Die Tugend von Tokyo. Götz T. Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Götz T. Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844227055
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Ein Zeuge hatte einen Schrei gehört, unmittelbar ehe die Alarmanlage des Autos losgegangen war, und der Aussage nach war das ein langgezogener Angstschrei gewesen. Er musste wohl von Masakiri gekommen sein, der während seinem Sturz geschrieen hatte... und dieses mysteriöse Gedicht hatte recht, warum sollte jemand vor Angst schreien, der sich freiwillig in den Tod stürzte? Aber das war nicht eindeutig - wenn ihn im letzten Moment seines Lebens doch noch die Panik übermannt hatte, oder wenn er jemand war, der nicht stumm aus der Welt scheiden wollte... Schreie von Selbstmördern waren kein guter Anhaltspunkt...

       Genau in diesem Moment fiel Toritaka auf, dass es noch ein weiteres Indiz gab, dass mit diesem Selbstmord etwas nicht stimmte. Wenn er sich nicht irrte.

       Mit einem Ruck zog er die Schublade seines Schreibtischs wieder auf und fischte den Manilaumschlag heraus, in dem sich Masakiris Sachen befanden. Er öffnete ihn und leerte den Inhalt auf der Tischplatte aus. Tatsächlich... kein Irrtum. Ein Blick auf den Bildschirm in die Akte bestätigte noch einmal den Widerspruch, und alles, was er jetzt noch wissen musste, konnte er mit einem Telefonanruf klären. Er nahm den Hörer seines Apparates ab und drückte die 0 für die Zentrale. "Toritaka hier", sagte er in den Hörer, "Dezernat sechs. Bitte Dezernat fünf, Inspektor Arakami."

       Es dauerte einige Sekunden, bis die Verbindung stand. "Guten Abend, Toritaka-san", meldete sich die Ermittlerin vom anderen Ende der Leitung. "Sie haben Glück, mich noch anzutreffen - eben wollte ich gehen."

       "Es wird nicht lange dauern", versprach Toritaka. "Ich brauche nur eine Auskunft zu den Ermittlungen von Dezernat 5. Sie haben doch das Auto von Masakiri durchsucht, nicht wahr?"

       "Richtig", bestätigte Arakami. "Beziehungsweise, nicht ich persönlich, aber Assistenzinspektor Kor...."

       "Darum geht es mir nicht", unterbrach der Inspektor sie aufgeregt. "Sie schrieben, das Auto sei unbeschädigt gewesen, unbeschädigt in jeder Hinsicht, obwohl sie es durchsucht haben, korrekt?"

       Einen Moment herrschte erstauntes Schweigen in der Leitung. "Was ist daran so ungewöhnlich", wollte die Frau dann wissen. "Mein Team arbeitet vorsichtig und rücksichtsvoll."

       Toritaka atmete einmal tief durch. "Was daran ungewöhnlich ist?" stieß er hervor. "Wie sind sie ins Auto hineingekommen? Sie haben mir die Autoschlüssel heute vormittag mitgegeben, noch ehe sie wussten, wo der Wagen stand! Es war nicht abgeschlossen, oder?"

       "Aber..." Arakamis Überraschung war selbst durch das Telefon deutlich zu spüren. "Meine Güte, sie haben recht. Mein Team musste den Wagen nicht aufbrechen. Er muss offen gewesen sein. Aber wieso..."

       "Genau", sagte der Inspektor leise. "Wieso geht jemand von der Arbeit ins Parkhaus zu seinem Auto und schließt die Türe auf, wenn er eigentlich vorhat, sich vom Dach zu stürzen?"

      Mittwoch, 7. April 2004, 9.07 Uhr

      Superintendent Asashi blickte skeptisch auf den Bildschirm seines Laptops und sah von dort immer wieder zu Toritaka und Kakiden, die in seinem Büro Platz genommen hatten. Vor allem der Inspektor schien ihm Sorgen zu machen, wenn man das Stirnrunzeln richtig verstand, das er immer wieder aufsetzte. Schließlich aber lehnte er sich in seinem Sessel zurück, betrachtete noch ein letztes Mal den Monitor und wandte sich das vollends den beiden Beamten zu.

       "Ihnen ist natürlich klar", sagte er, "dass das eine reichlich dürftige Indizienlage ist."

       "Absolut", stimmte ihm Inspektor Toritaka zu. "Ich würde sogar soweit gehen, dass ich sage, wir haben noch nicht einmal eine Indizienlage. Alles, was wir im Moment haben, sind Widersprüche in der bestmöglichen Theorie über unseren Fall hier. Ich möchte nur darum bitten, diese Widersprüche mit den besten Mitteln aufzulösen, die uns zur Verfügung stehen."

       Asashis Lippen wurden schmal. "Die sogenannten Widersprüche stützen sich auf die Aussage von jemandem, der einen Schrei gehört haben will und auf ein nicht abgeschlossenes Auto."

       Der Inspektor hob eine Hand. "Und auf die Aussage des Vorgesetzten unseres Toten hier", sagte er, "dass er nicht der Typ für einen Selbstmord war. Mura-san mag kein Psychologe sein, aber als Personalchef darf man ihm einige Menschenkenntnis unterstellen."

