Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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zur Energieversorgung existiert, schließlich kommt der Strom aus der Steckdose und ist seit Kriegsende ständig irgendwie vorhanden. Über seine Herkunft und den immer noch durch Kohlenstaub aus den Kraftwerken der DDR verursachten Wintersmog beginnt man gerade erst nachzudenken. Nichts an Selbstkritik ist sichtbar vor Tschernobyl. Erst nach dem Genuss von verstrahltem Hirschgulasch mit Pilzen macht sich die grüne Bewegung auf, dem radioaktiven Tod ein Schnippchen zu schlagen und Gaia, die heilige Mutter Erde, einer willfährigen Rettung zu überführen.

      Überhaupt: Immer wieder anfangen, alles Visionäre willkommen heißen; mit heiterem Handauflegen werden wir Ärzte überflüssig machen, im Namen der Selbstermächtigung wollen wir vorangehen als Helden des kommenden Zeitalters. Die Fähigkeit der Trümmerfrauen, sich selbst zu helfen, gar am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen – selbst sind hier Mann und Frau – das halten wir hoch, solange es geht. Wer war noch gleich das Volk?

      Bis die zarten Alternativstrukturen von den Generatoren erfahren, die ihre Energie aus dem Äther zu saugen vermögen, genauso wie Menschen auch. Eine Vision. Macht hoch die Tür, das hört sich vielversprechend an, besser als alle Hippieträume zusammen. Nicht genug bekommen wir davon zu hören, lernen, forschen, was das Zeug hält. Neben den neuen Technologien, solar Angetriebenes, Wind, Wasser und den Rest vom Fest, interessieren mich Ingenieure und Bastler, die in ihren Garagen, Kellern und Dachkammern der Stadt vor sich hin wursteln. Sie sprechen mit großen Augen von dem unendlichen Meer an Energie, das man maschinell anzapfen könne. Gibt es das wirklich oder entspringen diese Fantasien nur dem Wunschdenken?

      Als Dokumentarist suche ich Leute auf, die damit zu tun haben, behaupten, Aggregate und Lichtmaschinen konstruieren zu können, die Strom aus dem Überall saugen. Doch so weit ist es noch nicht. Im Moment existiert all dies nur in den Köpfen oder auf dem Papier, wird allein von den ewig Gestrigen und ihren historischen Erinnerungen gespeist. Soll ich denen glauben? Darf ich das? Wann macht denken frei? Wo ist die Grenze? Zumindest gilt es, guten Geschmack zu bewahren. Schon immer.

      Ein Kongress über unbekannte Phänomene jagt den nächsten im alternativen Berlin der 80er Jahre. Es scheint, als ob der Rest der Welt der Stadt ihren Geist aufzwingen will.

      Wie auf dem Laufsteg präsentieren sich Gruppierungen und Sekten aller Art. Wie heißt die Mehrzahl von Unikum? Mitglieder einzelner Fraktionen aus Osteuropa lassen im Verlauf heiliger Gesänge Goldzähne und Plomben nachwachsen. Russische Yogis stellen sich vor, die mit Röntgenblick durch Mauern sehen können, amerikanische Hünen, die in den Wäldern von Wyoming mit kleinen Außerirdischen tanzten. Einer befreundeten Chirurgin empfiehlt genau jener Riese, in Operationssälen anstatt mit Metall besser nur noch mit Keramikmessern zu hantieren, da die Wunden so schneller verheilten. Warum nicht? Design soll sein.

      Einer Eingebung Folge leistend beschließe ich, einen Kongress für Grenzwissenschaften und alternative Energien zu besuchen. Dokumentaristen und Reporter verkaufen gerade alles Originelle aus diesem Bereich: Fotos, Tondokumente, aktuell oder für die Archive. Insbesondere verschrobene Ideen und findige Exoten stehen für das Improvisationstalent des diskret besetzten Landes und der vermeintlich freien Stadt im Wirtschaftswunder. Es lebe der menschliche Erfindergeist!

      Bereits auf den Pressekonferenzen bekommt die Öffentlichkeit Kuriositäten zu hören, die geeignet sind, den inneren Montagepunkt deutlich weiter als erlaubt in Richtung Transzendenz und Vielfalt zu verschieben. Möchten wir wirklich dorthin, wo es auch noch einen echten Himmel mit Geistern, Engeln und UFOs gibt – und ein Kaninchenloch, in dessen Untiefen alles machbar erscheint? Hoch ist tief und weit ist nah. Was geht? Woran wollen wir uns ausrichten in diesem irgendwann vereinten Deutschland? Es gibt Arbeit für mich: sammeln, sortieren, gewichten, entscheiden. Welcher Geist soll siegen? Kann ich Einfluss nehmen?

      Hier treffe ich auf russische Generäle, die von Begegnungen mit vier Meter großen außerirdischen Robotern sprechen. Ein Blick in ihre Augen, und ich bekomme ein klasse mulmiges Gefühl.

