Sichelland. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844236200
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die überraschten Blicke zu achten, schob Lennys die Umstehenden einfach zur Seite, bis sie direkt vor dem Baum stand - und vor dem, was davor lag.

      Die Kleidung des Mannes war nahezu vollständig in seinen Körper eingebrannt. Die wenigen Stellen an Armen, Beinen, Brust und Bauch, die nicht vom Russ geschwärzt waren, schimmerten im Rot blutigen Fleisches und ließen dunkel erahnen, dass noch vor Kurzem Leben in diesem Menschen gesteckt hatte.

      Lennys jedoch sah nur auf das Gesicht. Die Flammen hatten noch nicht hoch genug geschlagen, um es bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen, auch wenn die Haare vollständig versengt waren und die Haut von Blasen übersät war. Der starre Blick der Leiche schien ihr zu gelten, als wolle er ihr all das sagen, was sie sich gerade fragte. Doch sie verstand ihn nicht. Alles, was sie erkannte, war, dass ihre Befürchtungen gerade wahr zu werden schienen.

      Ein letztes Mal sah sie in das Gesicht des Toten. Es gab keinen Zweifel über seine Identität.

      „Was ist geschehen? Hat es jemand beobachtet?“ fragte sie kalt in die Runde. Obwohl sie eine Fremde unter Einheimischen war, schien niemand ihr Vorgehen in Frage zu stellen. Cycala waren im Allgemeinen hoch angesehen und es war kein Wunder, dass sich eine Gesandte des Sichellandes dafür interessierte, wenn in einer Stadt wie Goriol derartige Dinge passierten.

      „Nicht direkt...“ brummte der Wirt, ein glatzköpfiger, runder Hüne mit auffällig sanfter Stimme. „Wollte grade ins Bett geh'n, Hatte 'n volles Haus letzte Nacht. Und da hab' ich das Feuer gesehen. Bin gleich losgerannt, dachte, da brennt wieder mal 'ne Scheune oder so. Kommt ja oft vor im Sommer. Und da hab ich das hier gesehen. Aber bis ich Hilfe geholt hatte und löschen konnte, ... naja, da war's schon zu spät. Armer Kerl, hat nie jemandem was getan. Hab' ihn aber auch kaum gekannt.... Trotzdem, so muss man nicht draufgehen. Hat noch gelebt als ich kam. Aber dann ... hab's nicht schneller geschafft.“

      „Du kannst doch nichts dafür, Fagg.“ Sein Bruder klopfte ihm auf die Schulter. „Du hast dein Bestes getan und hättest dich dabei leicht verletzen können. Diese Schweine, wenn ich die erwische. Goriol is 'ne friedliche Stadt. Ja, Herrin, das isses!“ Seine letzten Worte galten Lennys.

      Doch die sagte nichts, drehte sich um und ging. Sara nickte kurz dem Wirt Fagg zu, aber er war schon wieder in ein Gespräch mit den anderen Anwesenden vertieft. Also beeilte sie sich, Lennys schnell wieder einzuholen.

      Als sie am „Rebstock“ vorbeigingen, blieb die Sichelländerin stehen.

      „Ist Menrir bei dem ganzen Theater nicht wach geworden?“

      Sara schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat mir einmal erzählt, dass er abends einen bestimmten Tee trinkt, der ihn besonders tief schlafen lässt.“

      „Dann wirst du jetzt zu ihm gehen und ihm notfalls den Tee wieder herausschütteln. Kommt beide so schnell wie möglich zu Akosh. Es ist mir egal, ob Menrir ausgeschlafen hat oder nicht!“

      Sie wartete keine Antwort ab, sondern war schon wieder auf dem Weg zum Haus des Goldschmieds.

      „Akosh, wach auf!“

      Lennys hatte weder angeklopft noch sich sonst bemüht, ihr plötzliches Erscheinen anzukündigen. Jetzt stand sie in einem großen, quadratischen Raum mit einem ausladenden Bett, ganz ähnlich dem, das man ihr im Tempel zur Verfügung gestellt hatte.

      Knurrend zog sich Akosh die Leinendecke über den Kopf und fuhr wütend auf, als die Cycala sie wieder herunterriss.

      „Was zum Henker....! Ach du bist es. Entschuldige bitte, Lennys. Normalerweise werde ich nicht so aus dem Schlaf gerissen.“

      „Agub ist tot.“

      „Was?“ Entsetzt starrte er sie an.

