3.
„Ich verstehe einfach nicht den Unterschied zwischen der Leistungs- und der Eingriffskondiktion.“ Hilfesuchend sah seine Platznachbarin Eduard Eschenburg an. Sie war die einzige Frau in der Universität, die Jura studierte und wurde von allen Kommilitonen und den Professoren misstrauisch betrachtet. Was wollte eine Frau mit Jura anfangen? Frauen sollten nähen und kochen lernen, tanzen, damit sie später einen Mann bekamen, und schon gar, wenn sie so hübsch waren wie die hier.
„Die hier“ saß in der Vorlesung im Hörsaal neben Eduard Eschenburg, dem einzigen, der nicht empört zur Seite rückte, wenn sie sich neben ihn setzte. Sie hörten Professor Springhammers Vorlesung über die Paragrafen 812 folgende des Bürgerlichen Gesetzbuches, die Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung, Kondiktion genannt, und alle waren der Meinung, diese Paragrafen seien nur dazu da, um Studenten der Rechte das Leben schwer zu machen.
„Ich verstehe das doch auch nicht“, flüsterte er zurück, „ich heiße übrigens Eduard Eschenburg.“
„Ich heiße Andrea de Hourot“, kam es zurück und er sah, wie sie rot wurde. Trotzdem fragte er erstaunt zurück:
„Wie heißen Sie?“
„Andrea de Hourot, kommen Sie, ich schreib es auf.“
Und sie schrieb ihren Namen säuberlich in einer zierlichen Handschrift auf ein weißes Stück Papier.
„Pst“, waren die ersten empörten Reaktionen auf ihr Flüstern zu hören, Eduard wusste nicht, waren sie wirklich gestört oder nur neidisch, dass die jungen Frau mit ihm redete.
„Warten Sie nach der Vorlesung auf mich und wir trinken einen Tee?“ fragte er und wieder meldeten sich Kommilitonen, die sich gestört fühlten. Jetzt war Eduard rot geworden, er empfand sehr deutlich, er war zu mutig gewesen, das musste sie ablehnen.
„Gerne, ich warte vor dem Hörsaal“, schrieb sie auf ihr Papier, und dann lauschten sie weiter den Ausführungen des Professors zur ungerechtfertigten Bereicherung.
Eduard Eschenburg verstand nichts von der Vorlesung. Das lag nicht daran, dass er begriffsstutzig war, sondern daran, dass er zum ersten Mal nicht aufpasste. Aus den Augenwinkeln betrachtete er immer wieder seine Nachbarin, mit der er nun verabredet war. Eine schlanke junge Frau saß sie neben ihm, mit kohlschwarzen langen Haaren, einem vollen Mund und einer kleinen, geraden Nase. Sie hatte ein leichtes geblümtes Sommerkleid an, trug keinerlei Schmuck. Mit langen schmalen Händen schrieb sie Notizen in ihr Heft. Mehr sah Eduard nicht, aber das war ihm auch genug. Was Professor Springhammer vortrug, nahm er nicht wahr.
Der Herbst meinte es gut mit ihnen in diesem Jahr. Noch war das Laub nicht gefärbt, ein strahlend schöner Sommertag empfing Eduard und Andrea, als sie aus dem Universitätsgebäude kamen und auf die Straße traten. Eduard hatte vorgeschlagen, in ein Café in der Nähe der Universität zu gehen, in dem man draußen sitzen konnte und das wegen der hohen Preise von Studenten kaum besucht wurde. Das Café lag an einem kleinen Stadtsee, die Terrasse war lauschig auf das Wasser ausgerichtet. Langsam gingen sie über die Straße, von Pferdefuhrwerken und Autos überholt. Eduard war verlegen, er wusste nicht, was er sprechen sollte, als sie den Anfang machte.
„Sie haben das auch nicht verstanden mit der ungerechtfertigten Bereicherung?“
„Nein, aber wir können ja versuchen, zusammenzulegen, was jeder von uns begriffen hat, vielleicht wird ja was draus.“
Sie lachte. „Wir sollten das versuchen, aber viel Hoffnung habe ich nicht.“
Er verstummte und schweigend gingen sie in das Café und bestellten.
Zum ersten Mal sah er sie voll an. Sie hatte weit auseinander stehende dunkle Augen, die ihn jetzt ebenso ernsthaft musterten wie er sie.
„Kommen Sie aus Königsfeld?“ fragte sie.
