Rebecca seufzte. „Vereinbare einen Termin.“
„Das würde ich, aber es scheint um etwas Privatem zu gehen.“
Warum war Natascha überhaupt noch hier? Sie hatte schon längst Feierabend. Widerwillig erhob sich Rebecca und ging in das Vorzimmer.
Ein Mann, dessen sehr eigenwillige Erscheinung Rebecca wohl niemals vergessen würde, stand am Empfang. Er musste ihr Eintreten trotz des dicken Teppichs gehört haben, denn er wandte sich ihr sofort zu. „Dr. Rebecca Brandt?“ Der Mann war klein. Um in sein Gesicht zu blicken, musste Rebecca herabschauen. Sein Gesicht war mit Falten überzogen. Sie registrierte seinen buschigen, weißen Schnurbart, die wuchernden Augenbrauen in der gleichen Farbe und die wild abstehenden, weißen Haare.
„Ja, wie kann ich Ihnen helfen?“
Der Mann stieß tief Luft aus. „Können wir uns einen Augenblick unter vier Augen unterhalten?“
„Ich bin schon weg,“ meinte Natascha und verschwand in der kleinen Küche, die sich hinter der Wand verbarg.
„Mein Name ist Albert Stein. Es obliegt meiner Aufgabe, Ihnen Ihr Erbe zu übermitteln.“ Sein Blick war fest auf Rebecca gerichtet.
„Was?“ Sie war verwirrt. Wovon sprach dieser eigenartige Mann?
Er schloss kurz seine Augen. Dann öffnete er sie schwerfällig wieder. „Dr. Brandt, Sie haben ein Haus geerbt. Steinweg 12.“
Er reichte ihr ein Kuvert. „Das entsprechende Dokument und den Schlüssel entnehmen Sie bitte diesem Umschlag. Ich muss Sie jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass das Haus weder vermietet noch verkauft werden kann.“
In einem Reflex nahm Rebecca das Kuvert entgegen.
„Ich wünsche Ihnen viel Glück, Dr. Brandt“, teilte er ihr noch mit, bevor er schlurfend davon schritt.
Rebecca sah zu Natascha, deren Kopf hinter der Wand hervorlugte und sie überrascht anschaute. Dann glitt ihr Blick wieder zu dem Umschlag in ihrer Hand.
5.Kapitel
Veronika Lohbach stand am Fenster ihres Büros und blickte hinaus auf das Firmengelände. Sie beobachtete das geschäftige Treiben. Nur wenige Leute waren draußen unterwegs und wegen des kalten Regens hatten sie es eilig wieder in eines der Gebäude zu kommen, um dem Regen und der Kälte zu entfliehen. Veronika mochte das Wetter. Auch nach Jahren konnte sie dem Sommer nichts abgewinnen. Sie bevorzugte die kalte, ungemütliche Jahreszeit. Für ihren Geschmack lag ihr Büro nicht hoch genug. Die 2. Etage bot ihr nicht genügend Überblick. Das war etwas, was sie im Rahmen des Firmenausbaus ändern wollte. Sie brauchte ein höher gelegenes Büro und das würde sie auch bekommen.
Wieder huschte ein Mitarbeiter über den Hof. Heute Morgen hatte sie einige Unmutsbekundungen bezüglich des Wetters mithören müssen. Sehr zu ihrem eigenen Missfallen. Man konnte den Gesprächen der Mitarbeiter zwar aus dem Weg gehen, aber ihnen nie gänzlich entkommen. Jedenfalls nicht, so lange sie ihre Zungen hatten. Es war ihr ein Rätsel, warum die Menschen immer nur am Jammern waren und ständig nach mehr verlangten. Sie konnten nie glücklich sein, mit dem was sie hatten. Es musste immer mehr sein. Dabei war ihre Lebenszeit sehr überschaubar. Jeder einzelne von ihnen war nicht mehr als ein Wimpernschlag in einer unendlichen Geschichte. Trotzdem wollten sie stetig Dinge anhäufen, deren Nutzen nicht von langer Dauer war. Natürlich hatte auch sie selbst Ziele. Im Gegensatz zu denen da draußen hatte Veronika sehr viel verloren.
Hinter ihr öffnete sich die Tür. Auch ohne nachzusehen, wusste sie wer gerade ihr Büro betrat. Auf ihre Sinne war weiterhin Verlass, auch wenn sie manchmal befürchtete, sie würden allmählich verkümmern. „Hallo Lena.“
„Störe ich dich?“
Veronika kehrte dem Fenster ihren Rücken zu und schenkte der Abteilungsleiterin der Buchhaltung ihre volle Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu ihr war Lena geradezu winzig. Allerdings gab es auch nicht viele Frauen hier, die eine Körpergröße von 1,86 Meter erreichten. Heute standen Lena ihre naturkrausen Haare wieder besonders wirr vom Kopf. Ganz gleich was Lena auch versuchte oder wie kurz sie ihre Frisur auch hielt, gegen ihre krausen Haare konnte sie nicht gewinnen. Das hatte Veronika in den vergangenen Monaten, die ihre Beziehung nun schon andauerte, gelernt.
