Traurige Strände. A.B. Exner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: A.B. Exner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847665212
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geschrieben. Über meine Doktorarbeit. Die drei Euro und vierzig Cent waren fix investiert. Titel der Story: Armut = unsozialer Sozialstaat Mein Flug war klar zum Boarding. Sollte ich hierbleiben? Dr. Richard zur Rede stellen? Nein. Sitz 42 erwartete mich. Und der Text aus dem Nachrichtenmagazin STERN. Lesend, staunend, stiefelte ich durch den Check-in Bereich bis zum Flieger, nickte der Stewardess abwesend zu und fand meinen Platz. Auf der ersten halben Seite die Erläuterung unserer Arbeit. Dann eine Seite Werbung mit einer ein Buch lesenden Frau. Eine komplette Seite Text. Dann ein kleines Foto von Dr. Richard und ein Einliegertext. Dann ein kleines Foto von mir und- in einer geänderten Schriftart – ein längerer Text über weitere vier Seiten, inklusive Statistiken. Fazit meines Dr. Richard war, dass Frau Dr. Liska Wollke eine bissige Rechercheurin sei, die sich nicht vom Ziel abbringen ließe. Hörte sich für mich nach Lob an. Ich las mich fest, fand einen Text zu dieser einen Episode, die mich gleichwohl unangenehm werden ließ, als auch ernüchterte. Ja, an diese Begebenheit erinnerte ich mich. Als ich persönlich einem Liberalen den Mindestlohn als Lösung vorschlug, wurde der sogar grantig, wollte mich vom Mikrofon trennen. Der war regelrecht handgreiflich geworden, hatte mich an den Haaren gezogen. Als der erste Journalist einige Fotos von der Situation gemacht hatte, wurde der Mann ruhiger. Zwei Wochen nach Veröffentlichung der Fotos beendete der Liberale seine politische Karriere. Natürlich nicht wegen der Fotos, die einige mediale Tsunamis ausgelöst hatten, sondern aus persönlichen, gesundheitlichen Gründen. Selbstredend brauchte der keinen Mindestlohn und kein soziales Netz, denn die Industrie wartete bereits. Der Mann war seit mehr als zehn Jahren für monatliche Saläre von siebentausend Euro Aufsichtsratsmitglied in einem Unternehmen aus der Photovoltaikbranche. Die Firma gehörte einem Belgier, der EU Ratsmitglied der Grünen war. Soviel zur Vernetzung der liberalen Politik mit der grünen Wirtschaft. Nach diesem kurzen Exkurs in den Text, entschloss ich mich den gesamten Artikel von vorn bis hinten zu lesen. Meine Sitznachbarin grinste mich an. Eine Dame Ende fünfzig, was man nach dem zweiten Hinsehen erst mitbekam. Dunkelbrauner Hosenanzug, dunkler Teint, Schmuck, bis auf eine Uhr, nicht erkennbar. Mein erster Eindruck - Geschäftsreise. Im Touristenbomber? Das Lächeln der Geschäftsdame galt definitiv mir. Die Stewardess grinste dito. Ich blätterte zurück zum Anfang. Las. Die halbe Seite an Erklärungen war sachlich richtig und fürs Volk, den proletarischen Plebs, gedacht. Hätte Dr. Richard jetzt gesagt. Aber, ich wiederhole, das nur aus Quatsch. Der Mann war nah am Volk. Der redete eben manchmal so. Der STERN-Reporter war gut. Der stellte die richtigen Fragen. Wurde sicherlich auch von meinem Mentor zu dessen und somit unseren Schlussfolgerungen gelenkt. Als ich umblätterte, lächelte meine Nachbarin schon wieder jovial wissend in mein Gesicht. Jetzt begriff ich auch weshalb. Die zweite Seite war keine Werbung mit einer Frau wie ich vermutet hatte, sondern Frau Doktor Liska Wollke. Ein Riesenfoto, ganzseitig von mir. Die Dame neben mir bemerkte meine Überraschung und giggelte in ihren Damenbart. Die Stewardess war eben auf unserer Höhe und schenkte mir schmunzelnd den Blick auf einen halben Quadratmeter gepflegtes Zahnweiß. Sie wusste es also auch. Peinlich berührt senkte ich den Blick. Und las weiter. Die Konzentration wieder zu finden, war nicht leicht. Ich fühle mich ungern beobachtet. Graue Maus ist mein Ding. Mittelpunkt nicht. Der Rest des Berichtes über meine druckfrische Doktorarbeit war ohne negative Wertung meiner Arbeit. Die Ergebnisse allerdings ein direkter Angriff auf die Brennpunkte der scheinbar ach so sozialen Marktwirtschaft. Auswüchse wie Extremismus – in welche Richtung auch immer – waren auch nach STERN-Recherchen der Beweis für die Richtigkeit meiner Forschungsresultate. Das Abgrenzen der sogenannten reichen Bevölkerungsschichten in bewachten Wohnsiedlungen wäre der kommende Schritt. Das gab es schon. In Mexiko, in Brasilien und auch, oh Wunder, in Russland. Wer konnte diese Entwicklung verkennen. Eventuell ein Rechtsanwalt, der sich zum blassesten deutschen Außenminister seit Joseph Wirth aufschwang? Der Wirth war sogar zweimal Außenminister, einmal für zwei Monate und einmal für vier Monate. Ich konnte den Typen nicht leiden. Den Neuen meine ich, nicht den von damals. Doch wer war noch so blind? Ein Augenarzt, Feind des Mindestlohns, der das Ministerium der deutschen Wirtschaft leiten wollte? Vor ein paar hundert Jahren in Venedig mussten die Verantwortlichen der einzelnen Bereiche bewiesenermaßen Vertreter dieser