Sonne am Westufer. Fabian Holting. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Holting
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847631798
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im Kleid gesehen und er wusste, dass sie eine hübsche und sportliche Figur hatte. Schweigend stiegen sie die Treppenstufen hinauf zur Straße. Die Pforte quietschte wieder. Frau Hengartner hielt sie ihm auf und dabei sah sie, wie sehr er sich mit seinen Einkäufen in der Klappbox abmühte.

      »Kommen Sie, ich fasse mit an. Vom Tragen wird mir wieder warm.«

      Gegen dieses Argument konnte er nichts einwenden. Außerdem hatte sie recht, das Tragen der Klappbox vor dem Bauch war auf Dauer sehr anstrengend. Sie nahmen die Box in die Mitte. Bessell ging direkt an der Straßenseite, so wie es sich für den rücksichtsvollen Mann gehörte. Der Fußweg war sehr schmal und Bessell musste hin und wieder einen Fuß auf die Straße setzen, um nicht am Bordstein abzurutschen.

      »Wissen Sie, dort unten am See, dort wo man meinen Mann gefunden hat, das war immer unsere Badestelle im Sommer.« Sie warf ihm einen traurigen Blick zu.

      »Es ist eine sehr schöne Stelle, meistens sehr ruhig und mit wenigen Leuten. Wir haben uns dann immer zwei leichte Klappliegen mit hinuntergenommen. Und manchmal, wenn wir am späten Nachmittag nochmals hingingen, dann haben wir eine Flasche Rotwein und zwei Gläser dabei gehabt. Richtige schöne Stilgläser, und Bücher nahmen wir auch meistens mit. Die Leute müssen uns für verrückt gehalten haben.«

      Bessell wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Ihre Stimme verriet Trauer, hatte aber auch einen sarkastischen Unterton, als ob diese schönen Erinnerungen mittlerweile einen nachhaltigen Schaden erlitten hatten, der nicht wiedergutzumachen war. Bessell kam die ganze Situation plötzlich grotesk vor. Er ging einträchtig mit einer Frau, die er kaum kannte und die vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden ihren Mann verloren hatte, durch einen Schweizer Uferort am Lago Maggiore, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Diese Frau war zudem gerade dabei, ihr Herz vor ihm auszuschütten und alle Leute, die jetzt auf der Straße waren oder an ihren Fenstern standen, konnten dabei zusehen. Das Eigenartigste war aber, dass er noch vor wenigen Stunden steif und fest behauptet hatte, mit dieser Frau nicht näher bekannt zu sein. Bessell sah hinüber zu Carla Menottis Café. Hinter den Fenstern war kein Licht zu sehen, doch ihr silbergraues Jaguar Coupé stand am Bürgersteig. Und passend zur Gelegenheit ging im nächsten Moment die Tür des Cafés auf und Carla Menotti trat hinaus aufs Trottoir. Sie nickte Bessell und seiner Begleiterin wortlos zu. Ein Schlüsselbund klirrte in ihrer Hand. Mit verblüffter Miene wandte sie sich schließlich ab und ging zu ihrem Auto. Dabei warf sie einen letzten Blick auf die beiden. Bessell und Frau Hengartner überquerten die Straße hinter einem lauten Lastwagen.

      »Wollen wir eine kurze Pause einlegen?«, fragte er aufmunternd.

      »Ja«, sagte Frau Hengartner zögerlich, drehte sich um und sah quer hinüber auf die andere Straßenseite, dort, wo der Gemeindefußweg zwischen den Häusern hinunter zum kleinen Kiesstrand führte.

      »Ich glaube, ich werde nie wieder dort hinuntergehen können«, sagte sie erschöpft ausatmend und mit gequälter Stimme.

      »Das kann ich gut nachvollziehen. Übrigens habe ich den beiden Kommissaren auch erzählt, dass ich gestern Abend, gleich da vorne, einen BMW mit rumänischem Kennzeichen gesehen habe.«

      Frau Hengartner sah ihn neugierig an. Ohne ein weiteres Wort, steckte sie wieder ihre Hand in die Griffmulde der Klappbox. Bessell tat es ihr gleich und gemeinsam gingen sie das letzte Stück die Straße hinauf, passierten die Eisenbahnunterführung, und als sie nur noch wenige Meter vor sich hatten, murmelte Frau Hengartner, so leise, dass Bessell es gerade eben hören konnte:

      »Wer nimmt sich bloß das Recht heraus, einfach einen Menschen zu töten, nur weil er vielleicht gerade zur falschen Zeit am falschen Ort war?« Dann fragte sie halblaut:

      »Meinen Sie wirklich, der BMW, könnte demjenigen gehört haben, der meinen Mann getötet hat?«

      »Ich weiß es nicht, das wird sicherlich die Polizei herausfinden.«

      Bessell nahm ihr die Klappbox aus der Hand und trug sie vor seine Haustür. Frau Hengartner lachte kurz und hell auf.

      »Glauben Sie das wirklich? Wissen Sie, welchen Eindruck ich von den beiden Kommissaren hatte?« Bessell schüttelte den Kopf.

