Die Tugend von Tokyo. Götz T. Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Götz T. Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844227055
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mit anschließender Vergewaltigung und Sittlichkeitsvergehen, bei denen das Opfer unter Drogen gesetzt wurde. Was sagt ihnen das, Kakiden-san?"

       "Offensichtlich sind die Verbrecher in den letzten fünfzehn Jahren deutlich gewalttätiger geworden", schloss der Assistenzinspektor. "Ich bin zwar erst vor zwei Jahren aus der Verwaltung in ihre Abteilung gekommen, aber ich denke, das dürfte kein Geheimnis sein."

       "Und wieder liegen sie daneben", gab Toritaka trocken zur Antwort. "Eigentlich hat sich die Zahl aller Vergehen gegen Moral und Anstand im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Aber niemand macht sich mehr die Mühe, solche Sachen auch zur Anzeige zu bringen. Es ist sogar noch schlimmer - die Leute übersehen inzwischen Straftaten lieber, als dass sie sich einmischen. Es gibt keine Zivilcourage mehr in unserem Land." Er starrte seinen Untergebenen einen Moment an, dann wandte er sich plötzlich ab und begann, die letzten Stufen der Treppe zu nehmen, wobei er sich wieder in den Strom der Passanten eingliederte. Erst, als er die unterirdische Haltestelle verlassen hatte, gelang es Kakiden wieder, mit ihm aufzuschließen.

       Der Assistenzinspektor sah seinen Vorgesetzten lange und schweigend an, während er neben ihm in Richtung des gemeinsamen Dienstwagens schritt. Nach und nach lichtete sich die Menge der Passanten wieder, und schließlich war es um die beiden wieder ruhig genug, dass Kakiden es wagte, Toritaka wieder anzusprechen. "Darf ich ihnen noch eine persönliche Frage stellen, Inspektor?" bat er.

       "Immer." Der Polizeioffizier zog den Schlüsselbund des Wagens aus der Tasche und betätigte die elektronische Wegfahrsperre.

       "Ihr letzter Partner... Inspektor Katsuhara... warum hat er sich versetzen lassen?"

       Toritaka ließ den Arm sinken. Einen Moment stand er völlig still da, atmete einmal tief durch, dann drehte er sich zu Kakiden um. "Sie haben einige Gerüchte gehört, nehme ich an", sagte er.

       Langsam nickte der fast kahlköpfige Polizist. "Einige."

       "Dann wird es sie interessieren, dass die meisten davon stimmen", erklärte der Inspektor. "Was nicht stimmt, ist die Theorie, ich sei homosexuell und habe versucht, Katsuhara zu belästigen. Ebenso ins Reich der Legende gehört das Gerücht, ich habe den Sohn des Parlamentsabgeordneten Somachi wegen des Besitzes von Kinderpornografie hinter Gitter bringen wollen." Er machte eine kurze Pause. "Es war Somachi-san selbst."

       "Oh." Kakidens Miene verfinsterte sich. "Dann verstehe ich allerdings, dass es ihrem Partner an ihrer Seite zu heiß wurde. Somachi Youta hat schon die Karrieren von ganz anderen Leuten beendet."

       Toritaka lächelte überraschend sanft. "Wie sie sehen", sagte er, "ist ihm das in meinem Fall nicht gelungen, und das lag daran, dass meine Ermittlungen Hand und Fuß hatten." Er öffnete die Fahrertür des Wagens.

       Unsicher blieb der Assistenzinspektor vor der Beifahrertüre stehen. "Eins der Gerüchte lautet", sagte er, "dass sie keinem ihrer Verdächtigen etwas Strafbares nachweisen konnten, aber das Disziplinarverfahren eingestellt wurde, damit das Ansehen der Personen im Fall nicht litt."

       "Das ist auch wahr", nickte Toritaka. "Ich war nicht in der Lage, meinen Verdächtigen nachzuweisen, dass sie die perversen Fotos, um die es ging, heimlich mit ihren Fotohandys aufgenommen hatten."

       "Perverse Fotos, na ja..." Kakiden schmunzelte und öffnete die Türe. "Es ging doch nur um Pantyshots, oder?"

       Der Inspektor warf ihm einen langen, ernsten Blick zu. "Nur?" sagte er, dann schwang er sich in den Wagen und startete den Motor. Kakiden konnte gerade noch einsteigen, ehe der Wagen abfuhr.

       Auf der Fahrt ins Hauptpräsidium gingen Toritaka Shingo viele Gedanken durch den Kopf, doch er teilte sie nicht mit seinem Assistenzinspektor. Kakiden Tatsuhiro war vor zwei Jahren wegen einer Dienstaufsichtsbeschwerde degradiert und aus der Verwaltung in seine Abteilung versetzt worden - es war ironisch, aber irgendwie passend, dass man den Dienst an seiner Seite irgendwo oben als Strafe verhängte. Nach der Sache mit den Fotohandys hatte er einen mehr als schlechten Ruf als übereifrig und verbohrt gehabt, und er war froh gewesen, mit Kakiden wenigstens jemanden an seiner Seite zu haben, der gezwungen war, mit ihm zu arbeiten.