      Ein weißhaariger pensionierter Deutscher berichtet nostalgisch und mit heiligem Ernst von der Wiederentdeckung eines Antriebssystems, das seine Weggefährten erstmals in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts nach Zeichnungen aus alten indischen Schriften nachbauten, eine Maschine, die mit rotem Quecksilber funktionierte und wirklich flog. Das vedische Ramayana-Epos, Tausende von Jahren alt, scheint unserer Zeit weit voraus. Mal mehr asiatische Mythologie lesen, gelobe ich und die Zukunft gerät kurzfristig zu einer Erinnerung an die Vergangenheit. Ein ewiger Kreislauf. Wer bin ich, das zu beurteilen, denke ich, setze meine Erfahrungen in Krankenpflege zur Bildung von Toleranz und Ausdauer ein. Alles Wahnsinnige hier, ein Käfig voller Narren, aber interessant. Warum nicht, solange es Spaß macht?

      Drei Tage renne ich mit dem Mikrofon herum, sammele Prospekte, befrage Informanten. Man spricht allgemein von einer neuen Epoche, die bald anbräche, in der unglaubliche Dinge geschähen, sich Potenziale in uns freisetzten, von denen wir nicht einmal wüssten, dass wir sie besitzen.

      Ohne Wertung häufe ich Daten an, nehme stundenlang Tonbänder auf, schieße Fotos für Agenturen, hoffe, dass es mir später gelingen wird, die Spreu vom Weizen zu trennen, bemühe mich, meine Vorurteile zu revidieren, bin nur wissensdurstig. Das eigene Innere ist das eigentlich zu entdeckende, unbekannte Land, die wirkliche Terra incognita.

      Landkarte beschreiben. Speicher füllen. Upload. Was glaubst du?

      Die Rechner von heute arbeiten schnell, aber vor dem Internet ist die Datenverarbeitungsanlage im Kopf das Medium der Wahl. Unerfüllte Sehnsüchte machen Platz für Fantasie. Der Computer, das bin ich. Selbst denken hilft ungemein dabei.

      Aber es war überheblich anzunehmen, wir wären bei unseren kindlichen Abenteuern allein und unabhängig, könnten tun und lassen, was immer wir wollten, würden bei all unseren Aktivitäten nicht genauestens beobachtet. Das genaue Gegenteil war der Fall.

      Ohne es zu merken, laufe ich in seine Falle. Ein blinder Fleck, vielleicht. Jeder hat ja so was, irgendwo.

      Am vierten Tag des Konvents, einem Sonntag, sehe ich ihn zum ersten Mal. Er sitzt hinten rechts in der Cafeteria des Kongresszentrums. Für einen Moment verbuche ich ihn als blinden Mann, der in der Ecke Platz genommen hat und alleine Hof hält. Eine Sonnenbrille in einem geschlossenen Raum bemerke ich, dazu ein schwarzer Anzug, Krawatte, weißes Hemd, Nelke im Knopfloch, diese altmodische Melone und ein Gehstock mit Silberknauf. Overdressed sagt man heute dazu. Damals ging es so gerade noch. Unpassend gekleidet erschien er mir. So hat der Bestatter in Dortmund auch ausgesehen. Ein Engländer möglicherweise, vermute ich, belauere ihn mit meinem angelesenen, schamanisch-castanedaschen 180-Grad-Blick aus den Augenwinkeln heraus. In einem bestimmten Winkel kann ich mich auch wegdrehen und ihn über die Spiegelung in den Brillengläsern observieren. Beobachten, ohne zu fokussieren ist mir zu anstrengend heute. Wie ich überhaupt das Gefühl nicht loswerde, dass hier jeder jeden beobachtet. Kein Unterschied scheint mehr zu existieren zwischen privat und öffentlich in der kulturellen Wirklichkeit Westberlins.

      Einige Tonaufnahmen ergeben bei der Überprüfung zu Hause nur weißes Rauschen von sich und die Negative von ein paar Filmen mit Fotos sind bemerkenswert unbrauchbar. Geschwärzte Filmrollen, nicht schön. Wie machen sie das nur? Vielleicht sollte ich schlicht heimfahren, Feierabend machen. Beim Bezahlen des letzten Cappuccinos für den Tag an der Theke winkt er mich heran. Ob ich mich nicht zu ihm gesellen wolle. Warum nicht? Eventuell noch ein Informant. Oder, besser: eine Gelegenheit zur Entspannung.

      Das Aufnahmegerät lege ich neben das Tischbein, puste vorsichtig über den Milchschaum, dessen warmer Dampf sich als feiner Nebel auf die Brille setzt. Durch beschlagene Gläser nehme ich den Mann in Schwarz mir gegenüber ins Visier. Der Silberknauf seines Gehstocks oszilliert in meinem eingenebelten Brillenglas in allen Farben, genauso wie die Skulptur des Messingfalken hinter ihm. Fertig bin ich, einfach fertig. Drei Tage lang das Mikrofon hinhalten, immer nur zuhören, Fragen stellen. Mir ist ein bisschen schwindelig. Ich habe genug. Basta. Der Kaffee schmeckt merkwürdig metallisch. Vielleicht bin ich das ja selbst – metallisch –, sollte mehr Wasser trinken.

      Für einen Blinden spüre ich den Mann in Schwarz recht intensiv. Muss an der Erschöpfung liegen. Er betrachtet, erfühlt mich durch die undurchsichtige Sonnenbrille, schenkt mir ein schmallippiges Lächeln. Zumindest sieht es so aus, denn die Mundwinkel sind leicht