Traurige Strände. A.B. Exner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: A.B. Exner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847665212
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um Metin geben, sagte ich dem ersten Polizisten. Fragte aber mit weinerlicher Stimme nach. Bereitwillig gab man mir dezente Auskunft. Ein Paketkurier wollte eine Lieferung bei Metin abgeben und fand die Wohnung offen. Metin hätte auf dem Balkon gelegen. Das zweite Telefonat. Nein, ich würde keine Anzeige erstatten. Den Bildschirm musste der Kerl dem Institut ersetzen, nicht mir. Dann dankte ich in der dritten Berliner Polizeidienststelle für die Info wegen meiner Wohnung und mein Nachbar würde schon alles in die Wege leiten. Keinem der Polizisten gab ich eine helfende Information. Nicht nach dem, was ich im Taunus erlebt hatte. Die hielten doch alle zusammen. Das waren doch schon bessere Menschen. Ich beruhigte mich wieder etwas. Dachte dabei an die Beschwichtigungsrituale meines Mentors. Dann rief ich Heidi an und heulte fünfzehn Minuten mit ihr gemeinsam am Telefon. Danach brauchte ich eine Pause. Würde ich rauchen, hätte ich geraucht. Wenigstens zwei Zigaretten. Opa Beyer bekam meine Reaktion per Mail. Es blieb bei unserem Deal. Metins Anwalt erhielt die Info, dass ich nicht zur Testamentsverkündung anwesend sein würde. Dr. Richard erhielt keine Info von mir. Gerade als ich die Senden-Taste gedrückt hatte, klingelte es. Ich war nicht auf der Höhe. Denn ich ging ran. Eine Frauenstimme. Plitechna. Kannte ich nicht. Verdammt, kannte ich doch. Die Dame aus dem Flieger. Sie würde mich gern sehen, hätte ihre Kontakte soweit abgearbeitet, dass sie sich zwei Tage frei nehmen könne. Ich erklärte ihr freundlich aber bestimmt, dass ich nach Zonguldak unterwegs sei. Freudig unterbrach sie meine Rede. Das sei ja fantastisch, denn sie selbst habe einen Termin in Karabük, den sie auf dem Weg nach Ankara noch wahrnehmen müsse. Sie würde dann eben einen Abstecher zu mir machen. Wo ich denn übernachten würde. Ich wusste es nicht und wollte diese Verlagstante auch nicht sehen. Wie konnte ich sie loswerden? So wie immer. Erst mal zusagen und dann anrufen und absagen. Nach der dritten Absage müsste die Frau dann das Offensichtliche einsehen. Ich ging immer so vor, direkt abzusagen, dazu war ich zu feige. Mein Selbstbewusstsein reduzierte sich auf den Selbsterhaltungstrieb. Meiner Konfliktfähigkeit war ich beraubt worden. Vor langer Zeit. Sie gab mir eine Anschrift in Zonguldak, die ich mir weder merkte noch notierte. Ob ich denn den Artikel in diesem türkischen Wirtschaftsmagazin gesehen hätte. Der Gastabdruck des STERN-Artikels zum Jahrestag der Anwerbevereinbarung. Ja, hätte ich. Sie sei ja so begeistert und wolle mich unbedingt mit ihrem Verlag in Verbindung bringen. Da sei einiges an Potenzial, was gerade die deutschen Politiker derzeit übersähen. Bla-Bla-Bla… Ich beendete das Gespräch indem ich einfach auflegte und speicherte die Nummer unter Verlagstante. Mein erster Versuch mir etwas zum Essen zu kaufen, endete mit Morddrohungen gegen den Softwareentwickler der von mir genutzten Deutsch-Türkisch Applikation auf meinem Handy. Ich brauchte ein Wörterbuch. Was wollte die Plitechna wirklich? Dass sich deren