       Toritaka hatte gerade die Beförderung zum Inspektor erhalten, als er bei einem Fall von bandenmäßigem Vandalismus während der Spurensuche in einem demolierten Auto Fotos gefunden hatte, welche Mädchenunterhöschen zeigten. Genauer gesagt, Mädchenunterhöschen, die gerade von Mädchen getragen wurden, und wenn man sich die Bildumgebung besah, mussten es Grundschülerinnen sein, die man ziemlich direkt von unten zwischen den Beinen fotografiert hatte. Die Herkunft solcher "Schnappschüsse" war ihm ein ziemliches Rätsel gewesen, bis er das Material an die Abteilung Forensik weitergegeben hatte und man feststellte, dass die Fotos mit Digitalkameras erstellt worden waren. Mit eben solchen Digitalkameras, wie man sie in letzter Zeit immer häufiger in Handys einbaute.

       Der Inspektor forschte weiter nach und entdeckte zu seinem Entsetzen, dass der Besitzer des demolierten Autos, der Parlamentsabgeordnete Somachi Youta, sich vor kurzem ein solches Kamerahandy zugelegt hatte, und die Schuluniformen auf den Bildern passten zu einer Grundschule, die direkt gegenüber seines Büros in der Innenstadt lag. Unter dem Verdacht der verbotenen Kinderpornografie ließ er vom Bezirksrichter eine geheime Hausdurchsuchung genehmigen und ließ die Inhalte der Festplatten der Computer in Somachis Büro und seinem Privathaus kopieren. Unmengen von "Pantyshots" wie die auf den Bildern in seinem Auto kamen zum Vorschein, offensichtlich nicht nur von ihm angefertigt, und es war ersichtlich, dass der Abgeordnete mit anderen Leuten dieses Material austauschte.

       Und dann, mit einem Mal, war die Untersuchung zu Ende gewesen. Ein Parteifreund Somachis musste von den Ermittlungen erfahren haben, und der Parlamentsabgeordnete schaltete sogleich seine Anwälte ein. Diese stellten fest, dass es nicht möglich war, die im Wagen gefundenen Fotos zweifelsfrei genau seinem Fotohandy zuzuordnen, dass man außerdem digitale Bilder nach Belieben verändern konnten und diese somit als Beweismittel unzulässig waren und dass noch dazu die Wahrscheinlichkeit groß war, dass eher "moralisch verkommene Subjekte" wie eben die Vandalen, die das Auto verwüstet hatten, im Besitz solcher nicht einmal verbotenen Fotografien waren. Man forderte Toritaka auf, die Mädchen zu finden, die angeblich auf den Bildern zu sehen waren, denn ohne Geschädigte kein Verbrechen, und wenn hier niemand gegen seinen Willen aufgenommen worden war, dann war auch nichts strafbares passiert.

       Der Inspektor musste einräumen, dass er die Bilder niemandem zuordnen konnte (und selbst wenn er gekonnt hätte, so hätte er den Familien der Mädchen die Schmach nicht zumuten wollen, ihre Kinder in der Öffentlichkeit gedemütigt zu sehen), und es gelang ihm nur, einer Degradierung zu entgehen, indem er Somachi wissen ließ, dass sich die Klatschpresse mit Freude auf einen Pantyshotfetischisten im Parlament gestürzt hätte. Und so ließ der Abgeordnete seine Beziehungen spielen, das Dienstaufsichtsverfahren gegen den Polizisten wurde eingestellt, und alle waren zufrieden.

       Relativ zufrieden.

       Toritaka war immer noch der Ansicht, richtig gehandelt zu haben, und wenn ihm der Vorfall eins gelehrt hatte, dann war es die Wahrheit über die angebliche moralische Höherwertigkeit der japanischen Gesellschaft. Was war das für ein Land, in dem man nichts Schlechtes darin sah, minderjährige Mädchen in entwürdigender Weise zu fotografieren und sich an diesen Bildern sexuell zu erregen? Was war das für ein Land, in dem sich schon Zwölfjährige auftakelten wie für den Kinderstrich und das ganze dann auch noch "Puchi-Lolita-Stil" nannten? Das Fernsehen zeigte in den Abendstunden mehr und mehr gewalttätige Animes, gezeichnete Pornografie (beschönigend "Ecchi" genannt) durfte frei in den Büchereien verkauft werden, und es gab nicht einmal mehr die allgemeine Zensur der Darstellung von Geschlechtsorganen in den Erwachsenenfilmen. Nach und nach wurde die Gesellschaft immer verkommener; der Sex spielte eine immer größere Rolle, und immer mehr anstößige Dinge wurden für völlig normal oder, noch schlimmer, für "trendy" erklärt.

       Nach Ansicht des Inspektors hatte Japan seine Werte verloren. Werte, die es lange Zeit definiert hatten. Ein naturgegebener Anstand, eine Sitte, die sich aus dem ganz gewöhnlichen menschlichen Zusammenleben ergab. Wahrscheinlich hing der Verfall dieser Dinge damit zusammen, dass man die alten Hierarchien immer öfter in Frage stellte. In den Talkshows im Fernsehen wurde inzwischen sogar diskutiert, ob das Sempai/Kohai-Prinzip - eine ältere, erfahrenere Person, der Sempai, leitete eine jüngere,