„Mei, der Arme!“, rief Bille aus, die wieder neugierig in der Tür lehnte. „Der wird sowas von fertig sein, die beiden waren doch so glücklich miteinander. Ich glaube, sie wollten sogar heiraten… also, nicht jetzt gleich, der muss ja auch erst noch fertigstudieren.“
„Das ist Markus Sonnleitner, nicht wahr?“
„Sie haben sich ja schon schnell informiert“, staunte Bille.
„War Becky in letzter Zeit irgendwie anders als sonst?“, fragte Katrin. „Aufgeregt, nervös, ängstlich?“
Joe, der zuerst billigend genickt hatte, schüttelte nun den Kopf: Warum engte sie das Feld so ein? Konnte Becky nicht auch besonders glänzender Laune gewesen sein?
„Ja, oder vielleicht glücklicher als sonst?“ Katrin schien seine unausgesprochene Kritik gespürt zu haben.
„Nein“, antwortete Bille nachdenklich, „nichts davon. Bestenfalls war sie ein bisschen gereizt, weil ihre Mutter so genervt hat. Eine SMS nach der anderen…“
„Verständlich. Ach ja, und sollte Ihre Mitbewohnerin – Tanja? – heimkommen, soll sie uns anrufen, damit wir einen Termin im Präsidium ausmachen können.“ Joe reichte ihr seine Karte.
„Da fragt man sich doch wirklich“, murrte Katrin, als sie unten wieder ins Auto stiegen. „Wer kann nur dieses Mädchen getötet haben – und aus welchem Grund? Die war doch sowas von harmlos!“
Joe ließ den Motor an. „Vielleicht war diese Harmlosigkeit nur Fassade? Ich finde, Rebecca Rottenbucher ist praktisch zu gut, um echt zu sein.“
„Du meinst, sie führte ein Doppelleben?“ Diese Idee gefiel Katrin, die gelegentlich durchaus romantische Anwandlungen hatte.
„Hm, naja, vielleicht nicht ganz so. Aber sie muss irgendein Geheimnis gehabt haben.“
„Vielleicht war sie auch nur zur falschen Zeit am falschen Ort?“, gab Katrin zu bedenken. „Hast du nicht erwähnt, dass diese Bibliothekstante von Diebstählen gesprochen hat? Was, wenn sie wirklich einfach nur den Dieb überrascht hat?“
Joe schien mit dieser Theorie immer noch nicht ganz glücklich zu sein, jedenfalls brummelte er vor sich hin.
„Dann wäre es vielleicht nur Raub in Tateinheit mit Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge“, spekulierte Katrin weiter. „Weniger spektakulär auf jeden Fall.“
„Ich glaub´s nicht“, knurrte Joe. „Wo wohnt der Sonnleitner gleich wieder?“
„Leiching. In der… Moment… Puellstraße. Das muss in der Nähe vom Zollhausplatz sein.“
„Den kenne ich, danke.“
„Scharfe Hütte“, kommentierte Katrin zehn Minuten später, als sie vor der breit angelegten Villa aus den zwanziger Jahren standen. „Arm sind die nicht, was?“
„Logistik geht immer gut, wenn man bedenkt, dass alle Welt im Netz einkauft und sich dann alles liefern lässt. Du auch, was?“
„Was soll ich machen? Wenn ich schon mal frei habe, schaffe ich es gerade mal zum Zeitungsladen um die Ecke, um meine Lieferungen abzuholen. Und stell dir vor, jeder gurkt in die Altstadt zum Einkaufen – was für ein Dreck in der Luft! Ein paar Lieferwagen sind da allemal besser.“
„Ist ja gut!“ Joe läutete und hielt den Polizeiausweis vor die Kamera, die sich suchend zu ihm gedreht hatte. Die Antwort bestand darin, dass auch das Gartentor surrte und sich langsam öffnete.
„Keine Rückfragen? Seltsam“, fand Joe. „Solche Leute sind doch im Allgemeinen etwas vorsichtiger?“
Das Rätsel klärte sich auf, als sie sich der schweren Haustür näherten, denn in dieser Tür stand ein ausgesprochen hübscher junger Mann, Neugierde in den blauen Augen.
