Sara beschloss, ihrer Herrin nichts davon zu sagen. Was, wenn es nicht klappte? Lennys würde es nie erfahren, nur sie selbst würde wissen, dass sie der Gesandten noch einen letzten Gefallen getan hatte. Das reichte. Dennoch machte sie die Aussicht darauf nicht froh. Im Gegenteil. Angst vor dem Wald hatte sie nicht, aber sie wollte nicht allein die Freiheit kosten, die sich ihr dort bot. Sie wollte nicht einfach darin herumspazieren. Sie wollte nicht so tun, als sei sie weiter in den Diensten dernSichelländerin. Sie wollte es sein.
Der Tempel war ihr Zuhause, seit sie denken konnte. Als kleines Kind hatte man sie hier ausgesetzt und seitdem war sie nichts anderes gewesen als ein Fußabtreter für Beema, Eria, Ilele und all die anderen. Natürlich, der Bibliothekar mochte sie und Menrir sowieso, aber sonst? Es gab schöne Erinnerungen, so an den Kräutergarten, das Archiv, die stillen Stunden allein im Schatten der Tempelmauer. Und weniger Schöne, die sie schon gar nicht mehr zählen konnte. Ein Zuhause, das sie für immer verlieren würde, wenn sie es verließ. Ohne die Aussicht auf ein Neues. Hier hatte sie eine Unterkunft, eine Ausbildung, sie wurde mit allem versorgt, was sie brauchte und hier drohte ihr keine Gefahr. Jenseits der Tore wartete das Nichts, die Ungewissheit, aber keine Zukunft. Sie bezahlte eine lebenslange Schuld, wenn sie hierblieb, denn der Tempeldienst war der Preis für eine Kindheit, eine Jugend und eine Sicherheit heute. Und doch bedeutete er ihr nichts. Es war nur gerecht, dass Beema verlangte, dass sie eine gehorsame Novizin war, dafür, dass sie überhaupt hier sein durfte. Was hatte sie sonst für eine Wahl?
Lennys schien Saras Anwesenheit bereits wieder vergessen zu haben. Sie war wieder in die Karte vom Drei-Morgen-Wald vertieft, die sie zwei Tage zuvor zur Schildkrautlichtung geführt hatte und fixierte genau diesen Punkt, markiert mit einem in eine Raute eingeschlossenem Kreuz. Ash-Zaharr, der Schlangendämon, ruhte nun dort, aus reinstem Silber und voller Geheimnisse.
So verbrachten sie lange Stunden, Lennys über die Karte gebeugt und tief in Gedanken versunken, Sara mit dem Blick auf Lennys, wartend und hoffend, dass diese Zeit nicht verging.
Nach einer Ewigkeit, wie es der Cycala schien, und einem Wimpernschlag, so kam es Sara vor, läutete die große Glocke im Westturm des Tempels. Das Zeichen zur Messe.
Ohne sich auch nur die geringste Gemütsregung anmerken zu lassen, warf sich Lennys den Umhang über, band sich Menrirs Beutel über die Schulter und ließ einen letzten Kontrollblick durch den Raum schweifen. Er blieb an Sara hängen.
„Wir werden uns nicht mehr sehen, denke ich. Ich werde Beema irgendwann wissen lassen, dass ich mit dir zufrieden war. Vielleicht hilft dir das.“
„Danke...“ flüsterte Sara und wünschte sich, dieser Moment wäre vorüber, denn er quälte sie weit mehr, als sie erwartet hatte. Es war mehr als nur ein bisschen Wehmut. Dann rang sie sich zu einer letzten Frage durch:
„Wo geht ihr jetzt hin?“
Lennys musterte Saras grünblaue Augen aufmerksam. Es gab keinen Grund, der Dienerin ihre Pläne zu offenbaren. Doch eigentlich gab es auch keinen Grund, der dagegen sprach, sie hatte ohnehin schon ganz andere Dinge mitbekommen.
„Vielleicht sehe ich mich noch ein wenig im Wald um. Spätestens morgen werde ich noch einmal Akosh aufsuchen und mit ihm ein Treffen mit den Cycala vereinbaren. Dann werde ich sehen...“
„Und Menrir?“
„Das ist seine eigene Entscheidung. Ich komme gut allein zurecht, aber wenn er unbedingt in die Gefahr rennen will, ....“
„Es ist aber auch für euch gefährlich.“ sagte Sara leise.
„Darauf kommt es nicht an. Und ich weiß mich zu wehren.“
Es gab nichts mehr zu sagen. Sara fühlte sich wie ein ferner Beobachter, diese Szene hatte nichts Abschließendes, kein wirkliches Ende. Selbst, als sie sich wieder und wieder ins Gedächtnis rief, dass sie gleich zum letzten Mal in ihrem Leben die Cycala aus dem Raum gehen sehen würde, kam es ihr so unwirklich vor wie ein Traum, an den man sich nur mühsam erinnert.