„Hast du schon von Thomas Geistesblitz erfahren?“ fragte Lena und schob ihre herunterrutschende Brille wieder auf die richtige Position.
„Wenn dieser Geistesblitz dich jetzt zu mir führt, kann es nur wieder irgendein dämlicher Mist sein“, stellte Veronika fest.
„Er bezahlt eine Beerdigung“, brachte Lena es gleich auf den Punkt.
Veronika sah sie erstaunt an. „Er bezahlt eine Beerdigung? Warum?“
„Manfred Groß wurde gestern Abend erschossen“, meinte Lena, als würde das irgendetwas erklären.
„Was soll mir das sagen?“ erkundigte sich Veronika irritiert.
„Manfred Groß war einer unserer Leute. Er wurde gestern erschossen, als er seiner Zweitbeschäftigung nachging“, erklärte Lena ihr nun.
Veronika verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn der Mann zwei Beschäftigungen nachging, warum muss Thomas die Beerdigung bezahlen? Wie kann man selbst nach dem Tod noch derart gierig sein?“
Lena zog die Nase kraus. Das tat sie immer, wenn sie Veronikas Gedankengang nicht ganz folgen konnte. Und das passierte häufig, dessen war sich Veronika durchaus bewusst.
„Der Mann brauchte das Geld für seine kranke Frau. Weißt du noch, diese ständigen Diskussionen um Gehaltserhöhungen oder Tarifverträge? Die Gehaltspolitik der Lohbach GmbH ist nicht ganz optimal“, erklärte Lena ihr und schien dabei zu schrumpfen. Es schien fast, als hätte Lena Angst vor ihr.
„Also zahlt Thomas die Beerdigung, damit alle sehen, was für ein großzügiger Arbeitgeber er ist“, stellte Veronika fest. „Das ist nicht auf seinem Mist gewachsen.“
„Nein. Eric Richter hat ihn wohl davon überzeugt.“
Veronika lehnte sich gegen die Fensterbank. „Glaubt er wirklich das reicht, um aus den negativen Schlagzeilen herauszukommen?“
Lena zuckte mit den Schultern.
Veronika wusste, dass es nicht reichen würde. Die Presse war unnachgiebig, lauerte förmlich auf Fehler, die sie umgehend anprangern konnte. Das Thema Löhne und Gehälter wird sie sehr bald wieder im Nacken haben. Vielleicht nicht heute und vielleicht auch noch nicht morgen, aber spätestens nach der Beerdigung. Dann kommt dieses leidvolle Thema wieder auf und die Kritik an ihrer Gehaltspolitik. Das letzte Mal war noch nicht sehr lange her. Sie konnte nicht sagen, wie oft sie sich den Spruch anhören musste: ‚Wie kann man das Geld für einen großen Ausbau haben, aber nichts für die Angestellten?‘ Darauf hatte sie keine Lust. Sie mochte es nicht, sich erklären zu müssen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ihr kam eine Idee. Sie lächelte wohlgefällig. „Lena, schick mir den Betriebsratsvorsitzenden umgehend vorbei.“
Julia wartete geduldig, bis Rebecca am Straßenrand geparkt hatte, bevor sie aus ihrem Wagen stieg. Sie war sehr überrascht gewesen, als Rebecca vorhin anrief und die Geschichte von dem Hauserbe berichtete. Natürlich war Julia sofort bereit gewesen, sich das Erbe gemeinsam mit Rebecca anzuschauen. Und nun stand sie hier und starrte auf ein rostiges Gartentor, das nur noch von der oberen Angel gehalten wurde. Der Vorgarten, in den das Tor führte, war nicht minder eindrucksvoll oder bedauernswert, je nachdem wie man es sehen mochte. Zwei riesige Trauerweiden flankierten den Weg zum Haus. Obwohl es bereits Spätherbst war, wucherte Unkraut zwischen vermutlich einst gepflegten Pflanzen. Ein Dickicht aus vereinzelten, farbigen Blättern, dornigen Ästen und vertrocknetem, hüfthohen Gras. Selbst vor den Steinen, die den Weg zum Haus bildeten, hatte die Natur nicht haltgemacht. Aus sämtlichen Ritzen spross es grün und braun. Das Haus selbst war aus grauen Steinen erbaut worden, die nie verputzt worden waren. Die Ziegel auf dem Dach