Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
Скачать книгу
so gut, Ascher, so weit, so gut. Ich habe mir erlaubt, Sie ein wenig zu beobachten in den letzten Tagen. Fleißig sind Sie ja, das muss man Ihnen lassen. Offensichtlich wollen Sie tatsächlich etwas wissen. Weiterkommen, wie? Karriere machen als Reporter – eventuell?»

      Woher kennt er meinen Namen? Ach ja, mein Teilnehmerschild auf dem Jackett, dass mich als Pressevertreter ausweist. Er hingegen trägt keinerlei Kongressausweis. Mit den Fingern seiner Linken, graue Handschuhe, vollführt er eine affektierte Drehbewegung. Er verunsichert mich, spricht korrektes Deutsch mit amerikanischem Akzent. Nein, er ist nicht blind. Aber eigenartig.

      Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Liegt das an dem dritten Cappuccino heute? Als ob ich halluziniere. Zahllose Interviews mit psychischen Medien, Zeugen und ausländischen Erfindern habe ich absolviert, stets bemüht, eine passable Ernte einzufahren, immer erst nach hochnotpeinlicher Selbstkritik die Spreu vom Weizen getrennt, die Guten ins Töpfchen, die Schlechten verworfen. Da macht seine Ironie auf eine gewisse Weise Sinn. Vielleicht liege ich ja falsch mit meinen Vermutungen über die Verschleierungen bei den modernen Energieformen; gerade weiß ich selbst nicht mehr, was ich glauben soll. Perpetuum mobile, Nullpunktenergie, Tachyonen-Beschleuniger: für den Sohn eines schuldbeladenen Landes, das gerade knapp 45 Jahre Umerziehung hinter sich gebracht hat, erweist sich das visionäre Material dieses Konvents als starker Tobak, selbst für mich. Bin nur ein Fotograf und Dokumentarist, der um seine Miete kämpft, kein Physiker. Was werden die Redakteure im Sender sagen? Wahrscheinlich darf ich über den Konvent nur als Kabarettnummer berichten; Satire verkraftt man bezüglich dieses Themas gerade noch. Doch die Leute meinen es hier ernst. Und ich auch, im Prinzip.

      «Mein Name ist Spiegel, angenehm», unterbricht er meine internen Adrenalinstöße. Warum fühle nur ich mich in seiner Gegenwart so merkwürdig?

      «Meine recht lange, aktive Arbeitsphase kommt nun bald an ihr Ende. Da dachte ich, ich besuche einmal eine solche Konferenz. Wie ist es für Sie gelaufen hier? Sie sind ja noch ein Neuling auf dem Gebiet – wie ich sehe.»

      Woran sieht er das? Jetzt bloß nicht patzen, es ist definitiv der falsche Augenblick. Im Prinzip soll er mir egal sein, aber vielleicht hat er was, einen Job, eine Information. Immer schön vorsichtig. Profi bleiben. Tief einatmen, Energie im Hara halten, Hirn in Bewegung setzen – und los.

      Innerhalb von 5 min 10 s liefere ich ihm einen Report, den ich im Wortlaut so ähnlich auch am kommenden Tag live in einem Rundfunksender der Noch-Frontstadt abgeben werde. Mein Hirn ist eine Festplatte, merkt sich alles Neue, kann wiederholen, Anmerkungen und wörtliche Rede abspulen. Darum bin ich Dokumentarist geworden. Wahrnehmungen authentisch wiederzugeben benötigt genau die Konzentration, über die ich verfügte. Vergangenheitsform.

      Es amüsiert mich, dass ich es trotz Überlastung noch drauf habe, strahle nach vollzogenem Bericht den alten Herrn gegenüber triumphierend an.

      Spiegel senkt leicht den Kopf, bewegt geschmäcklerisch Mund und Nase hin und her, blitzt mich schließlich durch seine getönten Gläser an. Selbst durch die dunkle Brille ist zu erkennen, dass er gerötete Augen hat wie ein lichtscheuer Albino. Was will er?

      «Es ist mir klar, dass Sie Aufregendes erfahren haben, mein Junge und nun natürlich mehr wissen wollen. Ihre Recherchen waren recht anständig. Es gefällt mir, wie Sie Fragen stellen und mit Feingefühl und Druck schnell auf den Punkt kommen. Sie verfügen über Charme, das ist selten in Ihrer Branche. Emotionale Intelligenz und Einfühlungsvermögen sind in unserem Ressort durchaus brauchbar.»

      Er beugt sich vor, kommt nah an mein Gesicht. Atmosphärisch ist nichts Bedrohliches zu spüren. Sein Atem riecht nach Bittermandeln.

      «Es gibt in meinem Sachbereich leider nicht so viele talentierte, universelle Dilettanten. Sehen Sie das nicht als Beleidigung, keineswegs. Es ist absolut anzuerkennen, wenn jemand wachsen will.»

