„Der Vater fehlt uns noch“, fasste Joe weiter zusammen. „Er lebt in München, offenbar ist ihm seine Frau zu sehr auf die Nerven gegangen mit diesem Dauerbeleidigtsein. Hat schon jemand die Adresse?“
Ben meldete sich zaghaft. „Ein Victor Rottenbucher lebt in der Maxvorstadt, Theresienstraße 46. Und ein Adalbert Rottenbucher in Untersendling, Daiserstraße 12.“
Katrin zog ihre Notizen zu Rate. „Victor ist der Richtige. Wohnt an der Uni und arbeitet in der Staatsbibliothek.“
Joe nickte. „Vielleicht hatte die Tochter ihre Neigung zur mittelalterlichen Geschichte daher… Googelt bitte mal jemand den Vater, was er für einen Abschluss hat?“
Ben stürzte sich auf seinen Rechner, Liz entschloss sich, lieber neuen Kaffee zu kochen.
Katrin übernahm die weitere Berichterstattung: „In der Bibliothek befand sich zu der Zeit, als Becky Rottenbucher tot aufgefunden wurde, nur der Aufsichtführende, Ferdinand Hambacher, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts. Er hat die Bibliothek um Viertel nach zehn aufgeschlossen, seiner Aussage zufolge warteten auch keine Studierenden vor der Tür. Vielleicht kein Wunder in den Semesterferien. Drinnen war es sehr warm, weil die Sonne schon durch die Fenster der Ostseite knallte, also ist er durch den Saal gegangen, um die Westfenster aufzumachen und danach die anderen, damit es Durchzug gibt. Und vor einem der Ostfenster lag die Leiche, mit einer Kopfverletzung am oberen Hinterkopf, Dr. Engelhorn zufolge. Der endgültige Obduktionsbericht kommt morgen. Die Leiche lag in leicht gekrümmter Haltung auf der Seite, so, als sei sie dort genauso hingefallen.“
„Die Kopfverletzung kann nicht vom Sturz kommen?“, meldete Ben sich schüchtern zu Wort.
„Hutkrempenregel, Ben!“, mahnte Liz.
„Ach so, ja. Stimmt, wenn die Verletzung so weit oben ist… übrigens, der Vater ist promovierter Bibliothekar. Und die Mutter war vor ihrer Ehe Abteilungsleiterin beim Damberger am Markt.“
„Hm, Einzelhandel. Scheißarbeitszeiten und mäßiges Gehalt. Dahin würde ich mich wohl auch nicht zurücksehnen“, sinnierte Katrin.
„Aber wenn alle Mädels aus dem Haus sind, muss dann der Mann überhaupt noch Unterhalt zahlen?“, fragte Liz nach einem Moment des Nachdenkens.
„Sie hat das Arbeiten eingestellt, kurz bevor die Älteste geboren wurde, das ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her“, steuerte Ben bei. „Ob sie da überhaupt noch eine Stelle bekäme?“
Joe hob die Hand, da beide Frauen schon den Mund geöffnet hatten. „Nein, bitte, über die Wiedereinstellungschancen von Frau Rottenbucher diskutieren wir jetzt genauso wenig wie über die Frage, ob Frauen im Berufsleben benachteiligt werden. Das führt uns im Moment nicht weiter.“
„Woher wusstest du, dass wir darüber reden wollten?“, fragte Liz.
„Na, ich kenne euch doch schon eine Zeitlang! Halten wir fest, dass Mutter Rottenbucher vielleicht Existenzängste hat. Deshalb hat sie aber noch lange nicht ihre eigene Tochter erschlagen, nur weil sie nicht in ihr Weltbild passte.“
„Hätte ihr ja auch nichts genützt, oder?“, warf Ben ein.
„Ganz genau. Ich sehe nach den bisherigen Fakten aber ein ganz anderes Problem, das uns wiederum in eine ganz andere Richtung bewegen könnte. Hat jemand eine Idee?“
Alle drei starrten auf das Whiteboard, wo eine Kurzfassung der Infos von Joe und Katrin stand.
Liz war am schnellsten. „Als dieser Hambacher gekommen ist, war die Leiche schon da? Wie sollte das denn angehen?“
„Genau“, nickte Joe. „Welche Möglichkeiten könnte es dafür geben?“
„Sie war schon vor ihm da“, vermutete Ben.