„Ja, seit meiner Geburt lebe ich hier, schon meine Eltern sind hier geboren.“
Und nun fragte sie ihn aus, nach seinen Eltern, nach seiner Schwester, wie er lebte und er erzählte bereitwillig von sich, wie er sein Studium finanzierte. Als sie nach dem Krieg fragte, wich er aus. Er wolle heute nicht daran denken.
„Nein, jetzt bin ich dran“, lachte er und fragte sie aus.
Andrea de Hourot lebte erst seit fünfzehn Jahren in Königsfeld, ihre Eltern waren vor dem Krieg hergekommen, weil der Vater als Arzt im hiesigen Krankenhaus eine Anstellung gefunden hatte. Ihre Eltern lebten noch, sie wohnten im Zentrum der Stadt, in der Nähe des Krankenhauses, in einer ruhigen Seitenstraße. Ihr Vater war wieder als Arzt tätig, ihre Mutter versorgte den Haushalt und sie studierte Jura, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern.
„Kind, warum das denn? Du brauchst doch nicht zu studieren, um einen Mann zu kriegen!“, hatten sie ausgerufen und Eduard musste lachen, wie die junge Frau ihre Eltern parodierte.
Immer weiter erzählten sie, immer persönlicher, Eduard gestand, wie er eingebrochen war, direkt nach dem Krieg, und wie er sich schämte. Nein, das hatte sie nicht müssen, ihr Vater hatte immer genug verdient, aber mitleidig sah sie ihn an:
„Vier Jahre im Krieg und dann nichts zu essen, das muss ja furchtbar gewesen sein.“
Er sah ihren mitleidigen Blick
„Aber das war nicht das Schlimmste“, sagte er, „einmal in diesen Kriegsjahren, es war im zweiten Jahr, bin ich dem Kaiser begegnet. Er besuchte die Westfront in Frankreich und zeichnete einige der Offiziere aus, unter anderen auch mich. Da stand ich ihm gegenüber und sah ihm in dieses kaiserliche Gesicht. Ich sah den geraden Blick aus seinen klaren strengen Augen, ich sah den Schnurrbart, der aufwärts gebürstet war, ich sah die aufrechte Gestalt, unseren obersten Kriegsherrn und sah darin alles, was richtig und klar war, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Güte, Gerechtigkeit, alles das war für mich in dieser Gestalt gebündelt, in unserem Kaiser. Ich wusste: Für ihn, diesen Kaiser, hatte ich gekämpft und würde weiterkämpfen bis zum Tode oder bis zum Sieg, und ich kämpfte weiter, ich tötete, verwundete und siegte, bis zum Ende. Und dann kapitulierte Deutschland und wir erfuhren: Er war nicht gefallen, er hatte nicht mannhaft dem Feind das Schwert übergeben, nein, er war geflohen, schändlich hatte er sich davongemacht, er, unser Kaiser.“
Eduard machte eine Pause und holte tief Luft, er sah Andrea gerade an:
„Und seitdem weiß ich nichts mehr. Alles ist falsch, was ich bis dahin gefühlt und gedacht habe, nichts stimmt mehr.“
Andrea sah ihn an, lange, schweigend, mitfühlend, gerade in die Augen.
„Aber wir“, flüsterte sie endlich, „stimmt das auch nicht? Sitzen wir nicht hier und sprechen über uns?“
Eduards Augen waren voller Tränen.
„Doch, das schon. Aber die Vergangenheit sitzt auch hier. Ich habe gekämpft, ich habe getötet, es war richtig und gut, solange ich an das Reich, an den Kaiser geglaubt habe und es wurde falsch, wenn das Reich und der Kaiser nichts war, hohl, und ich kam zurück, ausgebrannt und leer und musste mir mein Essen zusammenstehlen.“
„Eduard“, bat sie, „Eduard, können wir nicht die Vergangenheit einen Moment lang vergessen und an uns denken, an die Zukunft. Darf ich Eduard und du zu dir sagen? Darf ich dich daran erinnern, wie jung wir sind und was wir vor uns haben? Wir schaffen uns einen neuen Glauben, ein neues Reich und Neues, an das wir glauben.“
Eduard sah sie an.
„Andrea, ich weiß seit langem, du heißt Andrea, ja, gerne sage ich du zu dir.“
Für diesmal trennten sie sich, aber schnell gewöhnten sich die Kommilitonen aus der Fakultät daran, Eduard mit dieser einzigen Frau in ihrem Kreis zusammen zu sehen, sie besuchten Vorlesungen, saßen nebeneinander, lernten miteinander.
„Gehst du mit mir, Eduard?“ fragte sie ihn eines Nachmittags, „heute Abend auf eine Versammlung?“
„Worum geht es denn?“
„Das