Reisepläne so schnell geändert hatten, wollte ich nicht glauben. Konnte ich nicht glauben. Konnte ich ihr glauben? Warum wollte ich ihr nicht glauben? Eine Stunde später kam der zweite Anruf von meinem neuen Schatten. Sie bitte nur um dieses eine Gespräch und werde auch nicht aufgeben. Eine Publikation in ganz Europa und wenigstens vierzehn weiteren Ländern bot sie mir an. Aha, jetzt begannen also schon die Verhandlungen. Das könnte helfen, den Weg in ein neues Leben trocken zu legen, wenn nicht gar zu pflastern. Sie wollte einmal darlegen, was ihr vorschwebte. Einmal. Ich sagte einem Treffen zu. Für morgen. Ort und Zeit würden wir später konkretisieren. Sie klang nicht erleichtert, sondern so, als wenn sie genau damit gerechnet hätte. Hm? Doch erst folgte die Verabredung mit Tülin. Tülin, so hieß Hatices Freundin bei der ich eigentlich schon gestern am Abend hatte sein wollen. Wie gesagt waren sowohl meine Geduld, als auch meine Fahrpraxis eingerostet und zu wenig asiatisch gelassen. Ich hatte einen halben Tag und eine Nacht Verspätung. Tülin wohnte in einer Siedlung, an der ich mich nicht wagte den Berg weiter aufwärts zu fahren. Die Häuser klebten dort am Fels. Die extrem schmalen Minigassen waren zu steil für meinen Mut. Wie sollte man hier wenden, was war mit Gegenverkehr? Nicht mit mir. Ich suchte mir die zweite Anschrift, die der Universität raus und fuhr dorthin. Inzwischen war ich ja daran gewöhnt, dass die anderen Autofahrer sich vor allem durch Hupen die Vorfahrt erbaten. Erbaten…? Daran hatte ich mich gewöhnt. Was man so gewöhnen nennt. An die anderen Gründe meiner Verkehrsverzweiflung war ich noch nicht gewöhnt. Ich verstand es einfach nicht. Was ich nicht begriff war, woher plötzlich diese Mopeds immer wieder auftauchten. Die Mistdinger mussten von Himmel fallen. Willkommen und zahlreich wie Moskitos mischten die knatternden Zweiräder sich immer wieder zwischen meine Synapsen für Akzeptanz und Aggression. Gegen Mittag dann hatte ich einen Parkplatz erwischt, erkämpft wäre besser, und mit Tülin telefoniert. Sie wollte gleich nach der Vorlesung in das Café des Emirgan Hotels kommen. Das läge dann auf dem Heimweg. Tülin war eine der Koryphäen an der ansässigen Karaelmas Universität, Fakultät für Zahnmedizin. Ihr Englisch war besser als meines, wir hatten uns verstanden. Jetzt hatte ich noch vier Stunden Zeit. Freizeit bedeutete immer, das Gegend erkunden mein Thema war. Gegend hieß in dieser Stadt Hafen. Häfen hatten schon immer etwas von Fernwehtilgung. Auch hier wollte ich den Hafen sehen. Der war leicht zu finden, weil ausgeschildert. Ich fischte meine Decke aus dem Kofferraum und suchte mir ein Plätzchen am nordöstlichen Ende der Mole. Was galt es zu tun? Frau Plitechna griff mir an das Nervenkostüm. Weshalb ging sie mir auf den Keks? Ich entschied wie immer in Sekunden. Mein Telefonino war schon am Ohr. Unwiderruflich. Nach dem vierten Klingeln, also genau zwischen dem „Wird´s bald-Klingeln“ und dem Unhöflich-Klingeln, nahm Sie ab und sprach sofort. Wie sehr sie sich doch freue. Also morgen zum Mittag würde ihr prima passen. Sie stelle sich gern auf meinen Kalender ein. Diesem verbalen Überfall gab ich nach. Sie war so – erfreut. Ich beschrieb ihr einen Ort neben der Universität. Sie solle