Die Tugend von Tokyo. Götz T. Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Götz T. Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844227055
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reichte. "Ich bin Mura Nobuhide, Personalleiter dieses Bankhauses."

       "Angenehm", gab Toritaka zurück, zog seine eigene Visitenkarte hervor und nahm die fremde in dem Moment, in dem er seine eigene überreichte. "Mein Name ist Toritaka Shingo, Inspektor vom Dezernat für Öffentliche Sicherheit der Metropolitan Police." Er besah die Visitenkarte des Personalchefs. "Ist das hier handgeschöpftes Papier? Es sieht nach ausgezeichneter Qualität aus."

       Mura nickte. "Es ist handgeschöpft, aber nichts besonderes - die Visitenkarten von allen hier in der Bank werden in billiger Massenproduktion hergestellt." Er besah die Karte des Inspektors, die selbstverständlich nur aus einfacher dünner Pappe bestand. "Ist das hier ihre Bürotelefonnummer?" wollte er wissen.

       Auch Toritaka nickte. "Ja, aber sie wird tagsüber auf meinen Funk umgeleitet", erklärte er. "Ich bin dort auch zu erreichen, wenn ich nicht im Dezernat bin." Damit war der Etikette Genüge getan - es war üblich, nach der gegenseitigen Vorstellung noch belanglose Fragen über die Visitenkarten auszutauschen, ein Überbleibsel aus den Tagen, als Männer von Stand noch persönliche Banner hatten und es höflich war, sein Interesse am Gegenüber zu zeigen, indem man nach der Symbolik des Banners fragte. "Können wir uns privat unterhalten?"

       "Sicher, sicher." Mura verneigte sich nochmals leicht. "Gehen wir in mein Büro."

       "Ausgezeichnet." Der Inspektor folgte dem Personalleiter, und der führte ihn zu einem Zimmer, das gegenüber dem Großraumbüro leicht erhöht lag und von dem aus man durch ein Fenster auf die Angestellten herabsehen konnte. Passend für einen Mann in seiner Position.

       Mura bot dem Inspektor einen Sessel an und setzte sich selbst, sobald dieser Platz genommen hatte. "Was kann ich denn nun für sie tun?" wollte er wissen.

       Mit etwas Mühe versuchte Toritaka sich im reichlich plüschigen Sessel aufrecht zu halten. "Es geht um einen Mitarbeiter ihrer Bank, Masakiri Satoshi", erklärte er. "Sagt ihnen der Name etwas?"

       "Masakiri? Aber sicher doch." Mura öffnete ein wenig seine Armhaltung. "Er gehört zu unseren Vertrauensleuten - die Kundenberater, denen wir beim Aushandeln der Fondsverträge größtenteils freie Hand lassen. Soll ich ihn rufen lassen?"

       "Das wird weder nötig noch möglich sein", gab der Inspektor zurück. "Masakiri-san ist tot."

       Die Augen des Personalleiters weiteten sich in Überraschung, sehr wahrscheinlich echter Überraschung. "Tot?" stieß er hervor. "Meine Güte... wie konnte das passieren? Ein Unfall, nehme ich an?"

       Toritaka lehnte sich leicht zurück und legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander. "Es wäre gelogen", erklärte er, "wenn ich behaupten würde, wir hätten vollständige Klarheit. Es zeichnet sich natürlich ein bestimmtes Bild ab, aber um das zu bestätigen, brauche ich Informationen über Masakiri-sans Person. Darum bin ich hier."

       "Ich verstehe", nickte Mura, etwas gefasster als eben. "Was wollen sie wissen?"

       "Zunächst einmal interessiert mich", sagte der Inspektor, "was sie mir über seine Lebensumstände erzählen können. War er ausgesprochen reich, oder hatte er ihres Wissens nach höhere Schulden? Wie sah es denn mit seiner Karriere aus?"

       Der Personalleiter überlegte einen Moment. "Ich kann doch davon ausgehen", sagte er, "dass im offiziellen Bericht über den Tod keine Interna dieses Bankhauses auftauchen werden, oder?"

       Ruhig nickte Toritaka. "Nur unmittelbar mit dem Todesfall in Verbindung stehende Details werden erwähnt", erklärte er. "Wenn ihr Bankhaus nicht der unmittelbare Grund für den Tod war, wird es nicht im Bericht stehen. Aber einmal rein theoretisch, wenn jemand getötet worden wäre, weil er kurz davor stand, illegale Machenschaften an seinem Arbeitsplatz an die Öffentlichkeit zu bringen, dann würde so etwas natürlich auftauchen..."

       "So etwas wäre bei uns natürlich undenkbar", beeilte sich Mura zu sagen, "zumal Masakiri kaum ein Interesse an Problemen für die Yoshioka-Bank haben konnte. Er hat seinen Lebensunterhalt damit verdient, indem er mit unserem guten Ruf Fondsverträge abschloss. Gab es schlechte Nachrichten über die Yoshioka-Bank, schmälerte das direkt seinen Verdienst."

