Die Tugend von Tokyo. Götz T. Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Götz T. Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844227055
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"In der Tat", schnaubte Aihara verächtlich. "Als ich vor einigen Jahren darüber nachdachte, meine geschäftlichen Angelegenheiten in die Hände von Finanzberatern zu legen, habe ich diesen Herrn einmal kennenlernen dürfen. Glauben sie mir, er war als seriöser Geschäftspartner eine mehr als schwere Enttäuschung. Fachlich vielleicht nicht unbegabt, aber menschlich..." Er schüttelte sich. "Zum guten Glück bot man mir eine Alternative an."

       Etwas verwirrt blinzelte der Inspektor zurück. "Ich bitte um Verzeihung, Aihara-san", hakte er nach, "aber wie meinten sie das... menschlich? Hatte der Mann unangenehme Charakterzüge?"

       Der Oyabun verzog den Mund zu einer Grimasse des Abscheus. "Unangenehm ist gar kein Ausdruck", sagte er. "Man soll ja nichts schlechtes über Tote sagen, aber dieser da wird mit Sicherheit im Reich der hungrigen Geister landen. Er hatte einen handfesten Lolikon."

       "Einen Lolikon?" Toritakas Kiefer fiel herunter, als er die Kurzform von 'Lolitakomplex' hören musste. "Er stand auf kleine Kinder?"

       "Schlimmer als das", spuckte Aihara förmlich aus. "Er hat sich sogar mit Kindern zu Perversitäten verabredet. Bestenfalls dreizehn waren die, eher zwölf. Wirklich, mit solchen verkommenen Subjekten mache ich doch keine Geschäfte!"

       In Toritakas Kopf arbeitete es fieberhaft. 'Enjo kusai', "vergütetes Ausgehen", so nannte man umgangssprachlich eine ekelhafte Freizeitbeschäftigung, die sich unter japanischen Schülerinnen schon von der Junior High School an langsam durchzusetzen begann. Dabei boten sich die Mädchen als Ausgehpartnerinnen für ältere Männer an und bekamen dafür das kostspielige Teenagerdasein in Tokyo bezahlt - was man so aus Dezernat vier hörte, waren mindestens zwanzigtausend Yen für einen gemeinsam verbrachten Nachmittag inzwischen durchaus üblich geworden. Das ganze war kaum verhüllte Kinderprostitution, die allerdings aus zwei Gründen fast unmöglich polizeilich zu bekämpfen war: Erstens ging sie von den Kindern selbst aus, und zweitens war nichts davon wirklich illegal, solange es nicht zu sexuellen Handlungen kam - einfach nur das Begleiten stand natürlich nicht unter Strafe. Selbst wenn es einmal gelang, ein solches "Päärchen" in einer eindeutigen Situation zu stellen, gingen beide in der Regel straffrei aus - das Mädchen sagte einfach, sie hätte den Mann bezüglich ihres Alters belogen und sich als volljährig ausgegeben, und schon kam der Freier mit einer Personalienaufnahme und manchmal einem kleinen Bußgeld davon.

       Allerdings... das alles lief nur dann ohne Konsequenzen für die Beteiligten ab, wenn es nicht öffentlich bekannt wurde. In Japan mochte man zwar keine gesetzliche Handhabe gegen diese Auswüchse haben, aber wenn es sich herumsprach, dass jemand sich tatsächlich auf Kinder stand und sich auf Dates mit ihnen einließ, dann war die jeweilige Person gesellschaftlich ruiniert. Noch nicht einmal Kriminelle von der Kategorie der Yakuza wollten dann noch etwas mit einem zu tun haben...

       Wenn es sich herumsprach...

       Hatte Toritaka in die falsche Richtung gedacht, und es war doch Selbstmord bei Masakiri gewesen? Selbstmord, weil ihn jemand wegen seines Lolikons erpresste und er keinen Ausweg mehr sah? Hatte man ihn in den Tod getrieben?

       Vor dem geistigen Auge des Inspektors formte sich langsam ein Bild. Ein Bild davon, was in der Nacht geschehen sein konnte, als Masakiri gestorben war.

       Der Anlageberater war gerade von der Arbeit gekommen. Es war ein sehr langer Arbeitstag für ihn gewesen; es war ungefähr elf Uhr abends, als er aus dem Century Tower gekommen war. Wahrscheinlich war es auch kein sehr erfolgreicher Tag gewesen. Masakiri musste müde und niedergeschlagen gewesen sein. Er war das Stück Weg zum Parkhaus wahrscheinlich eher langsam gelaufen, dann dort angekommen, mit dem Aufzug aufs Dach gefahren, wo sein Auto gestanden hatte, seinen Schlüsselbund hervorgezogen und eben die Türen mit der Fernbedienung der Wegfahrsperre geöffnet.

       Dann war die andere Person zwischen den Autos hervorgetreten.

       "Guten Abend, Masakiri-san", hatte sie vielleicht gesagt. "Ich weiß es."

       "Hm? Was wissen sie?" würde der Anlageberater geantwortet haben.