      „Es ist noch keine Stunde her. Zieh dich an, ich warte im Wohnraum auf dich.“

      Fassungslos hörte sich der Goldschmied einige Minuten später an, was geschehen war. Geistesabwesend nahm er die Sijakflasche, die noch auf dem Tisch stand, füllte einen Becher und stürzte den Inhalt hinunter. Lennys kommentierte das nicht, tat es ihm aber auch nicht gleich, sondern wartete ab, bis Akosh die Nachricht verdaut hatte. Es dauerte eine Weile.

      „Agub war ein guter Freund. Er war immer besonders vorsichtig. Ich verstehe das nicht.“

      „Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“

      „Gestern. Ich habe ihn auf dem Markt getroffen. Es war alles wie immer.“

      „Er hatte keine Familie, soweit ich weiß.“

      „Nein. Er war ein Einzelgänger, aber kein Griesgram und immer freundlich. Auch die Leute im Dorf mochten ihn. Was geht hier nur vor?“

      Lennys ging zum Fenster. Von Menrir und Sara war noch nichts zu sehen.

      „Hat man euch oft zusammen gesehen?“

      „Nein, ich glaube nicht. Er war manchmal hier oder wir haben ein paar Worte auf der Straße gewechselt. Aber nicht auffällig viel. Er hatte mit einigen Dorfbewohnern genauso häufig oder sogar noch mehr Kontakt, ebenso wie ich. Und was wir hier hinter meiner Tür besprochen haben, hat ja niemand mitbekommen.“

      „Und mit den anderen?“

      „Auch nicht viel mehr, soweit ich weiß. Wir sind uns unserer Situation durchaus bewusst. Und wir sind vorsichtig, schon immer. Keiner geht regelmäßig bei den anderen ein oder aus, kein Beobachter käme auf die Idee, dass uns etwas verbindet.“

      „Irgendjemand ist ganz sicher auf diese Idee gekommen, nur wissen wir nicht, wodurch. In Gahl hat alles angefangen. Dann Fangmor. Thau. Die Waldbrücke. Wieder Gahl. Und jetzt noch einmal Goriol. Die Vermissten nicht mitgerechnet, von denen ich nicht glaube, dass jemand überlebt hat. Es passiert im ganzen Mittelland, im Süden wie im Norden. Es trifft Familien und Einzelgänger, Händler und Krieger. Das einzige, was alle gemeinsam haben, ist ihre Herkunft.“

      „Du bist hierher gekommen, nachdem Morells Haus abgefackelt wurde. Hast du es da schon geahnt?“

      „Sonst wäre ich nicht hier. Es war der dritte große Anschlag, bei dem Cycala getötet wurden. Zwei weitere galten zu diesem Zeitpunkt schon als vermisst, nur wird darüber nicht geredet.“

      Plötzlich schien Akosh etwas einzufallen und er starrte Lennys lange an.

      „Du musst nach Hause gehen.“

      Lennys lachte kühl. „Gibst du mir jetzt Anweisungen?“

      „Nein, verzeih. Aber wir ... wir versuchen uns zu verbergen, uns zu schützen. Doch deine Heimat ist offenkundig und du bist die meiste Zeit allein unterwegs. Lennys, bitte... du musst doch auch daran denken, dass du....“

      „Dass ich was? Jetzt hör mir mal zu. Du wirst mir nicht sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Wenn sie schon wissen, dass Agub und Morell und all die anderen aus dem Sichelland waren, was sollte mir dann eine Verkleidung nutzen? Und wer, wenn nicht ich, kann sie finden? Wer, wenn nicht ich, kann sich ihnen entgegenstellen? Sag es mir! Na los! Nein, Akosh, diesmal ist deine Vernunft fehl am Platz. Wir werden nicht mehr darüber diskutieren.“ Sie funkelte ihn warnend an und Akosh zog es vor, nicht weiter darauf einzugehen. Er warf einen Blick aus dem Fenster.

      „Da kommen zwei Leute die Straße herunter. Das werden Menrir und das Mädchen sein.“

      „Warte einen Moment.“ Lennys hielt den Schmied zurück, der gerade in den Flur gehen wollte, um die beiden Gäste hereinzulassen.

      „Du wirst mir alles sagen, was du in Erfahrung bringen kannst. Und du wirst alles tun, was nötig ist, um dem ein Ende zu setzen. Du weißt, was ich damit meine.“

      Er nickte. „Die Geschichte wiederholt sich...“

      „Vielleicht tut sie das. Aber wenn... dann wird sie diesmal ein anderes Ende haben. Mach dich bereit und sorge dafür, dass es niemanden unvorbereitet trifft.“

      Von der Straße her waren undeutliche Stimmen zu hören. Anscheinend hatte Menrir Schwierigkeiten, mit Saras Tempo Schritt zu halten und bat sie, langsamer zu gehen. Akosh stand auf.