Die Tugend von Tokyo. Götz T. Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Götz T. Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844227055
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hatte die Tatortsicherung begonnen, und Toritaka hatte noch auf der Hinfahrt in sein Büro den Funkruf erhalten, dass Superintendent Asashi ihm den Fall von gestern abend vorläufig zugeteilt hatte und er die Ermittlungen leiten würde, wenn sich nicht herausstellte, dass ein Verbrechen vorlag. Für Selbstmörder gab es keine klaren Zuständigkeiten; normalerweise erledigte bei einem Selbstmord das Dezernat den Fall, das mit ihm zuerst in Kontakt gekommen war. Stürzte sich jemand mit seinem Auto von einer Brücke, war Dezernat 2, die Verkehrspolizei, für ihn zuständig; die meisten Selbstmörder wurden allerdings von der Streifenpolizei von Dezernat 4 entdeckt. Leute, die sich vor U-Bahnen warfen, fielen normalerweise in die Kategorie, die die Öffentliche Sicherheit übernahm, und Ruhestörung und Vandalismus durch einen Selbstmörder... nun ja, das war wohl auch eine Sache der Öffentlichen Sicherheit.

       Trotz allem war der Inspektor zuerst einmal in Ruhe ins Hauptpräsidium gefahren, hatte sich nach den Eingängen von gestern nacht erkundigt, hatte seine Mails abgefragt (und zufrieden die Empfangsbestätigung von Mainichi gelesen), Assistenzinspektor Kakiden die Aufgaben für den Tag zugeteilt, sich bei Superintendent Asashi gemeldet, nach Rückmeldung für den gestrigen Einsatz gefragt und sich dann noch die neue Zuteilung schriftlich bestätigen lassen. Als er mit allem fertig war, war es fast halb elf Uhr gewesen, und dann war noch einmal eine Viertelstunde für die Fahrt nach Bunkyo verstrichen... und noch einmal eine halbe Stunde, bis er sich durch das Verkehrschaos gekämpft hatte, das durch die Schließung des Parkhauses entstanden war. Manchmal hatten die öffentlichen Verkehrsmittel doch ihre Vorzüge.

       Dementsprechend war die Spurensicherung so gut wie abgeschlossen, als Toritaka endlich ankam, und es waren nur noch einige Seniorpolizisten mit der Katalogisierung der gefundenen Spuren beschäftigt. Die Leiche war abtransportiert worden, und zahlreiche Kreidemarkierungen waren auf dem zerstörten Kombi und dem Boden aufgebracht worden. Der Inspektor trat auf einen der Beamten zu und zückte seinen Dienstausweis. "Toritaka, Dezernat sechs", sagte er. "Ich leite diesen Fall. Wo ist der diensthabende Inspektor der Spurensicherung hier?"

       "Auf dem Dach", kam die Antwort. "Arakami-san wollte sich persönlich noch den Ort ansehen, von dem der Körper herunterkam."

       "Verstehe." Toritaka nickte. "Könnten sie ihn herunterrufen?"

       "Das ist unmöglich", ertönte in diesem Moment eine ernste, aber freundliche Stimme in seinem Rücken, und als er sich umdrehte, stand dort eine Frau Anfang Dreißig, recht elegant in Bluse, Hosenrock und Blazer gekleidet - irgendwie overdressed für ein Parkhaus, kam es Toritaka in den Sinn. Sie trug ihr kastanienfarbenes Haar schulterlang nach hinten gekämmt, und ihre Augen wurden von einer kleinen, eckigen Brille ohne Rahmen umrandet.

       Der Inspektor verschränkte die Arme. "Und können sie mir auch sagen", wollte er wissen, "warum der gute Mann nicht herunterkommen kann?"

       "Weil es erstens keinen Mann dieses Namens gibt", war die Antwort, "und weil zweitens Arakami-san bereits hier unten ist. Wenn ich mich vorstellen darf - Inspektor Arakami Shige, Dezernat 5, Abteilung Forensik." Die Frau streckte ihre Hand aus.

       "Inspektor Toritaka Shingo." Toritaka nahm die Hand nicht an - er hatte eine tiefsitzende Abneigung gegen Leute, die sich im Dienst zu Witzeleien genötigt sahen - und zog stattdessen die schriftliche Zuteilung seines Superintendenten aus dem Mantel. "Ich wurde diesem Fall hier überstellt."

       "Angenehm", gab Arakami zurück, und zur Überraschung ihres Kollegen lächelte sie. "Ich habe schon einiges von ihnen gehört, Toritaka-san."

       Der Inspektor zog die Augenbrauen hoch. "Was wollen sie damit andeuten?" meinte er eine Spur unfreundlicher, als er es vorgehabt hatte.

       Wieder überraschte ihn die Reaktion der Frau. "Sie gehören zu Tokyos engagiertesten Polizeibeamten", sagte sie. "Ich bin froh, dass sie die Untersuchung leiten - da kann ich mir sicher sein, dass die Arbeit der Forensik auch in allen Details berücksichtigt wird. Sie wirken wie ein Mann, der nicht nach offensichtlichen Lösungen, sondern nach dem großen Ganzen sucht."