      »Die denken wohl eher, dass ich meinen Mann erschlagen habe, schließlich wollten wir uns ja scheiden lassen und lebten im ständigen Streit.«

      »Haben sie diese Vermutung Ihnen gegenüber geäußert?«, fragte Bessell.

      »Nein, aber es war deutlich aus ihren Fragen herauszuhören, glauben Sie mir.« Frau Hengartner gab Bessell die Hand. Ihre Augen leuchteten jetzt förmlich und sie sah wieder etwas frischer aus. Bessell konnte nicht widerstehen, ihr kurz auf den Mund zu sehen. Trotz seines flüchtigen Blicks, schien sie es bemerkt zu haben. Nachdem sie sich schon abgewandt hatte, fuhr sie noch einmal herum und fragte ihn:

      »Haben Sie Lust und Zeit, mit mir morgen einen kleinen Ausflug in die Berge oder nach Locarno zu machen? Ich glaube ich könnte etwas Ablenkung gebrauchen und würde mich freuen, nicht allein zu sein.«

      Bessell hatte nichts dagegen und so wie sie vor ihm stand, hätte er ihr auch keinen Wunsch abschlagen können.

      6

      Die Kaffeemaschine gluckste und gab Sauggeräusche von sich. Bessell stand in Boxershorts und einem bunten T-Shirt barfuß daneben. In der Hand hielt er zwei Textseiten, die er am Abend zuvor geschrieben hatte. Mit verbissener Miene las er seine Zeilen. Zwischendurch nahmen seine Gesichtszüge einen genügsamen Ausdruck an, doch im nächsten Moment schon hatte man den Eindruck, er hätte in eine saure Zitrone gebissen. So richtig zufrieden schien er mit seiner Arbeitsleistung nicht zu sein. Die letzten Tropfen fielen in die Glaskanne, die fast zur Hälfte mit pechschwarzem Kaffee gefüllt war und verursachten eine interessante kreisförmige Wellenbewegung. Bessell nahm sich einen Becher aus dem Schrank. Als er sich Kaffee einschenkte, fiel ein letzter Tropfen auf die Heizplatte der Kaffeemaschine und tanzte zischend umher. Filterkaffee trank er nur noch selten, eigentlich nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Auch jetzt hätte er viel lieber einen Espresso oder Cappuccino getrunken, doch dafür hätte er hinunter ins Café gehen müssen. Carla Menotti hätte ihre Freude daran gehabt, ihn mit einem süffisanten Lächeln zu empfangen. Diese Situation wollte er sich unbedingt ersparen. Beim Einschlafen hatte er noch eine ganze Weile über Frau Hengartner und ihren Mann nachdenken müssen. Obwohl es ihm eigentlich egal sein konnte, ging ihm die Frage nicht aus dem Kopf, welche Schlüsse die Leute im Ort aus seinem gemeinsamen Spaziergang mit Frau Hengartner wohl zogen. Denn es war klar, dass es sich herumsprechen würde.

      Als Bessell von seinem schwarzen Kaffee nippte, musste er daran denken, dass es nicht besonders abwegig war, dass Frau Hengartner ihren Mann erschlagen hatte. Und wer erst einmal bei diesem Gedanken angelangt war, der konnte sich gut vorstellen, dass der Schriftsteller Bessell es auch für sie getan haben könnte. Bessell sah aus dem Fenster. Die Kaffeetasse hatte er in der Hand behalten und gelegentlich nahm er einen kleinen Schluck. Es war noch recht früh. Das Wetter schien selbst noch nicht zu wissen, wie es an diesem Tag werden wollte. Immerhin war es trocken. Bessell überlegte, ob Frau Hengartner tatsächlich kommen würde, um mit ihm einen Ausflug zu machen, so wie sie es gestern Abend angekündigt hatte. Zuzutrauen wäre es ihr, und wenn er ehrlich war, dann freute er sich sogar darauf, obwohl die Umstände natürlich alles andere als erfreulich waren.

      Als Bessell sich endlich Frühstück machen wollte, sah er Kommissar Favalli und einen uniformierten Polizeibeamten die Straße hinaufspazieren. Er trat zwei Schritte zurück, denn er wollte nicht am Fenster gesehen werden. Erst vermutete er, sie seien auf dem direkten Weg zu ihm, doch dann sah er, wie beide abbogen und drüben bei Frau Hengartner klingelten. Einen Augenblick dachte er darüber nach, hinauszugehen und ihr beiseite zu stehen. Doch gleich darauf wunderte er sich über einen solch merkwürdigen Gedanken. Er sah an sich herunter und beschloss, sich erst einmal anzuziehen, falls Favalli und sein Kollege ihm doch noch einen Besuch abstatten sollten. Frau Hengartner stand mittlerweile an der Haustür und sprach mit dem Kommissar. Sie machte ein betroffenes Gesicht. Bessell wandte sich ab und ging ins Schlafzimmer. Nachdem er die Hose übergestreift hatte, klingelte es tatsächlich an seiner Tür. Er knöpfte die Hose