Lennys nickte ihr ein letztes Mal zu. Ihr Blick war eindringlich, dann nachdenklich und schließlich vielleicht sogar ein wenig bedauernd, so als wolle sie noch etwas sagen, es dann jedoch verwarf. Wortlos ging sie hinaus und schon längst waren ihre Schritte verhallt, als Sara, allein in dem Schlafzimmer zurückgeblieben, endlich begriff, dass sie jetzt keine Herrin mehr hatte.
Kapitel 4
Es war leicht gewesen, den so neugierigen und immer wachsamen Mauern des Nebeltempels zu entfliehen. Niemand war im Treppenhaus gewesen, niemand in der Kräuterküche und auch im Garten draußen herrschte Totenstille. Lennys nahm kaum etwas um sich herum wahr, sondern schritt zügig in Richtung des nahegelegenen Waldrandes. Sie wollte dieses Kapitel ihrer Reise schnellstmöglich hinter sich bringen und es erfüllte sie mit Genugtuung, dass Beema weder ihre so hoch angepriesene Tempelführung noch eine große Abschiedszeremonie hatte durchführen können – mehr noch, sie ahnte noch nicht einmal, dass ihr Ehrengast sich bereits wieder auf der Weiterreise befand.
Morgen würde Sara es ihr sagen und vermutlich würde die Vorsteherin diese verspätete Nachricht nicht gerade freundlich aufnehmen. Lennys hatte deswegen kein schlechtes Gewissen. Die Novizin war nicht aus Zucker und vielleicht gefiel es ihr sogar, Beema ein wenig zu verärgern.
Der Wald roch ein wenig modrig, Feuchtigkeit breitete sich aus. Dem sonnigen Spätsommertag würde wieder eine kühle Nacht folgen, in der sich die empfindlichen Bewohner dieser Region behaglich vor den ersten Kaminfeuern des Jahres ausstreckten und heißen Tee aufbrühten.
Sie war allein hier. Und sie würde es die ganze Nacht bleiben. Endlich fern von Fragen, von Ratschlägen, von leerem Geschwätz. Diese kostbare Zeit würde nicht an Schlaf verschwendet, sondern einem gemessenen Gang in tiefen Gedanken und dem puren Genuss der Stille und der Freiheit gewidmet. Wie selten waren diese Momente geworden....
Die Reise hierher war hektisch gewesen, immer wieder begleitet von Mitgliedern aus der Gemeinschaft und vor allem von Menrir, der nahe Gahl auf sie gewartet hatte und bis Elmenfall nicht von ihrer Seite gewichen war. Von dort aus hatte sie denselben Weg nehmen müssen, der immer wieder von Händlern und Reisenden bevölkert war, da die Zeit drängte und ein Umweg nicht in Frage kam.
Sie hatte kein bestimmtes Ziel in dieser Nacht. Ob sie Akosh an diesem oder am nächsten Tag erneut aufsuchte, war nicht wichtig. Egal, wo ihr Weg sie jetzt hinführte, sie würde jeden Schritt der Ruhe auskosten.
Sara saß immer noch allein in dem Zimmer, das noch Stunden zuvor Lennys' Quartier gewesen war. Sie musste sich hier nicht verstecken, es wäre ja nicht ungewöhnlich, wenn der hohe Gast auch einmal allein sein wollte. Aber ihr stand nicht der Sinn nach Gesellschaft. Obwohl die Leere des Raumes sie niedergeschlagen machte, wollte sie ihn auch nicht verlassen. Er war das Letzte, was sie an diese kurze und besondere Zeit erinnerte. Sie hätte gerne etwas für Lennys getan, doch wusste sie noch nicht einmal, worum es wirklich ging. Tote Cycala, ein Feind – vielleicht aus der Vergangenheit -, ein Brunnen, der allem Anschein nach gar keiner war, ein Silberanhänger eines alten Dämonenkultes und geheime Zusammenkünfte des Sichelvolkes im Keller eines Goldschmieds. Was davon gehörte zusammen, was nicht? Was tat Lennys überhaupt? Versuchte sie wirklich, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Nein, sie war sich ihrer Sache doch schon sicher.... Sie wollte es beenden, ja. Aber wie? Wer war ihr Feind, wen wollte sie in die Schranken weisen? Menrir wusste es wohl, doch Sara wollte nicht fragen. Sie wollte auch nicht neugierig sein. Aber wenn es irgendetwas gab, was