Sonne am Westufer. Fabian Holting. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Holting
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847631798
Скачать книгу
durch den Kopf gingen. Da ihm schon bald klar wurde, dass er heute unmöglich etwas zu Papier bringen konnte, versuchte er sich abzulenken, indem er sich die Schlagzeilen der Online-Ausgaben der großen Tageszeitungen und Wochenzeitschriften ansah. Zu guter Letzt rief er seine E-Mails ab. Sie haben neun neue Nachrichten, teilte ihm ein kleines Textfenster mit, das aus der Taskleiste am unteren Bildschirmrand herausgefahren kam, noch ehe er sehen konnte, von wem er die Mails bekommen hatte. Bessell scrollte weiter nach unten. Die üblichen Nachrichten, hauptsächlich Werbemails von Reisveranstaltern, bei denen er sich irgendwann nach einem Reiseziel erkundigt hatte und Newsletter, für die er sich schon lange nicht mehr interessierte, aber zu bequem war, sie abzubestellen. Die letzte Nachricht war dagegen von Saskia, natürlich nicht von zu Hause mit dem privaten E-Mail-Account versendet, sondern von der Zeitungsredaktion aus. Bessell öffnete die Mail.

       Hallo Marco,

       habe gerade nicht viel Zeit, wollte dir nur schnell mitteilen, dass ich dich heute im Laufe des Tages anrufen werde.

       Viele Grüße Saskia

       P. S. Deine Telefonnummer im Tessin habe ich übrigens von deiner Mutter bekommen. Sie lässt dich ganz herzlich grüßen.

      Bessell schüttelte den Kopf. Die Telefonnummer hatte er Saskia schon vor Monaten mitgeteilt. Wahrscheinlich war sie wieder zu beschäftigt gewesen, um sich daran zu erinnern. Aber egal, dachte er, vielleicht wollte sie mit ihm gemeinsam jetzt endlich das Notwendige in die Wege leiten, um die Trennung auch juristisch vollziehen zu können. Ihm fiel sein Anrufbeantworter ein, den er schon seit Wochen liegen hatte, ohne ihn angeschlossen und in Betrieb genommen zu haben. Jetzt, wo er seinen Mobiltelefonvertrag gekündigt hatte, wollte er wenigstens durch den Anrufbeantworter den Menschen das Gefühl geben, er sei nicht ganz aus der Welt verschwunden. Außerdem hatte es den Vorteil, dass er sich in Ruhe überlegen konnte, wen er zurückrufen wollte oder bei wem er es lieber bleiben ließ. Wenn er schrieb, ertappte er sich in der letzten Zeit immer häufiger dabei, dass er das Telefon einfach klingeln ließ. Zuweilen ging es ihm aber auch auf die Nerven, weil es manchmal endlos lange zu läuten schien, bis die Anrufer endlich aufgaben. Auch das ließe sich mit einem Anrufbeantworter lösen. Seine Mutter rief ihn öfter an, meistens am frühen Abend, und wenn er zu dieser Zeit nicht da war, dann rief er sie einfach später zurück, weil er wusste, dass sie sich darüber freute. Bessell stand auf und ging zum Sofa. Er bückte sich und ging schließlich in die Hocke, als er merkte, dass er die Verpackung nicht gleich zu fassen bekam, in welcher der Anrufbeantworter noch unangetastet lag. Dann klingelte es an der Haustür. Bessell erschrak förmlich, stand aus der Hocke auf, die Verpackung mit dem Anrufbeantworter in der Hand. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war elf Uhr vormittags. Mit Frau Hengartner rechnete er erst am Nachmittag, so dass ihm der unangenehme Gedanke kam, es könnte wieder Favalli sein, der ihm bereits am frühen Morgen den Nerv geraubt hatte. Zögerlich ging er zur Haustür und öffnete. Es war Frau Hengartner. Er sah sie überrascht an. Sie hatte eine rote Hardshell-Jacke mit schwarzen Reißverschlüssen an und versuchte ein Lächeln in ihr bekümmertes Gesicht zu zaubern. Es gelang ihr nur wenig überzeugend. Sie sah auf die Verpackung in seiner Hand.

      »Oh, sind Sie noch beschäftigt, komme ich zu früh?«

      »Nein, nein, überhaupt nicht. Ich muss das hier nur schnell weglegen und meinen Laptop herunterfahren.« Bessell bat sie, noch für diesen Augenblick hereinzukommen. Doch sie lehnte ab und wollte lieber vor der Haustür auf ihn warten. Bessell beeilte sich. Jetzt wo er den Anrufbeantworter schon in Händen hielt, konnte er ihn auch noch schnell anschließen. Die Wohnung war in dieser Hinsicht gut ausgestattet. In jedem Zimmer waren ausreichend Telefonsteckdosen. Der Anrufbeantworter fing an zu blinken. Die Standardeinstellungen wurden übernommen. Das sollte zunächst reichen. Änderungen und das Aufsprechen eines individuellen Ansagetextes konnte er noch später vornehmen. Bessell fuhr den Laptop herunter, nahm sich die Jacke von der Garderobe, zog sich Schuhe an und ging zur Haustür. Alles zusammen hatte keine fünf Minuten gedauert. Frau Hengartner empfing ihn mit vor der Brust verschränkten Armen. Obwohl Bessell es recht mild fand, schien ihr wieder kalt zu sein.