Kategorie der politischen Fächer sein, für die sie Verantwortung übernahmen. Dadurch sparten sich die Venezianer schon mal das, was man neudeutsch Ausschüsse nannte. Ein Bereich meiner Forschung bewies zum Beispiel, dass die Kosten für externe Ratgeber und Beratungsfirmen von den Ministerien nicht sachlich richtig veröffentlich worden waren. Zumal solcherart Berater sich meist nicht aus den Mahnern an den Zuständen der Gesellschaft rekrutierten, sondern aus den stillen Empfehlungen der Staatssekretäre. Deren Sponsoring durch die Nutznießer stellte ich lediglich in den Raum. Mir wurde warm. Ich dachte mich schon wieder in Rage. Immer wenn es mir so ging, beruhigte mich mein Mentor. Ohne Doktor Richard wäre ich bestimmt mal einem der ignoranten, dennoch gewählten Volksvertreter in die Fresse gesprungen. Was ganz bestimmt was genützt hätte. Aber meine Studien hatten andere Ziele. Doch was half alles Meckern. In den USA durften ja auch mal Erdnussfarmer und Schauspieler die höchsten Ämter bekleiden. Meine Sitznachbarin weckte mich. Der Artikel habe ihr sehr gefallen, weil da endlich mal kritisch mit einigen Punkten umgegangen werde, die das Volk an der Seele rühren. Sie selbst sei bei einer Zeitung als Assistentin der Verlagsleitung tätig. Ob sie mir ihre Karte geben dürfe, denn sie sei sehr interessiert daran, meine Gedanken in einem Artikel zu veröffentlichen. Entgeistert und begeistert zugleich griff ich zu. Allerdings möge sie sich bitte gedulden, denn ich mache jetzt erst einmal Urlaub. Das verstand die Frau. Sie selbst wolle in Istanbul eine Woche lang Recherchen betreiben. Ich musste überhaupt nicht nachfragen, sie sprach von allein weiter, es ging um die große türkische Familie in Deutschland. Zum Jahrestag des Gesetzes zur Regelung des Umganges mit Gastarbeitern in Deutschland war so ein Thema etwas für den deutschen und den türkischen Teil ihres Verlages. Migration. Thema dieser Zeit. In einer 2005 veröffentlichten Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung gebe es zum Teil fragwürdige Ansätze. Diesen wolle sie nachgehen. Auf ihrer Karte stand nur der Verlag, keine Zeitung. Das bedeutete, dass hier wirklich eine Große saß. Nicht eine Reporterin. Eine Telefonnummer, Anschriften in Hamburg , Berlin und München. Ein Name, nur der Nachname. Plitechna. Nie gehört? Egal. Ich händigte ihr einen Zettel mit meiner Mobilfunknummer aus. Verdammt, wie naiv konnte man sein. Das Hotel war das, was ich erwartet hatte. Nicht mehr und nicht weniger. Der junge Mann an der Rezeption besorgte mir ein Kopftuch und einen weiten Umhang. Netter Kerl, aber für mich zu servil und die verkehrten Ohren. Istanbul harrte meiner. Dreizehn Millionen Einwohner – nur für meine Studien. Dreizehn Millionen und alle nur für mich. Meine Liebe war und ist mein Beruf. So war es schon im Studium. Damals sah ich die freie Zeit nur als dann sinnvoll genutzt an, wenn ich täglich für meine Arbeit dazulernte. Sah ich das heute eigentlich anders? Ich könnte es nicht beantworten. Istanbul ist älter als 2.600 Jahre. Schon die Griechen und Römer hinterließen hier Spuren. Die Faszination der Historie hatte mich gefangen. Zuerst wollte ich eine Nachricht bei Hatice hinterlassen. Da meine Reise einem spontanen Entschluss entsprang, hatte ich keine Zeit Hatice vor meiner Abreise zu informieren. Nur wenige Minuten von meinem Hotel entfernt lag die Istanbul Üniversitesi. Das junge Mädel hatte bei mir studiert. Hatice war nach einem Jahr die Leiterin der Seminargruppe geworden und meine Assistentin. Sie heiratete mit sechsundzwanzig in Berlin einen Deutschen. Das war kein Problem für die Familie. Aber nach etwa zwei Jahren veränderte sich die finanzielle Situation ihrer bis dahin wohl situierten Angehörigen in der Heimat. Bei einem Unfall verstarben der älteste Sohn und der Vater. Die beiden Haupternährer. Hatice musste sofort nach Beendigung des Studiums zurück nach Istanbul. Ihre Bestnoten in Berlin brachten ihr einen wohldotierten Job in Istanbul. Ihr Mann lebte nicht einmal wirklich getrennt von ihr. Er hatte seine Aufgaben in Deutschland und besuchte Hatice so oft er konnte. Von Ehe oder Treue allerdings sprachen beide nicht mehr. Ob da noch Liebe war? Immerhin hatten sie ihre Situation akzeptiert und sich gefügt. Sie blieben in Kontakt wie gute Freunde. Ich hinterließ beim Portier eine Nachricht an Hatice und stürzte mich unter das Volk. Innerhalb einer halben Stunde, wusste ich nicht mehr wo ich war. Ein einmaliges Gefühl. Das ist und war meine Art Urlaub zu machen. Ich suche mir eine Stadt raus, fliege hin und laufe. Wenn ich müde bin, rufe ich mir ein Taxi, lasse mich zum Hotel kutschieren und schlafe. Ich gehe in Tavernen, Kneipen, Imbissbuden, Restaurants, Bars, Destillen, Kaschemmen – wohin die Menschen gehen, die in dieser Stadt wohnen. Touristenfallen vermeide ich tunlichst. Ich beobachte, resümiere. Nur in Rio und in Mexiko City war mir dabei unwohl. Naja, und in Moskau.