Die Tugend von Tokyo. Götz T. Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Götz T. Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844227055
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bei Masakiri gefunden, oder?"

       "Richtig", stimmte die Ermittlerin zu. "Unsere Leiche war nicht mehr sehr mitteilungsbedürftig, wie es scheint. Aber vielleicht entdecken sie ja an seinem Arbeitsplatz oder bei ihm zuhause etwas in dieser Art."

       "Und gibt es in seiner Umgebung Gegenstände, die offensichtlich fehlen?" wollte Toritaka wissen. "Hat er zum Beispiel eine helle Stelle von einer Armbanduhr, aber nicht die dazugehörige Uhr? Und wo ist sein Auto - das hier ist immerhin ein Parkhaus."

       Arakami schmunzelte. "Wie ich sagte - sie sind jemand mit einem Auge fürs Detail, Toritaka-san."

       Leicht irritiert verschränkte der Inspektor die Arme. "Wären sie wohl so freundlich", gab er gezwungen höflich zurück, "solche Freundlichkeiten für nach dem Dienst aufzuheben? Ich möchte..."

       "Verzeihen sie bitte", entschuldigte sich die Frau sofort mit leichter Verbeugung, "ich wollte ihnen nicht zu nahe treten. Um ihre Fragen zu beantworten: nein, die Spurensicherung hat nichts dergleichen gefunden, und was das Auto angeht, das werden wir noch finden. Masakiri hatte seine Autoschlüssel in der Hosentasche, und ich habe schon eine Anfrage an Dezernat Zwei wegen der Zulassung auf seinen Namen gemacht, damit wir das Nummernschild wissen. Es ist übrigens ein Mercedes."

       "Danke." Toritaka wollte sich zum Gehen wenden, hielt aber noch ein weiteres Mal inne. "Arakami-san war ihr Name, nicht wahr? Verzeihen sie bitte meine Unhöflichkeiten. Es war gestern eine lange Nacht für mich."

       Langsam nickte die Frau, und wieder lächelte sie, aber dieses Mal sehr viel zurückhaltender. "Ich weiß", sagte sie, "sie haben den Toten entdeckt. Ich habe ihre Unterschrift auf dem Protokoll gesehen. Es war meine Schuld, sie so lange aufgehalten zu haben." Sie reichte ihm einen verschlossenen Manila-Umschlag. "Hier sind die Privatsachen von Masakiri, die ich bereits untersuchen konnte. Sie werden sie für die Akte brauchen."

       Der Inspektor nahm den Umschlag an sich. "Gut", sagte er, "dann ist das ja geklärt." Er meinte nicht nur die Akte, aber er führte es nicht weiter aus.

       Mit einem kurzen Nicken verabschiedete er sich, dann lief er zurück zu seinem Wagen. Eine kurze Anfrage per Funk in der Zentrale bestätigte ihm, dass das Yoshioka-Bankhaus seinen Sitz im nahen Century Tower hatte. Angesichts der immer noch verstopften Straßen entschied sich der Inspektor kurzerhand dazu, den Block Entfernung zu Fuß zurückzulegen, stieg wieder aus und machte sich auf den Weg. Es vergingen trotzdem mehr als fünfzehn Minuten, bis er ankam, was auch daran lag, dass er zweimal eine der Straßen überqueren musste und die Ampeln hier nicht unbedingt sehr fußgängerfreundlich geschaltet waren.

       Der Century Tower war bei weitem nicht Tokyos größtes Hochhaus, und er war auch nicht, wie der Name implizierte, zu einer Jahrhundertwende entstanden. Wie viele der Wolkenkratzer in der Stadt war er die Kopie eines anderen Gebäudes, in diesem Fall das eines berühmten Bankenzentrums in Hongkong, und eben dieses "Original" war exakt im Jahr 1900 eingeweiht worden. Es war eine sehr japanische Eigenart, fand der Inspektor, die kulturellen Errungenschaften anderer Länder nachzuahmen und zu verbessern. Das war an der Architektur besonders offensichtlich (der Tokyo-Tower war zum Beispiel eine größere Version des Eiffelturms in Paris), aber auch in der Politik und der Verwaltung konnte man diesen Hang zum Duplikat feststellen: Das Regierungssystem des Landes war englisch, die Organisation der Polizei amerikanisch... und die Korruption in manchen Behörden hätte einer afrikanischen Militärdiktatur Konkurrenz gemacht.

       Wie es seit einigen Jahren in allen größeren öffentlichen Gebäuden und Geschäftszentren üblich war, gab es auch am Eingang des Century Towers eine Personalkontrolle - der internationale Terrorismus machte sicherlich auch nicht vor einer Insel wie Japan halt - und Toritaka wusste von dem Moment an, als er seinen Polizeiausweis vorzeigte, dass er im Gebäude keine illegalen Aktivitäten mehr würde entdecken können, wenn er danach suchte. Obwohl alle Personalkontrollen von Polizeidezernat 3 durchgeführt wurden, der Sicherungspolizei, waren die Beamten sehr wahrscheinlich von den Anwohnern des Gebäudes dazu "ermuntert" worden, polizeiliche Kontrollen nach oben zu melden, dass man sich auf sie vorbereiten konnte.