„Und wie ist sie reingekommen? Wir haben nicht gehört, dass sie einen Job dort hat und damit einen Bibliotheksschlüssel“, widersprach Liz sofort.
„Dann müsste sie jemand reingelassen haben, der einen Schlüssel hat“, überlegte Katrin weiter. „Das heißt aber, dass wir die Familie und den Freund eigentlich ausschließen können. Keiner von denen studiert Geschichte, oder?“
„Wer hat alles einen Schlüssel?“, fragte Joe.
„Dieser Institutschef, Mahlmann oder so.“
„Alle Aufsichten, der Hambacher, diese Frau, wie heißt die – Eberbach?“
„Eversbach mit V. Da gibt es aber sicher noch mehr. Die könnten wir fragen, die war nicht so mitgenommen wie der Hambacher. Wer will das übernehmen? Ben? Und Katrin?“
Beide nickten.
„Was ist mit Profs und Dozenten? Wenn da einer mal ein Buch braucht, will er doch sicher nicht warten, bis die Bibliothek aufmacht?“
„Wenn das Institut gescheit ist, ist es mit Schlüsseln nicht zu großzügig. Die Eversbach hat doch gesagt, dass in der Bibliothek geklaut wird“, erinnerte Joe sich.
„In jeder Bibliothek wird geklaut, obwohl man keine Taschen mit reinnehmen darf“, wandte Katrin ein.
„Ja, das weiß ich auch, aber ich glaube, es ging dabei um mehr. Ben und Katrin, fragt da mal nach Einzelheiten!“
„Soll ich mir den Hambacher mal vornehmen?“, bot Liz an. „Ich bin auch ganz sanft, wenn er so ein Seelchen ist.“
Joe nickte. „Dann werde ich mal diesen Institutschef auftreiben. Die Eversbach hat ihn doch angeblich schon auf die Sache hingewiesen und er hat ihrer Aussage nach nichts unternommen.“
IX
Immerhin hatte sie einen ganzen Aspekt (bestimmt zwei Druckseiten!) geschafft und alles mit dem vorhandenen Material schlüssig belegen können. Elli lehnte sich zufrieden zurück und stellte fest, dass es in ihrer Wohnung ganz schön stickig war. Und Hunger hatte sie auch!
Sie wanderte herum und öffnete das Schlafzimmerfenster und die Balkontür im Wohnzimmer so weit wie möglich, worauf es prompt zu ziehen begann wie Hechtsuppe.
Wieso eigentlich Hechtsuppe? Das würde sie nachher einmal recherchieren, aber jetzt hatte sie Lust auf ein anständiges Käsebrot!
Körnerbrot, Gouda und eine Tomate in Scheiben, damit kehrte sie zufrieden an ihren Rechner zurück.
Na ja – das Übliche: Entweder aus dem Rotwelsch oder einfach, weil man Fischsuppen lange ziehen lassen musste. Danke, Wikipedia!
Sie kaute gemächlich und ärgerte sich, als es an der Tür läutete, bevor sie fertig war. Wer störte denn jetzt?
Die Polizei, das hätte sie sich ja denken können! Ein junges Pärchen statt des etwas gestandeneren Kommissars aus der Bibliothek – nun, warum nicht? Sie ging in ihr Wohnzimmer voraus und bot den beiden das Sofa an; sie selbst setzte sich auf den Schreibtischsessel und versuchte, ihrem angebissenen Käsebrot keinen allzu sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen.
„Was kann ich denn für Sie tun?“
Die Frau, die sich als Katrin Kramer vorgestellt hatte, zog ein Tablet aus der Tasche, weckte es auf und sah Elli aufmerksam an. „Wann öffnet denn die Bibliothek in den Ferien?“
„Im Allgemeinen um zehn.“ Elli lächelte. „Der Andrang ist ohnehin bescheiden, ich glaube, zurzeit kommen immer nur die gleichen Leute.“
„Und wer wäre das?“
„Wolfgang Teubner, einer unserer Assistenten, der an seiner Habilitation arbeitet. Frank Wülfert, ein Privatdozent bei den Germanisten, der dort sehr unbeliebt ist und deshalb lieber bei uns arbeitet.“