einfach die zweispurige Küstenstraße entlangfahren und gegenüber der Tankstelle links in Richtung Küste abbiegen. Dort sei ein Felsplateau mit einem kleinen Fischrestaurant, wo ich sie erwarten würde. Kaum, dass ich zugesagt hatte, machte ich mir schon wieder Sorgen. Unterschwellig. Ich war nie eine Entscheiderin. Abwägen, warten, das konnte ich. In der Deckung verharren gelang mir immer. Jetzt entschied ich mich erst einmal für eine Pause. Meine Decke wartete auf meinen Hintern. Ich löste mich aus meinen Gedanken und ging zur Hafenmole. Der Himmel machte mir Freude. Die Aussicht wurde nur durch die Rauchfahne eines riesigen Erzfrachters getrübt. Kinder sprangen von der Mole auf der Hafenseite ins Wasser des Beckens. Angler hielten die Köder auf der anderen Seite ins Schwarze Meer. Ich war satt, ausgeschlafen und unruhig. In Berlin gab es einen Mörder. Ich hatte plötzlich 105.820,90 Euro mehr als mir zustanden und eine Verfolgerin hier in der Türkei. Was war mein Plan? Schritt für Schritt würde mein ehemaliger Klassenleiter jetzt sagen. Prioritätenliste erstellen. Prüfen. Sinffälligkeitsgegencheck und LOS. Dieser Gegencheck hatte mir in meinem Leben einige Ehrenrunden abgenommen. Das zielstrebigere Herangehen an Herausforderungen durch diese Prüfung wird erleichtert. Es kostet Zeit, sicher. Tut man es aber nicht, vergeudet man Zeit – definitiv. Dann konnte es ja morgen losgehen. Heute Abend würde ich mit Tülin die Diskussion zu meinen Forschungen führen dürfen. Morgen dann würde ich sehen ob mein Instinkt noch was taugte. Tülin war der Ausbund von Schönheit. Bis zum unteren Ende Ihres Halses. Ab da gab es eindeutig zu viel Tülin. Eine hellwache Frau. Gepflegt, adrett und schlagfertig. Wir benahmen uns, als wenn wir uns seit Jahren kannten. Sie war dankbar dafür, endlich mal etwas über die türkische Seele, die weibliche türkische Seele sagen zu dürfen. Ich hörte zu. Mit einem wundervollen Singsang ihrer Altstimme erklärte sie mir die Erfolge der Industrie ebenso wie die Misserfolge in der Agrarwirtschaft. Sie sprach von dem neuen Selbstbewusstsein, dem plötzlich globalen Denken der Türken. Die Türkei schaffte gerade die Emanzipation von der Tradition. Tülin sprach allen Ernstes von Aufbruch. Sie berichtete begeistert über die durchweg positiven Veränderungen zwischen den Religionen. Muslime durften wieder Muslime sein. Das war nicht immer so. Und mir war das neu. Mir war neu, dass es für die Muslime erhebliche Restriktionen gegeben hatte. Der berühmte Mustafa Kemal Atatürk hatte sogar den Fez, diese kegelstumpfförmige rote Kopfbedeckung mit dem schwarzen Puschel, verboten. Beschränkungen in der Ausübung der Religionsfreiheit gegen die eigene, ehemalige Staatsreligion. Verdammt, was hatte die Menschheit sich in diesem zwanzigsten Jahrhundert alles gefallen lassen. Etliches Anderes war mir ebenfalls neu. Die Türkei sollte weniger als neun Prozent Arbeitslose haben? Kaum zu glauben, oder? Muslimische Frauen durften mit einem eigenen Selbstverständnis ihrem Glauben frönen? Keine durch Männer dominierte Religion mehr in der Türkei? Also offiziell. Widerstände der Männer gab es zwar immer noch, die aber hatten selbst die Religionshüter nicht mehr hinter sich. Die Menschen in der Türkei waren erwacht. Sei Muslim