Traurige Strände. A.B. Exner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: A.B. Exner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847665212
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eigentlichen Kork und der Trägerspanplatte an der Rückseite. Etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel

       Darin Papier.

       Ein Los. Nein, mehrere.

       Lotto? Da kannte ich nur 6 aus 49.

       Es waren Wettscheine eines Wettbüros aus dem Fritze-Bollmann-Weg in Brandenburg.

       Computerausdrucke mit einem Barcode und Zahlenreihen.

       Ein ganzer Stapel Wettscheine. Zweiundzwanzig Stück.

       In dem Feld Anzahl der Spiele war die 5 angekreuzt. Dahinter die Tipps. Zweiundzwanzig mal fünf Spiele. Der Mann hatte auf einhundertundzehn Sportereignisse gewettet. Zweiundzwanzig Wetten waren pro Monat möglich. Der Mann hatte also schon seit fünf Monaten gespielt. Worauf hatte der Kerl gewettet? Pferde? Fußball? Eishockey? War mir doch egal, sollte er doch wetten. Warum aber geheim? Hatte er gewonnen? Wenn ja, wie viel? Soviel, dass es einen Mord rechtfertigte? Wie viel Geld rechtfertigte einen Mord? War es denn Mord gewesen? Oder eventuell ein Unfall? War er der ehemalige Mitbewohner von Metin gewesen? Von wem sprach ich eigentlich? War der Kerl mit den perforierten Hoden und den Veilchen, derselbe der bei Metin gewohnt hatte? Sollte ich das rausfinden? Wie gefährlich war das? Hatte ich Angst? Wie definierte ich Angst? Diese unterschwellige Wird-schon-gut-gehen-Euphorie obsiegte. Eine gewisse Furcht spürte ich. Doch: Ohne Furcht kein Mut. Dieser Gedanke hatte etwas Interessantes in sich. Interessanter fand ich aber den Wert der Papiere, die ich in der Hand hielt. Eine U-Bahnstation weiter war der nächste Wettsalon, den ich als absolute Nichtspielerin kannte. 105.820,90 Euro. Mit einem deutlichen Wow auf den Lippen zückte ich meine Bankkarte, damit die mir immer wieder fröhlich gratulierende Dame von der Annahmestelle die Daten für die Überweisung abschreiben konnte. Ich verschwendete nicht einen Gedanken an die Rechtmäßigkeit meines Handelns. Die Tante hinter dem Tresen wollte die Scheine und die Tipps haben, befand alles für rechtens und verlangte dann nach meiner Geldkarte. Also war das Geld meins. Wenn der Hüne der Mörder Metins war, dann konnte der mit dem Geld sowieso nix anfangen. Das Geld stand mir dann mehr zu als ihm. Diese Gedanken endeten nach genau zwei Minuten. Dann wurde mir meine Geldkarte und eine Quittung gereicht. Was mich weckte und einem anderen Gedanken den Weg ebnete. Übermorgen wollte ich mich verkrümeln. Urlaub. Zwei lange Wochen. Nach mehr als einem Jahr Arbeit meine erste freie Zeit - wenn man von den Wochenenden absieht - die ich zum großen Teil mit Metin verbrachte. Äußerst selten endeten unsere Abende wie der Letzte. In unserer Kneipe „stadtgöre“ in der Bornholmer Straße. Doch unsere Freundin Heidi hatte Geburtstag. Der hatte ich am Sonntagmorgen noch ihren Schlüssel in den Briefkasten geworfen. Eigentlich wollte ich die erste Woche mit Heidi gemeinsam irgendwohin. Das würde ich jetzt nicht mehr können. Die Situation war neu. Das Geld ermöglichte mir zu tun, was ich eigentlich wollte. Nicht einen proletenhaften Erholungstrip vom Hotelpool zum Strand und dann ab an die Bar und wieder retour. Nein, jetzt war mein wissenschaftlicher Urinstinkt geweckt. Ich musste Heidi absagen. Ihr irgendeinen dienstlichen Schwindel auftischen. Jetzt wo das Geld da war, änderte ich sofort mein Verhältnis zu meinem Leben. Ich wollte jetzt erst recht an die Arbeit. Heidi wollte Urlaub. Ich war verliebt in meinen Job. Diese neue Situation der völligen finanziellen Absicherung bot mir eine Chance. Mir war wie einem Archäologen zumute, der weiß, wo die Pyramide verbuddelt ist und jetzt endlich das Geld für die neue Schippe hat. Das war der rationale Grund. Heidi wirkte geknickt, akzeptierte aber. Ich solle mich nach der ersten Woche bei ihr melden, womöglich ginge dann noch was in der zweiten Woche. Es würde nix werden, und ich würde mich in der kommenden Woche auch nicht bei ihr melden. Ich wollte nicht. Das Geld, gut und schön. Aber wenn Heidi jetzt bei mir sein würde, das war der emotionale Grund, dann wäre unser Hauptgesprächsthema unweigerlich Metin. Das würde ich nicht überleben. Meine Seele würde das nicht ertragen. Dieser vor sechszehn Jahren im Taunuswald geborene Instinkt des Versteckens erwachte mit einem Ruck. Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wusste ich, was geschehen sollte. Noch am selben Nachmittag richtete ich ein Konto ein, von dem monatlich von meinem eigentlichen Konto viertausend Euro zu überweisen waren. Ich wollte keine Karten dafür, sondern ein Passwort und eine Zahlenkombination die mich, inklusive meines Passes, bei internationalen Banken als die Eigentümerin legitimierte. Den Trick habe ich von dem reisewütigsten Menschen den ich kenne, Opa August Beyer. Opa Beyer bekam den Schlüssel für meine Wohnung und den Auftrag die Bullen zu rufen, falls der Kerl wieder kam. Meinen Kühlschrank konnte er leerfressen und die Weinreserven zunichtemachen. Einmal in der Woche lüften und Blumen gießen - das war sein Part, so war der Deal. Opa Beyer konnte mir auf mein Samsung-Handy Mails senden. Wenn was Wichtiges wäre. Dann würde ich ihn anrufen. Nach 13 Tagen sollte er den Brief in den Kasten der Universität werfen. In dem Schreiben erklärte ich Dr. Richard, dass ich um eine Auszeit bäte. Ich würde meine Studien fortsetzen wollen, jedoch nicht in Deutschland. Da meine Arbeit mit der Vorbereitung der neuen Aufgaben für die Seminargruppen sowieso in einer Sackgasse gelandet war, oder gewählter ausgedrückt, der Zenit meiner Arbeit mit der Erreichung des Doktortitels vorläufig nicht zu toppen war, klinkte ich mich jetzt mal aus. Ich war freie Mitarbeiterin und konnte machen was ich wollte. Meine Honorare würde ich noch für zwei Monate erhalten. Die Tantiemen für unsere gemeinsame Arbeit standen mir zu. Dazu existierte ein Vertrag, den er einhalten würde. Dieses Buch, das wir, Dr. Richard und ich geschrieben hatten, beschäftigte sich mit der Langzeitwirkung der Verarmung der Gesellschaft in Bezug auf die Kriminalität und das Anwachsen demagogischen und nationalen Denkens. Schwerpunkt der Studien und Basis meiner Doktorarbeit waren die Industriestaaten Mitteleuropas. Was ich bei dieser Arbeit zuallererst entdeckte, war der geistige Gefrierbrand in den Köpfen der Politiker. Mehr als zweitausend Politiker waren durch meine Studenten befragt worden. Vom ehrenamtlichen Bürgermeister über den hauptamtlichen Kommunalpolitiker bis zu einigen Berufsministern. Immer erst zu den Themen Angst, sowie positive und negative Geisteshaltung. Wenn die gewählten Volksvertreter dann weichgekocht waren, ging es an das eigentliche Thema. Interessanterweise konnte ich die Resultate beider Befragungen in meine Dissertation einarbeiten. Die Unterschiede zwischen den Extremen in Italien, Frankreich und Deutschland einerseits und dem Baltikum sowie Skandinavien andererseits waren nicht zu verstehen. Die Politiker wollten nicht begreifen, dass die Verarmung der Gesellschaft hauptsächlich von der infantilen Sorge der Staatslenker um den Erhalt der größten Unternehmen und der reichsten Firmen des Mittelstandes beeinflusst war. So etwas erörterte eine Sozialepidemiologin. So eine wie ich. Immer noch hatte ich keinen Plan, wohin die Reise gehen sollte. Nur weg. Mein Rollkoffer und meine Tasche waren schnell gepackt. Nachmittags schon lagen sie im Schließfach am Flughafen. Ab zu den Last Minute Büros. Mal sehen, was die noch so hatten. Schon die handschriftlichen Werbeschilder zeugten von der Potenzierung dessen, was die PISA-Studien aufzeigten. Ich beschloss, mich einfach von der Handschrift und den wenigsten Schreibfehlern leiten zu lassen. Ehrlich, was konnte man an Sevilla falsch schreiben? Was bei Guernsey? Auch um Zaragoza schreiben zu können, musste man nicht studiert haben. Mexiko-City war richtig geschrieben. Da war ich aber schon. Genauso wie in Moskau, Rio oder New York. Ich wollte aber in Europa bleiben, denn da konnte ich in fast allen Staaten ehemalige Studenten besuchen. So suchte ich weiter. Istanbul war in einem wunderbaren Auf-und-Ab als Wort zelebriert. In Pink. Die Frau hinter dem Tresen telefonierte, beendete aber sofort bei meinem Eintreten das Gespräch. Der zweite Pluspunkt. 790 Euro wollten die haben. Hotel Vicenza. Egal, jemand hatte bei den Sportwetten für mich gewonnen. Und dann meinem Freund den Schädel eingeschlagen. Er hatte kein Anrecht auf dieses Geld. Der hatte ein Anrecht auf einen Anwalt. Mehr nicht. Um alles zu verstehen, was die Frau dann wegen der Reise runter rasselte, brauchte ich Kontext. Mein alter Schaden, nicht verstehen und nicht sofort folgen können. Begreifen beim ersten Mal, das war mir nicht gegeben. Sie sagte mir sicherlich alles Wichtige, aber ich brauchte die simplen Informationen. Mit einem Lächeln bedeutete mir die Dame, dass sie verstünde und drehte den Bildschirm. Zwölf Bilder des Hotels überzeugten mich davon, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte. Das waren die Botschaften die ich brauchte. Gekauft. In weniger als drei Stunden würde ich in meinem Flieger sitzen. Essen konnte man überall. Was ich tat. Pizza. Doch schon optisch handelte es sich eher um ein Faksimile einer Pizza. Was mich kapitulieren und ein anderes Mahl suchen ließ. Salatbar klang gut, war auch so – ich konnte beim Zubereiten zusehen. Das Resultat war dermaßen ökologisch, davon wäre sogar mein Chef noch klüger geworden. Siebzehn Euro für einen Salat. Scheiß drauf. Das Gepäck war ich schon los. Der Zeitungsstand bot nichts, was