       Der Fremde hatte gelächelt. "Ich weiß von ihnen... und den Mädchen."

       Masakiri war blass geworden. "Welche... welche Mädchen?"

       "Sie wissen, wovon ich rede." Der Fremde war auf ihn zugetreten; Masakiri war ihm ausgewichen, rückwärts gelaufen, bis er mit dem Rücken am Geländer stand. "Weglaufen hilft ihnen nichts", würde der Fremde gesagt haben. "Nur zahlen hilft."

       "Nein", hatte der Anlageberater gekeucht. "Ich... ich habe kein Geld! Die Geschäfte... sie laufen nicht gut."

       Der Fremde hatte sicher böse gelächelt. "Das interessiert mich nicht", würde er gesagt haben. "Sie zahlen, oder morgen weiß halb Tokyo von ihren Treffen. Wie alt war das Mädchen... zwölf?"

       Masakiris Herz hatte zu rasen begonnen. Es war vorbei, alles vorbei. Er hatte kein Geld; nicht genug für einen Erpresser auf jeden Fall. In Panik hatte er sich umgedreht; mit den Händen tastend war er über das Absperrgitter gestiegen und hatte sich, weil er so zitterte, dabei noch das Hemd vorne zerrissen. Jetzt sah er endlich so jämmerlich aus, wie er sich fühlte.

       "Gehen sie", hatte er gekeucht. "Bitte."

       "Was wollen sie machen?" Der Fremde hatte ihn böse angesehen. "Springen? Seien sie kein Idiot. Denken sie, es interessiert mich, ob sie leben oder sterben? Ich will nur ihr Geld, nicht ihr Leben."

       Verzweifelt hatte Masakiri zurückgestarrt. "Aber ich habe kein Geld."

       Ein Schulterzucken. "Dann verrecken sie meinetwegen."

       "NEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEIN!"

       Ein letzter verzweifelter Schrei, den noch außerhalb des Parkhauses ein Student hörte. Ein Sprung. Der Aufschlag auf dem Kombi.

       Aus.

       Toritaka sah aus seinen Gedanken auf. "Ich glaube", sagte er zum Oyabun, "ich muss mich noch einmal bei ihnen entschuldigen. Es gibt da eine Möglichkeit, die ich vorher nicht bedacht hatte. Wenn sie gestatten, ich würde gerne noch am heutigen Abend mit meiner Arbeit fortfahren. Kann ich mich schon jetzt von ihnen verabschieden, ohne ihre Gastfreundschaft zu beleidigen?"

       "An sich habe ich nichts einzuwenden", meinte Aihara mit einer kleinen Handbewegung. "Ich darf also davon ausgehen, dass meine Geschäftspartner und ich in ihrer 'Arbeit' keine weitere Rolle spielen werden."

       "Das nehme ich an, ja." In Wirklichkeit war der Inspektor alles andere als überzeugt davon, dass die Yakuza nicht doch beteiligt war - Erpressungen waren durchaus Teil ihres 'Geschäfts', und der Oyabun selbst hatte soeben ein recht gutes Motiv für sich selbst genannt, ohne es zu wollen - er verabscheute Masakiri, und Menschen, die man verabscheute, konnte man auch ohne große Gewissensbisse in den Ruin oder in den Tod treiben. dass natürlich jeder normale Mensch angesichts von den perversen Gelüsten des Investmentberaters diesen verabscheuen musste, war ein anderes Thema. Vorerst aber musste einmal festgestellt werden, ob an der Sache mit dem enjo kusai überhaupt etwas dran war.

       Aihara erhob sich, und im selben Moment öffnete sich die Türe in Toritakas Rücken. "Sie können dann gehen", sagte der Oyabun und wies mit großer Geste zum Ausgang. "Und sollten sie noch weitere Fragen haben, wenden sie sich das nächste Mal doch gleich an mich."

       Der Inspektor erhob sich ebenfalls und verneigte sich. "Ich werde mich daran erinnern", sagte er. "Leben sie wohl, Aihara-san."

       "Iterasshai", wünschte ihm der Oyabun, als er ging.

       "Iterasshai...", murmelte Toritaka, als er aus dem Haus trat, wieder eskortiert von zwei gut gekleideten Männern, von denen einer den Schirm hielt. 'Iterasshai" hieß 'sichere Heimkehr' - das wünschte man nur jemandem, den man in der eigenen Wohnung wieder erwartete, und der Inspektor hatte nicht vor, so bald wieder hier zu erscheinen. Und wenn, dann nur in Begleitung eines Räumkommandos von Dezernat 7. Sicher, er war höflich behandelt worden. Aber man hatte ihn in jeder Minute seines "Besuchs" spüren lassen, wie klein und unwichtig er war und wie überaus erhaben der Oyabun.

       Und als man ihn vor dem Tor im Regen stehen ließ und er sich mit dem Handy ein Taxi zurück in die Stadt rufen musste, das auch noch eine halbe Stunde brauchte, bis es da war, schwor sich Toritaka, sich