       "Und wie schmal war sein Verdienst in letzter Zeit?" Toritaka konnte sich nicht verkneifen, den Finger ein wenig in die Wunde zu legen - im Moment machte keine Bank wirklich gute Geschäfte.

       Die Stichelei kam offensichtlich an; der Personalchef versank noch ein Stück tiefer in seinem Sessel. "Ich habe natürlich keine genauen Zahlen", sagte er leicht errötend, "aber es ist kein Geheimnis, dass wir im Moment... schwierige Zeiten durchmachen. Wenn ich mich recht erinnere, haben in den letzten drei Monaten vier oder fünf von Masakiris Kunden ihre Fonds bei uns aufgelöst - ich hatte vor zwei Wochen ein Gespräch mit ihm deswegen. Er hat mir versprochen, bald neue Kunden zu gewinnen. Soweit ich weiß, hatte er einen Insidertipp aus den Vereinigten Staaten an der Hand und hoffte auf überzeugende Kaufargumente für unseren Pharma-Mischfonds."

       Interessiert beugte sich der Inspektor näher heran. "Und hat er die neuen Kunden bringen können?" wollte er wissen.

       "Oh ja", nickte Mura, "sogar gleich acht."

       "Acht?!" Erstaunt blinzelte Toritaka. "Ich dachte, die Zeiten wären so schwierig?"

       Der Personalleiter seufzte. "Das lag daran, dass er sehr großzügige Ausstiegsklauseln vereinbart hatte. Er hatte seine eigene Provision als Sicherheit für Verluste innerhalb des ersten Monats hinterlegt und dafür eben für diesen ersten Monat quasi 'auf Probe' die Fonds vermittelt. Verstehen sie... wenn unsere Anleger nach einem Monat sehen, dass der Fond nicht Rendite nach ihren Erwartungen abwirft, können sie bei diesen Verträgen ohne weiteres ihr Kapital zurückziehen."

       Nachdenklich sah der Inspektor vor sich hin. "Und wie wahrscheinlich ist es", wollte er wissen, "dass das geschieht?"

       "Leider sehr wahrscheinlich", sagte Mura. "Unser Pharma-Mischfonds ist ein Underperformer. Und wenn der Dow Jones noch weiter so abstürzt, wie er das gestern getan hat, dann wird er sogar Verluste machen. Die jüngsten Gerichtsentscheidungen zu Generika-Medikamenten in den USA verunsichern die Anleger, und es kommen zu wenig Innovationsimpulse von den Wirtschaftsgrößen. Nicht mal mehr Bayer macht von sich reden, und die Deutschen waren früher immer für angenehme Überraschungen gut."

       "Der Dow Jones ist also gestern abgestürzt?" fragte Toritaka noch einmal nach. "Nur dass ich das richtig verstanden habe."

       Der Personalchef nickte. "Der tiefste Sturz seit einem Monat, und das am Wochenanfang", bestätigte er.

       Langsam erhob sich Toritaka aus dem Sessel. "Damit ist er nicht alleine", sagte er. "Auch Masakiri-san ist tief gestürzt... vom Dach eines Parkhauses in den Innenhof."

       "Gestürzt?" Auch Mura stand auf. "Sie meinen... gefallen? Oder gesprungen? Selbstmord?"

       "Sehr wahrscheinlich letzteres", sagte der Inspektor, "nach allem, was sie mir eben erzählt haben, hatte er einen guten Grund. Beruflicher Misserfolg ist eins der häufigsten Motive für solche Entscheidungen."

       Darüber schien der Personalchef einen Moment nachzudenken. "Das ist seltsam", sagte er dann. "Masakiri schien eigentlich nicht der Typ für einen Suizid. Er stand ziemlich fest mit beiden Beinen im Leben, und er hat sich auch nie wirklich zugrunde gearbeitet. Ich hatte immer den Eindruck, er würde die Balance zwischen Anspannung und Entspannung gut bewältigen."

       Toritaka lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln. "So täuscht man sich in den Menschen", sagte er. "Jedenfalls vielen Dank für ihre Mithilfe, Mura-san. Ich bin sicher, der Polizeibericht wird ihr Bankhaus bestenfalls am Rande erwähnen."

       "Danke auch für ihr Verständnis, Toritaka-san", gab der Personalleiter zurück. "Soll ich sie noch zum Aufzug begleiten?"

       "Danke, ich finde alleine hinaus", meinte der Inspektor und verließ das Büro.

       Auf dem Weg zurück zu seinem Auto dachte er das Gespräch von eben noch einmal durch. Es hatte sich das erwartete Bild von Masakiri geboten: ein Mann, der vor dem beruflichen Abgrund stand und dem es leichter erschienen war, sich in einen wirklichen Abgrund zu stürzen, anstelle sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Solche Dinge kamen immer noch zu oft vor - Männer, gerade in verantwortungsvollen Positionen, waren nicht bereit, sich einzugestehen,