Sonne am Westufer. Fabian Holting. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Holting
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847631798
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trank Absinth in Cafés, während er mit glasigen Augen Leute beobachtete und sich Notizen machte; nein es reichte vollkommen aus, dass alle wussten, dass er sich als Schriftsteller betätigte.

      Bessell betrat den kleinen Balkon, der nur von seinem Schlafzimmer aus zu erreichen war und atmete die Luft tief ein. Es war trocken und gar nicht mehr kalt. Alle Wolken hatten sich verzogen und ein winterliches Himmelblau zum Vorschein gebracht. Es ging auch kein Wind. Bessell fragte sich, ob im Außenborder noch genug Benzin war. Zuletzt hatte er das kleine Sportboot im Herbst benutzt. Sicherlich würde es etwas dauern, bis er alles vorbereitet und das Boot zu Wasser gelassen hatte. Auch wenn er es nicht bis Luino schaffen sollte, wäre es nicht weiter schlimm, denn ablenken würde ihn die Bootsfahrt allemal. Ablenkung konnte er jetzt gut gebrauchen.

      Bessell nahm seinen Rucksack und stellte ihn in den Flur. Dann füllte er sich eine leere Plastikflasche mit Leitungswasser und schob sie in eine kleine Netztasche an der Außenseite des Rucksacks. Beinahe hätte er nicht mehr an die blaue Klappbox gedacht, die er unbedingt mitnehmen wollte. Neben der Garderobe, in der kleinen Schublade einer hüfthohen Kommode, lagen die Schlüssel für das Bootshaus. Zwischendurch sah er zum Fenster hinaus. Doch drüben rührte sich nichts. Ob Frau Hengartner jetzt erst einmal hier bleiben würde, fragte er sich. Wahrscheinlich würde sie so schnell es eben ging zurück nach Zürich fahren. Vielleicht musste sie auch der Tessiner Polizei in den nächsten Tagen noch zur Verfügung stehen. Und dann fiel Bessell wieder ein, dass auch er nicht unangemeldet auf Reisen gehen sollte, weil Favalli und Caroni ihn möglicherweise noch brauchten, und sei es auch nur, um das Protokoll seiner Vernehmung zu unterschreiben.

      Bessell streifte die Kapuzenjacke über und stopfte vorsichtshalber noch einen dicken Baumwollpullover in seinen Rucksack. Als er dann endlich auf der Straße stand, ging die Haustür der Hengartners auf. Ein Mann mit graumelierten Haaren trat heraus. In der Hand trug er eine steife Ledertasche, eine, die zu beiden Seiten aufgeklappt werden konnte. Es musste der herbeigerufene Arzt sein. Bessell sah oben in der Straße einen Volvo stehen, auf den der Mann zielstrebig zuging. Die Polizeiwagen waren fort und wahrscheinlich war sie jetzt ganz allein im Haus.

      Unten an der Hauptstraße war alles wie immer. Die Einsatzfahrzeuge waren alle samt verschwunden. Obwohl der Tag milde geworden war, ging Bessell ganz allein an der Hauptstraße entlang. Aus Carla Menottis Café trat der Weißweintrinker leicht schwankend auf das Trottoir. Als Bessell an dem kleinen Supermarkt vorbeikam, sah er flüchtig hinein. Am Boden vor einem Regal hockte die junge Kassiererin und räumte wieder fleißig die Waren ein. Auf der gegenüberliegenden Seeseite tauchten die Sonnenstrahlen die Uferorte und die darüber liegenden blattlosen Kastanienwälder in ein diesiges Gelb. Der See lag tatsächlich ruhig. Der Januar würde bald vorbei sein und dann war das Gröbste überstanden. Bessell erlebte seinen ersten Winter im Tessin, doch hatte seine Vermieterin ihm bei der Schlüsselübergabe im Spätsommer in wortreichen Ausführungen bereits alles über den Verlauf der Jahreszeiten berichtet. Bereits im Februar erwache die Natur, Forsythien, Christrosen und Mimosen fingen an zu blühen. Doch am meisten freute Bessell sich darauf, dass die Tage dann wieder länger werden würden und er wieder mehr Zeit draußen verbringen konnte.