      »Haben Sie gute Schuhe dabei, damit wir ein vernünftiges Stück wandern können?« Ihre Stimme klang fürsorglich. Bessell sah an sich herunter. Er hatte seine mit Lammwolle gefütterten hellen Lederschuhe angezogen, die ihm über die Knöchel reichten und ein anständiges Profil mit dicker Sohle hatten.

      »Wenn Sie nicht bis zum Gipfel hinauf wollen, dann müssten die Schuhe geeignet sein für eine tüchtige Wanderung«, erwiderte Bessell und Frau Hengartner lächelte und diesmal umspielte ihr Lächeln nicht nur zaghaft ihren hübschen Mund, sondern auch ihre Augenpartie. Sie gingen zum Wagen. Die Rück- und die Blinklichter an den Außenspiegeln leuchteten kurz auf. Frau Hengartner hatte die Fernöffnung betätigt. Bessell öffnete die Beifahrertür. Noch bevor er eingestiegen war, fragte sie ihn über das Autodach hinweg.

      »Ach, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie den Wagen fahren? Ich glaube ich bin noch etwas zu unkonzentriert.« Bessell nickte stumm, ging um die Kühlerhaube herum und streckte seine Hand aus.

      »Das ist kein Problem. Ich fahre gern«, sagte er und Frau Hengartner gab ihm den Autoschlüssel. Dabei berührten ihre Fingerspitzen zärtlich die Innenfläche seiner Hand. Bessell machte sich kurz mit dem Wagen vertraut. Der Schlüssel musste zum Starten des Motors nur hineingedrückt werden, davon hatte er schon gehört.

      »Wohin fahren wir?«, erkundigte er sich, als der Motor lief.

      »Wenn Sie nichts dagegen haben, dann würde ich gerne mit Ihnen auf die andere Seeseite nach Locarno fahren und dann sehen wir weiter.« Bessell war einverstanden. Er lenkte den Wagen vorsichtig und mit wenig Gas auf die Straße. An der Hauptstraße musste er anhalten und einige Autos durchlassen. Der Fahrzeugtross, der offenbar die Polizeitaucher herbeigeschafft hatte, stand noch in der Straße. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tauchten zwischen den Häusern Favalli und Caroni auf. Sie waren vom Seeufer die wenigen Stufen auf dem Gemeindefußweg heraufgestiegen, um bei Carla Menotti einen Kaffee zu trinken. Wie bestellt, starrten sie herüber und erkannten Bessell und Frau Hengartner hinter der Windschutzscheibe. Bessell verkniff sich ein Hinüberwinken, bog bei der nächsten Gelegenheit in die Hauptstraße ein und gab anständig Gas. Wie auch gestern schon, schien die Sonne auf die kahlen Wälder auf der anderen Seeseite. Der See lag wieder ruhig zwischen den Bergen. Frau Hengartner sah Bessell von der Seite an.

      »Es tut mir leid, dass die Polizei Sie immer wieder behelligt, nur weil Sie unser Nachbar sind. Dieser Favalli ist aber auch ein unangenehmer Typ.«

      »Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Der Zufall hat es so gewollt und gegen den kann sich niemand zur Wehr setzen.« Bessell sagte es ganz ruhig und es klang beinahe so, als würde es ihn gar nicht belasten, was aber nicht stimmte. Frau Hengartner ging nicht weiter darauf ein. Schweigend fuhren sie durch die letzten Seedörfer auf der Nordostseite des Lago Maggiore. Dann verschwand die Enge des Gambarogno mit den steil zum See herabfallenden Berghängen des Monte Tamaro, den mühselig in den Hang gebauten Villen und den oft Schulter an Schulter stehenden alten Häusern an der Uferstraße. Vor ihnen lag die Magadinoebene. Bessell fuhr in einen Kreisel, nahm die Ausfahrt Richtung Locarno und beschleunigte den Mercedes wieder zügig bis auf achtzig Kilometer pro Stunde. Er wollte nicht angeben, aber er war es nicht gewohnt, ein Auto mit einem so kraftvollen Motor zu fahren. Sie überquerten den Fluss Ticino. Zu beiden Seiten erstreckten sich Wiesen und Äcker bis zu den Berghängen und hinauf nach Bellinzona. Frau Hengartner drehte sich danach um.

      »Die Magadinoebene war vor der Flusskorrektur ein Sumpfland«, sagte sie und ihre Stimme klang zufrieden, als hätte sie gerade eben etwas hinter sich gelassen und für immer damit abgeschlossen.

      »Nach starken Regenfällen steht hier aber manchmal noch immer alles unter Wasser und von der Landschaft ist nicht mehr viel zu sehen.« Bessell sah sie für einen kurzen Augenblick von der Seite an. Sie hatte ein hübsches Profil.

      »Haben Sie sich schon entschieden, wo wir den Wagen stehen lassen wollen?« Frau Hengartner sah ihn an. Bessell fuhr in einen noch größeren Kreisel hinein.

      »Zwischen Gordola und Brione wachsen gute Weine. Dort kann man um diese Zeit sehr schön spazieren gehen. Aber