„Herr Sonnleitner? Markus Sonnleitner?“
Joe und Katrin zeigten noch einmal ihre Ausweise vor.
„Ja, ich habe schon im Video gesehen, dass Sie von der Polizei sind. Worum geht es denn?“
„Wenn wir hereinkommen dürften?“, fragte Katrin.
„Aber bitte!“
Sie wurden in ein gewaltiges Wohnzimmer mit Blick in einen gepflegten Garten und tatsächlich einem Kamin geführt und auf schwarze Ledersofas genötigt.
Katrin stellte durch unauffälliges Suchen in ihrer Tasche fest, dass sie noch genügend Taschentücher bei sich hatte, und nickte beruhigt.
„Sie sind mit Rebecca Rottenbucher befreundet?“, fragte Joe.
Markus Sonnleitner lachte. „Sie wollen mir jetzt aber nicht erzählen, dass Becky etwas angestellt hat? Das würde ich Ihnen nämlich nicht abkaufen. Becky ist die liebste und harmloseste und – ja – korrekteste Frau, die man sich nur vorstellen kann!“
„Es wäre schön, wenn wir nur so etwas zu melden hätten“, ermannte sich Joe. „Herr Sonnleitner, es tut uns wirklich sehr, sehr leid, aber wir haben Rebecca Rottenbucher heute Vormittag tot aufgefunden.“
Sonnleitner schwieg einen Moment, dann fragte er: „W-was?“ und kippte einfach um, glücklicherweise nur auf dem Sofa, auf dem er saß.
„Armer Kerl“, murmelte Katrin und schoss schnell ein Foto von ihm, während Joe ihm die Wangen tätschelte, bis er wieder zu sich kam.
„H-haben Sie eben wirklich gesagt, Becky ist tot?“
Als beide kummervoll nickten, begann er leise zu weinen und Katrin zog schnell die Taschentücher heraus, die er auch dringend brauchte. Sie ließen ihn erst einmal weinen, aber bevor sie sich erkundigen konnten, ob er vielleicht wenigstens einige wichtige Fragen beantworten konnte, hörten sie das Geräusch eines Schlüssels und ein Paar in mittleren Jahren trat ein und blieb wie erstarrt stehen, als es durch die offene Flügeltür des Wohnzimmers die etwas befremdliche Runde sah.
Dann trat die Dame eilig vor. „Wer sind Sie und was machen Sie in unserem Haus? Haben Sie etwa unseren Jungen zum Weinen gebracht?“
Sie fiel auf das vierte Sofa und funkelte Joe und Katrin kriegerisch an. Beide zückten wieder einmal ihre Kripo-Ausweise. „Wir mussten Herrn Sonnleitner leider davon in Kenntnis setzen, dass Frau Rottenbucher heute tot aufgefunden wurde“, erklärte Joe dann und wunderte sich selbst über seine geschraubte Sprache. Auf die Tigermutter schien der Satz aber besänftigend zu wirken, jedenfalls fragte sie in erstaunlich normalem Tonfall: „Becky? Becky soll tot sein? Aber – das kann doch gar nicht sein?“
„Leider ist es doch so. Wir hätten Ihren Sohn gerne dazu befragt, weil wir noch so gut wie keine Fakten haben, aber vielleicht können Sie uns auch weiter helfen. Dann müssten wir Ihren Sohn in seiner Trauer heute noch nicht behelligen…“
Frau Sonnleitner blinzelte und überdachte dies, aber nun griff ihr Mann ein, der genauso aussah, fand Katrin, wie man sich einen CEO vorstellte: „Wenn ich das vielleicht übernehmen dürfte?“
„Natürlich, Herr Sonnleitner. Sie kannten Rebecca Rottenbucher?“
„Aber ja! Die beiden waren zwar meistens bei ihr in diesem WG-Zimmer, aber ab und an trafen sie sich auch hier. Markus hat hier ja schließlich eine großzügige Suite.“ Dies wurde mit einer weit ausholenden Handbewegung illustriert.
„Und die beiden haben sich auch immer gut verstanden?“
„Aber natürlich. Becky war ja auch ein wirklich nettes Mädchen. Markus und sie haben sich sehr geliebt.“
Ein lauteres Schluchzen aus der gegenüberliegenden Sofaecke zeigte, dass Markus durchaus zugehört