       Trotzdem galt es, den offiziellen Anschein zu wahren. Der Inspektor trat an die Rezeption und zeigte auch dort seinen Polizeiausweis vor. "Toritaka, Dezernat für öffentliche Sicherheit", stellte er sich vor. "Wo finde ich das Yoshioka-Bankhaus?"

       "Einundzwanzigstes Stockwerk, Inspektor-san", war die Antwort des Rezeptionisten. "Ich schalte ihnen Aufzug vier frei."

       "Danke." Toritaka nickte dem Mann kurz zu. "Melden sie mich bitte oben an, ich muss den Geschäftsführer oder Personalchef sprechen." Der Satz war reine Formsache; oben würde man schon wissen, dass er kam, aber es war ihm wichtig, niemanden zu verunsichern, indem er nicht sagte, was er wollte.

       Die Fahrt mit dem Aufzug dauerte erstaunlich lange, obgleich es sicherlich ein Expresslift war. Offensichtlich wollte man sich oben noch angemessen auf seinen Besuch vorbereiten und hatte die Rezeption um etwas Zeit gebeten. Der Inspektor fühlte sich fast geschmeichelt; man hielt ihn anscheinend für so wichtig, dass man ihm besondere Aufmerksamkeit widmen wollte. Vielleicht hatte der Polizist an der Eingangskontrolle aber auch einfach nur eine Bemerkung über den Ruf fallen lassen, den Toritaka in Polizeikreisen genoss. Nun ja, alles zu seiner Zeit.

       Als er oben aus dem Lift trat, der sich direkt ins Foyer des Yoshioka-Bankhauses öffnete, lief bereits ein junger Mitarbeiter, vielleicht knapp über zwanzig Jahre alt, auf ihn zu. Zu seinem Ärger musste er bemerken, dass der Anzug des Bankers mit Sicherheit mindestens das Fünffache seines eigenen gekostet hatte, und dabei gab er sich eigentlich immer Mühe, zumindest einen angemessenen Eindruck zu machen. Die folgende äußerst tiefe und respektvolle Verbeugung allerdings entschädigte ihn ein wenig dafür.

       "Guten Tag, Toritaka-dono", begrüßte der Bankmitarbeiter ihn, "mein Name ist Iyekawa, Public Relations." Er zog eine Visitenkarte aus dem Jackett und überreichte sie dem Inspektor mit beiden Händen. "Wie kann ich ihnen helfen?"

       "Sie können es nicht", sagte Toritaka schroff und nahm die Visitenkarte nicht an. Viele Dinge in Japan gingen schneller, wenn man sich nicht mit unwichtigen Leuten aufhielt. "Ich bat darum, Geschäftsführer oder Personalchef ihres Unternehmens sprechen zu dürfen. Führen sie mich bitte zu einem der beiden."

       Die überraschend informelle Umgangsweise des Polizisten verunsicherte Iyekawa offensichtlich. "Natürlich", meinte er zögernd, "sofort... wenn ich nur erfahren dürfte, um was es geht...?"

       Toritaka trat einen Schritt näher an den Banker heran, was diesen noch nervöser werden und etwas zurückweichen ließ. "Ich führe Ermittlungen über einen Angestellten dieses Bankhauses durch", sagte der Inspektor, "und werde diese Untersuchung nicht gefährden, indem ich interne Informationen an unbefugte Personen weitergebe. Würden sie mich jetzt endlich zu Personalchef oder Geschäftsführer bringen oder soll ich beide aufs Dezernat rufen lassen?" Das war ein glatter Bluff - der Superintendent würde das bei einem Selbstmord nie genehmigen - aber die Drohung half fast immer.

       So auch hier. "Folgen sie mir bitte", haspelte der junge Mann eilig hervor und wandte sich nach einer weiteren Verbeugung ab, um Toritaka den Weg zu zeigen. Natürlich brachte er ihn nur zum Personalchef und nicht zum Geschäftsführer - man kam nie sofort an die höchste mögliche Stelle in einer Hierarchie, wenn es Alternativen gab - aber es hatte weniger als fünf Minuten gedauert, hier hinzugelangen. Der Inspektor war fast stolz auf sich.

       "Mura-san wird sie persönlich in sein Zimmer führen", sagte Iyekawa, als er den Polizisten durch einen langen Gang zu einem Großraumbüro geführt hatte, wo sicherlich einige hundert Angestellte Platz hatten. Der Inspektor war beeindruckt - so klein schien die Yoshioka-Bank nun doch nicht zu sein. Oder hatte sie einfach keinen kleineren Bürokomplex im Century Tower mieten können? Unwichtig, zumindest vorerst.

       Der junge Banker wandte sich zum Gehen, und im selben Moment sah Toritaka, wie ein überraschend hochgewachsener Mann Mitte Vierzig, ebenfalls in einem ausgesprochen teuer aussehenden Anzug auf ihn zutrat. Er trug sein Haar in der selben langen Mähne, die der japanische Ministerpräsident Koizumi Junichiro berühmt gemacht hatte - offenbar setzten sich solche Trends auch in diesen Kreisen durch.

       "Herzlich willkommen, Inspektor Toritaka-san", begrüßte der große Mann seinen Gast, verneigte sich nur