als dieser ihn mit in die Liste von Verdächtigen einbeziehen wollte. Er hatte sich immer wieder nach dem Verfahren erkundigt und ich hatte ihn immer wieder beruhigen können. Ich war nicht sicher, ob er von der Anklageschrift schon wusste.
Sie war ihm bekannt, wie sich sehr schnell herausstellte.
„Na, Herr Eschenburg, jetzt ist es also doch soweit und Sie sind angeklagt?“ hörte ich die Stimme jovial durch den Hörer klingen, „wie wird sich das denn auf unsere Interessen auswirken?“
„Ich weiß das im Augenblick noch nicht so genau, Herr Ratenburg, ich hoffe, das wird keinen Einfluss auf unsere Arbeit haben.“
„Hoffen alleine reicht nicht, lieber Herr Eschenburg“, die Jovialität Ratenburgs erreichte jetzt einen für mich fast unerträglichen Höhepunkt, „unsere gemeinsame Sache darf keinesfalls darunter leiden. Wir werden die Angelegenheit auf der nächsten Gesellschafterversammlung besprechen, ich gehe davon aus, dass Sie dann Bericht erstatten werden.“
„Selbstverständlich, Herr Ratenburg, auf Wiedersehen.“
Auch von da war also keine Unterstützung zu erwarten, nicht nur keine Unterstützung, nein, von allen Seiten nur die entsetzte Aufforderung, man möge sie doch bloß heraushalten.
5.
Ein Jahr nach der Machtergreifung Adolf Hitlers hatte Alfons Hellmann Eduard Eschenburg in seinem Büro besucht.
„Eduard, ich muss ernsthaft mit dir sprechen, du weißt, dass du deine Stellung hier als Kämmerer nicht mehr sehr lange halten kannst.“
Hellmann sprach auf die bekannte Tatsache an, dass die Kommunalverwaltung seit kurzer Zeit nicht mehr gewählt, sondern direkt von der Partei bestimmt wurde. Die Partei hatte sehr schnell die wichtigsten Posten mit ihren Mitgliedern zu besetzen begonnen. Auch um den Posten des Kämmerers der Stadt Königsfeld bewarben sich zwei verdiente Parteigenossen.
„Ich weiß, Alfons, aber was soll ich tun? Sie werden mich ganz sicher nicht in meiner Position bestätigen, das weißt du.“
„Nein, natürlich nicht, wenn du nicht etwas änderst.“
„Aber was soll ich denn ändern?“
„Eduard, es kann doch nicht so schwer sein, die Partei zu wechseln. Tritt ein, aus der alten Partei aus und in die neue Partei, das Übrige kriegen wir dann schon hin. Bei dir wird es noch nicht einmal so schwer sein wie bei mir, Eschenburg, das ist doch ein anständiger Name.“
„Wieso Name?“, fragte Eschenburg.
„Na hör mal, als ich in die Partei eintreten wollte, gab es unendliche Untersuchungen wegen meiner arischen Abstammung, du weißt, darauf legen sie besonderen Wert. Hellmann, Hellmann, das sollte ein deutscher Name sein? Und dann fanden sie heraus, dass ich skandinavischer Abstammung bin, indogermanisch, noch vornehmer, und schon nahmen sie mich in die Partei auf.“
Hellmann hatte das leicht ironisch vorgebracht, meinte es aber ernst.
Eduard Eschenburg erinnerte sich endloser Diskussionen mit Alfons, als der vor zwei Jahren nach seinem Eintritt in die Partei sofort der SS gefolgt war.
„Wir müssen Deutschland säubern von all dem Gesocks, das sich hier breitgemacht hat“, hatte Hellmann gesagt und war von Agnes, die er mittlerweile geheiratet hatte, unterstützt worden.
„Sieh doch mal, wer bei uns in Berlin in der Regierung saß, das waren doch Kommunisten, Juden und Homos“, hatte sie mit scharfer Stimme vorgetragen, „wer jetzt nicht bereit ist, den Weg der Säuberung mit uns zu gehen, der wird mit den Feinden des Volkes untergehen.“
Zwei Wochen später trat Eduard Eschenburg in die neue Partei ein. Auf die wiederholte Fürsprache seines Freundes Hellmann beließ ihn die Partei in seiner Stellung als Kämmerer.
6.
Unzählige Stiefel trampelten an diesem dreißigsten Januar, einem Montag, vor seinem Büro vorbei, so erzählte Großvater mir, endlos, und nur unterbrochen von den rohen Stimmen, die ihre Lieder sangen. „Heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt“ und „die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen“ waren darunter. Und immer wieder die marschierenden Stiefel und rohes Geschrei, wenn sie nicht sangen. Eschenburg blieb ruhig an seinem Platz im Rathaus sitzen. Er wusste, draußen war es kalt und sonnig an diesem Tag. Die Thermometer waren seit Tagen nicht über Null gestiegen, Dauerfrost beherrschte die Stadt. Der Schnee, der vor zwei Wochen gefallen war, war draußen vor der Villa noch immer buchstäblich schneeweiß und rein und bot einen schönen Anblick. Hier, in der Stadt, vor dem Rathaus, auf dem Marktplatz, war er grau und unansehnlich geworden von den vielen Stiefeln, die über ihn hinweggestapft waren und immer noch stapften. Jetzt hörte abrupt das Lied auf, das sie gesungen hatten, die Schritte wurden langsamer, verloren den Marschtakt und schließlich stoppten sie ganz. Aufgeregtes Gejohle erhob sich, steigerte sich zum wüsten Geschrei und Eschenburgs Neugier siegte. Er ging an eines der hohen Fenster in seinem Büro und sah hinunter.
Ein großer fast runder Platz war das, an dessen nördlichen Bogen das Rathaus stand. Ein Ort, auf dem mittwochs und sonnabends der Wochenmarkt abgehalten wurde, ein bunter Markt voller Leben. Händler aus ganz Norddeutschland boten da ihre Waren feil und vor allem die Bauern aus der Umgebung. Weit kamen sie aus den Dörfern rund um die Hauptstadt mit ihren Pferdefuhrwerken gefahren, um Früchte und Gemüse an die Städter zu verkaufen. Für Eschenburg war es eine Freude, an diesen Tagen aus dem Fenster zu sehen, sich an dem bunten Treiben zu erfreuen und im Sommer bei geöffneten Fenstern den Lärm des Marktes zu hören. Das Stampfen der angebundenen Pferde, ab und zu ein Wiehern, vermischte sich mit dem anpreisenden Geschrei der Verkäufer: „Schöne eins a Kartoffeln, frische frische Eier!“, schrien sie. Direkt unter seinem Fenster hörte er eine schrille Frauenstimme, jeden Mittwoch und Sonnabend schreien „Lumpen, bringen Sie mir Ihre Lumpen!“. Einmal in der ganzen Zeit hatte er erlebt, dass die Lumpensammlerin nicht schrie, er hatte sich schon Sorgen gemacht bis zum nächsten Mittwoch, da war sie wieder da.
Was wurde alles feilgeboten auf dem Markt! Von den Erzeugnissen der Bauernhöfe, Zwiebeln, Lauch und Kohlrabi im Frühling und Sommer, Erbsen und Bohnen, einige, ganz wenige Verkäufer boten sogar Spargel an, den sich nur die Wenigsten leisten konnten, im Herbst gab es die frischen Äpfel, Kartoffeln säckeweise, Bohnen und frisches Fleisch, Schwein, Kuh, Kalb und Schaf, alles bunt durcheinandergewürfelt. An einigen Ständen konnte man essen, Erbsensuppe für einen Groschen den Teller, direkt