       "Mir gefällt das trotzdem nicht wirklich", gab der Superintendent zu bedenken. "An sich haben wir eine wirklich passable Theorie, mit der wir den Fall schnell abschließen könnten und damit der Familie des Toten weitere Unannehmlichkeiten ersparen würden. Sie wollen jetzt das alles in eine Richtung wenden, die noch sehr langwierig werden kann. Ich will nicht, dass unser Dezernat von den Medien zum Sündenbock gemacht wird."

       "Wenn ich dazu etwas sagen dürfte", meldete sich Kakiden zaghaft zu Wort.

       Asashi nickte ihm zu. "Ich bitte darum."

       Mit einem kurzen Ruck beugte sich der Assistenzinspektor etwas vor. "Toritaka-san und ich haben heute früh bereits über die Umstände gesprochen", sagte er, "und wir sind beide der Ansicht, dass es vorerst nicht notwendig sein wird, die Familie von Masakiri in die Ermittlungen mit einzubeziehen. Wir möchten uns vorerst um die Frage der Fremdeinwirkung kümmern. Bisher gibt es ja noch keine Indizien dafür, allerdings gab es auch noch keine ernsthafte Auswertung der gesicherten Spuren. Ich wollte mich mit Dezernat fünf zusammentun - ein früherer Schulfreund von mir arbeitet in der Gerichtsmedizin und kann uns wahrscheinlich weiterhelfen."

       "Wenn sie das diskret machen", meinte der Superintendent, "habe ich nichts einzuwenden. Und was werden sie tun, Toritaka-san?"

       "Ich möchte mich auf ein mögliches Motiv konzentrieren", sagte der Inspektor. "Masakiri war ein nicht besonders erfolgreicher Anlageberater - wenn solche Leute in finanzielle Schwierigkeiten geraten, dann haben mit einiger Wahrscheinlichkeit auch einige ihrer Kunden Geld verloren, und das nicht zu knapp. Ich will mich unter seinen ehemaligen Kunden umsehen."

       Etwas irritiert zog Asashi eine Augenbraue hoch. "Seine ehemaligen Kunden?" wollte er wissen. "Ich hoffe, sie haben nicht vor, unbescholtenen Geschäftsleuten auf den Kopf zuzusagen, dass sie sie für potentielle Mörder halten."

       Toritaka musste unwillkürlich lächeln. "Sehr schmeichelhaft, dass sie mir so etwas zutrauen, Superintendent", sagte er. "Nein, ich wollte keine unbescholtenen Leute befragen. Aber Masakiri hat für ein Bankhaus gearbeitet, das schon einmal Probleme mit dem Gesetz hatte... eine Beamtin von Dezernat fünf hat mir den Tip gegeben, dass die Yoshioka-Bank in der Vergangenheit mit der Yakuza zu tun gehabt haben soll. Ich denke, für diese Kreise wird es nichts Neues sein, dass man sie für potentielle Mörder hält."

       "Das beruhigt mich nicht wirklich", warf Asashi ein. "Wir sind hier nicht in Dezernat sieben, wo man täglich mit Schwerkriminellen zu tun hat. Ist ihnen das Risiko nicht zu groß?"

       "Kaum, Superintendent", schüttelte der Inspektor den Kopf. "Für ein echtes Yakuza-Verbrechen ist dieser Fall hier nicht der richtige Stil. Viel zu unspektakulär. Wenn der Täter aus Yakuza-Kreisen stammt, dann hat er auf jeden Fall auf eigene Faust gehandelt. Und in diesen Kreisen geht man nicht gerade rücksichtsvoll mit Mitgliedern um, die so ungeschickt sind, polizeiliche Ermittlungen auf sich zu ziehen. Wenn nicht gerade ein Oyabun persönlich hinter dem Fall steht, wird man wahrscheinlich sogar mit uns kooperieren."

       Der Superintendent nahm eine Hand vor den Mund und schien einen Moment nachzudenken. "Kakiden-san, lassen sie uns kurz alleine", sagte er dann.

       Mit einem Nicken erhob sich der Assistenzinspektor. "Jawohl!" sagte er und verließ den Raum.

       "Sie haben sich keine sehr ruhmreiche Aufgabe ausgesucht", fuhr Asashi fort, als Kakiden gegangen war. "Wenn sie keine Hinweise auf ein Fremdverschulden finden, haben sie eine Menge Aufwand betrieben und eine Menge Fliegen aufgescheucht, und alles für nichts. Und wenn sie Indizien finden, dass das hier kein Selbstmord, sondern ein Verbrechen war, dann werden sie den Fall an Dezernat fünf oder Dezernat sieben abgeben müssen. Ist ihnen das bewusst?"

       "Voll und ganz, Superintendent", bestätigte Toritaka überzeugt. "Es geht mir auch nicht um Ruhm - ich will einfach nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich habe das Gefühl, hier will uns jemand mit einem Selbstmord abspeisen, obwohl viel mehr dahintersteckt, und so einfach will ich es ihm nicht machen."

       Der Superintendent runzelte besorgt die