       "Vorerst einmal wüsste ich gerne", warf Toritaka ein, "ob ich überhaupt einen Fall habe oder ob Dezernat fünf die Ermittlungen an sich ziehen wird." Er war leicht gereizt, dass ihn diese Frau da so einfach vor anderen Beamten lobte - im Dienst hatte man sich unnötige Gefühlsäußerungen seinen Kollegen gegenüber besser zu verkneifen. "Gibt es Anzeichen für ein Gewaltverbrechen?"

       "Die Indizien sprechen dagegen", berichtete Arakami. "Auf den ersten Blick hin gab es keine Anzeichen von Gewalteinwirkung auf den Körper des Toten außer derer, die er durch das Trauma des Aufpralls auf den Wagen hier erlitten hat. Die Verletzungen sind typisch für ein Sturzopfer. Er hatte über vierzig Meter freien Fall. Das einzige untypische Detail für so einen Fall war die Tatsache, dass er mit dem Rücken zuerst auf dem Auto aufgeschlagen ist, aber sein Hemd vorne an der Brust aufgerissen war."

       Toritaka zog interessiert eine Augenbraue hoch. "Wie könnte so etwas zustandegekommen sein?" wollte er wissen. "Wurde er möglicherweise gepackt und heruntergestoßen?"

       Die Ermittlerin schüttelte den Kopf. "Sehr unwahrscheinlich", sagte sie. "Wenn man einen Menschen dort oben stößt, kippt er vielleicht über das Geländer, aber dann stürzt er direkt gerade an der Hauswand herab. Unsere Leiche lag auf dem Auto, zur Mitte von dem Hof hier hin, wie sie sehen. Er ist wahrscheinlich gesprungen, zumindest würde ich seine Flugkurve so deuten."

       "Und woher dann das zerrissene Hemd?"

       "Es war schon lange dunkel", sagte Arakami, "als unser Mann dort oben über das Geländer gestiegen ist, um sich herunterzustürzen. Möglicherweise ist er mit einem Hemdknopf am Geländer hängengeblieben. Wir haben zwar keine Stoffreste gefunden, aber die können leicht weggeweht worden sein. Windig genug ist es da oben."

       Toritaka dachte einen Moment lang nach. "Konnte der Tote schon identifiziert werden?" wollte er dann wissen.

       Mit einem Nicken zog seine Kollegin einen kleinen Plastikbeutel aus der Tasche ihres Blazers hervor, in der sich ein Ausweis befand. "Er hatte seine Papiere bei sich", sagte sie. "Masakiri Satoshi, achtundvierzig Jahre alt, wohnhaft in Jimbocho. Aber er hat anscheinend gerne unter seinen Verhältnissen gelebt - seiner Visitenkarte nach war er Investmentberater im Auftrag der Yoshioka-Bank."

       "Yoshioka?" Der Inspektor hielt inne. "Nein, sagt mir nichts."

       "Nicht verwunderlich", nickte Arakami. "Nur ein kleines Bankhaus, allerdings eins mit ausgesuchter Klientel. Sie stellen eigene Aktienfonds nach dem Bedarf ihrer Kundschaft zusammen. Dezernat Sieben hatte sie mal am Wickel, weil sie Geld für einen Oyabun gewaschen haben sollen, aber die Direktion hat den Mitarbeiter, der für die illegalen Geschäfte verantwortlich war, als Einzeltäter dargestellt, und der Mann hat die Geschichte bestätigt."

       Toritaka kniff die Lippen zusammen. Die Yakuza in Tokyo war traditionell mit einigen kleineren Lichtern der Finanzwelt verbändelt, und die Oyabuns - die lokalen "Bosse" der japanischen Mafia - waren oft genug reiche und hochangesehene Leute mit ganz gewöhnlichem Privatleben, wenn man einmal davon absah, dass sie gefährlichen Verbrechersyndikaten vorstanden. Von den allermeisten Oyabuns war ganz offen bekannt, welchen Rang sie einnahmen, doch niemand machte auch nur den Versuch, sie zu verhaften - warum, das war dem Inspektor ein Rätsel, aber in Dezernat Sieben, die für Organisierte Kriminalität zuständig waren, würden die Beamten sicherlich wissen, was sie taten.

       Er musste einige Sekunden mit den Gedanken woanders gewesen sein, denn als er wieder aufsah, bemerkte er, dass Inspektor Arakami ihn ziemlich intensiv anblickte. "Ist etwas?" fragte er ein wenig unwirsch.

       "Ich weiß nicht", gab die Frau mit einem neuerlichen Lächen zurück - warum lächelte sie nur so viel? "Ich dachte, sie hätten vielleicht noch Fragen."

       "Die habe ich in der Tat", meinte Toritaka, "aber nicht mehr an sie. Ich gehe recht in der Annahme, dass sie empfehlen werden, den Fall in der Zuständigkeit von Dezernat Sechs zu belassen?"

       Wieder nickte Arakami freundlich. "Völlig korrekt, Toritaka-san. Keine Anzeichen für Fremdeinwirkung, keine Ungereimtheiten, die hinreichend Verdacht auf etwas anderes als einen Suizid lenken würden. Und ob es ein passendes Motiv für einen Suizid gibt, das werden dann wohl sie ermitteln können."

       Der Inspektor wollte sich schon verabschieden, als ihm