      Worauf will er hinaus? Der Mann in Schwarz besitzt jetzt meine volle Aufmerksamkeit. Er registriert, dass ich ihm zuhöre.

      «Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Art der Persönlichkeitsentwicklung, wie Sie sie betreiben, fröhliche Wissenschaft, Meditation, Therapie und gutes Essen, in zehn bis zwanzig Jahren in dieser individualistischen Form nicht mehr existieren wird. Einige Dinge werden wir in den Zeitgeist überführen, andere, die meisten, wie ich fürchte, wird der Strom der Zeit verschlucken. Sie und ich, werden dann etwas vermissen.

      Die natürliche geistige Evolution gelangt dann erst einmal an ihr Ende.»

      «Und dann?»

      «Danach übernehmen die Maschinen. Auf der Erde herrscht eine große Vermischung, verstehen Sie. In Kürze, wenn die Mauer fällt, ich sag es Ihnen schon einmal, werden Sie sehen, was ich damit meine. Da braucht es andere Maßnahmen zur Steuerung der Wirklichkeit und Aufrechterhaltung der Ordnung.»

      «Wer sind Sie?», entfährt es mir nervös. Der ist noch härter als meine UFO-Kontaktler.

      Es kommt wie aus der Pistole geschossen, ich habe keine Chance: «Dazu kommen wir etwas später. Zunächst dies: Wissen Sie, was ein Algorithmus ist?»

      «Nein. Sollte ich?»

      Er zieht einen Mundwinkel hoch, kichert hintergründig. «Ich denke schon. Aber vielleicht ist das ja nicht so Ihr Gebiet. Kommt für Sie alles noch … vielleicht.»

      Dann legt er los mit seinen Definitionen, hört sich selbst dabei an wie ein Roboter:

      «Ein Algorithmus ist eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten. Somit können sie zur Ausführung in einem Computerprogramm implementiert, aber auch in menschlicher Sprache formuliert werden. Und ich sage Ihnen, verehrter Ascher, mein Wort darauf: Ich tippe etwa so gegen 2013/2014, möglicherweise schon etwas früher, ist es so weit. Es sind die Algorithmen, die die Maschinen für Menschen so gefährlich werden lassen. Sie erkennen jegliche Muster, jegliche! «

      Mit einer kantigen Kopfbewegung schnuppert er an seiner Nelke am Revers. Es sieht aus, als ob er zu der Blume weiter spräche, die ich von meinem Platz aus, zwei Meter entfernt, riechen kann.

      «Bis dahin haben wir alle noch ein bisserl an unserer Makellosigkeit zu arbeiten, nicht wahr, nicht? Vor allem Sie! Sie meinen es doch ernst, oder?»

      «Why not?», versuche ich es altklug, weil ich sicher bin, einen US-amerikanischen Akzent herausgehört zu haben. Spiegel nickt, geht locker darüber hinweg, dass ich eine englischsprachige Herkunft erahne.

      «Lassen Sie sich als Erstes sagen, was Sie benötigen. Es ermangelt Ihnen nämlich, neben Ihrer zu saloppen Kleidung, noch an etwas anderem, viel Wesentlicherem. Eventuell interessiert Sie das ja, ich möchte mich nicht aufdrängen.»

      Luft holen, ruhig atmen, Klappe halten. Abnicken. Er bestätigt meine Reaktion ebenfalls mit einem Kopfnicken.

      «Zunächst einmal sollten Sie abwarten können. Wie ein Jäger in seinem Hochsitz im Morgengrauen. Denken Sie immer daran, dass es so etwas wie Zeit nicht gibt. Wir kennen das einfach nicht. Schauen Sie, Ascher, Sie zum Beispiel. Dies ist ihr Leben – in einer Nussschale.»

      Er beschreibt meinen längst verstorbenen Vater und mich, die kleine Wohnung am Nordrand des Ruhrgebiets in der Bergmannssiedlung, erwähnt sogar den Leberfleck auf meinem Rücken. Er schafft mich. Erschöpft sinke ich zurück in den Stuhl, stiere gedankenlos vor mich hin.

      «Das Zweite ergibt sich aus dem Ersten», lächelt er und schnuppert kurz an der Nelke am Revers.

      Wie? Was?

      «Was für die Zeit gilt, hat, wie Sie eventuell erahnen können, immer auch für den Raum in gewisser Weise eine Bedeutung. Was ist der Raum denn mehr als eine Konstruktion, die uns die Illusion vorgaukelt, dass es voneinander getrennte Objekte gäbe? Where do you want to go today? Jemand wie Sie könnte überall etwas werden. Besonders bei Ihren Talenten, der naiven Neugier und Kommunikationsfähigkeit. Indes: Das Maß der Sichtbarkeit hängt davon ab, wie weit Sie in der Lage sind, sich unsichtbar zu machen, um von der Bildfläche zu verschwinden. Schauen Sie!»

      Nun