      Die kleine Metallpforte quietschte grässlich, als Bessell sie öffnete. Auf der Metalltreppe, die hinunter zur kleinen Liegewiese und dem Bootshaus führte, blieb er einen Moment stehen. Er sah hinunter zum Swimmingpool. Auf dem Grund hatte sich eine braune, mit Pflanzenresten vermengte Wasserbrühe angesammelt. Die Wände des Pools waren mit Algen übersät. Schon im Sommer hatte die Besitzergemeinschaft kein Wasser einlaufen lassen. Am Rand des Beckens stand eine Liege und daneben lag ein nasses Handtuch, das schon den ganzen Winter über dort gelegen hatte. Die Fächerkronen der hochgewachsenen Palmen, die am Rand der kleinen Rasenfläche standen, bewegten sich nicht. Es wehte tatsächlich kein Lüftchen. Nachdem Bessell die Liegewiese erreicht hatte, ging er die wenigen Schritte zu einer weiteren Treppe. Über Betonstufen gelangte er hinunter und öffnete mit dem Schlüssel die Stahltür zum Bootshaus. Die Boote hingen unter der Betondecke, einer abgemauerten Galerie. Es war eine Art Unterstand direkt am Ufer und zur Seeseite offen. Natürlich hingen hier nur kleinere Sportboote und wäre da nicht auch ein Sportschlauchboot mit kleinem Außenborder gewesen, so hätte man das Boot seiner Vermieterin wohl als das unspektakulärste bezeichnen können. Es war ein deutsches Fabrikat, eine Buster S in sehr spartanischer Ausführung. Doch immerhin hatte es eine Steuerradlenkung, so dass Bessell nicht immerfort die Ruderpinne umklammern musste. Er hatte das Boot bereits einmal ausgiebigst im Herbst genutzt. Der kleine Außenborder erlaubte zwar keine großen Geschwindigkeiten, doch es war für Bessells Zwecke allemal ausreichend. Es schien noch genügend Benzin im Tank zu sein. Bessell entdeckte auch noch einen kleinen Benzinkanister. Er war sich zwar nicht sicher, ob er seiner Vermieterin gehörte, dennoch beschloss er, ihn vorsichtshalber mitzunehmen. Nachdem er die Plane entfernt hatte, ließ er das kleine Sportboot mit einer Seilwinde zu Wasser, stieg dann die Leiter noch zweimal hinunter, bis er alles verstaut hatte. Der Außenborder sprang sofort an. Mit ruhig tuckerndem Motor glitt er auf der Wasseroberfläche dahin. Obwohl Samstag war, musste er eine Weile Ausschau halten, bis er zwei weitere Boote in einiger Entfernung entdeckte. Im kleinen Anlegehafen des Ortes war ein alter Mann dabei, sein Boot ebenfalls Klarschiff zu machen, während die übrigen Boote unter ihren Planen weggeduckt zu schlafen schienen. Bessell winkte freundlich. Der Mann erwiderte seinen Gruß und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Auch Bessell fühlte sich gut. Leise klatschte das Wasser unter dem Bug. Das vertraute Geräusch wirkte auf ihn beruhigend. Seine Eltern hatten ebenfalls ein kleines Sportboot gehabt. Als sein Vater vor knapp fünf Jahren starb, hatte seine Mutter es verkauft. Immer wenn Bessell die Gelegenheit hatte, mit einem ähnlichen Boot auf einem See zu fahren, musste er an seinen Vater denken. Diese Gedanken machten ihn traurig, doch er fühlte sich frei und selbstbestimmt, wenn er das Ruder in Händen hielt. Er hätte schon weiter auf den See hinausfahren können, doch von Neugierde getrieben, fuhr er in geringer Entfernung am Ufer entlang. Mit Schwimmern brauchte er um diese Jahreszeit nicht zu rechnen. Hinter einer kleinen Landzunge, auf der besonders schöne Villen direkt am Ufer errichtet worden waren, musste eigentlich die Stelle kommen, wo der Junge Herrn Hengartner gefunden hatte. Bessell hielt weiter darauf zu, doch um nicht zu neugierig zu erscheinen, sah er nur beiläufig hinüber. Ansonsten versuchte er den Blick geradeaus zu halten. Am Ufer und auf den Terrassen und Balkonen war niemand zu sehen. An dem schmalen Kiesstrand sah alles ganz harmlos aus. Die niedrigen Strandweiden, die im Sommer einen kurzen aber begehrten Schatten warfen, wurden sanft vom Wasser umspült. Die Steinmauern der Terrassengärten vermittelten dem nur wenige Meter breiten Kiesstrand eine private Geborgenheit, die nicht mehr häufig am Schweizer Westufer des Lago Maggiore zu finden war. Wenn die beiden Flatterbänder der Polizei nicht gewesen wären, die den Weg zu den ausgetretenen Steintreppen absperrten, dann hätte man immer noch meinen können, den friedlichsten Ort auf Erden vor sich zu haben. Als Bessell sich noch ein letztes Mal umblickte und sich dabei fragte, ob die Villen am Strand gestern Abend wohl bewohnt waren, sah er Favalli hinter einem der Flatterbänder stehen. Wie ein Geist oder eine unverhoffte Erscheinung, stand er plötzlich da und blickte zu ihm herüber. Bessell wandte sich gleich darauf ab, schaltete einen Gang höher und kehrte, indem er auf den See hinausfuhr, Favalli den Rücken zu. Vermutlich hatte Favalli ihn im Schutz der Häuserecke schon länger beobachtet. Bessell hielt auf die Brissago Inseln zu. Der Fahrtwind trieb ihm Tränen in die Augen und zerzauste sein Haar, doch er war nicht besonders kalt. Das Bug des Bootes hob und senkte sich in schneller Folge. Die Gischt befeuchtete sein Gesicht. Hin und wieder schwappte etwas Wasser von einer Bugwelle ins Boot. Bessell kümmerte es wenig. Er ärgerte sich, aus lauter Neugierde so dicht am Ufer entlang gefahren zu sein. Überhaupt hatte er den Eindruck, immer das Falsche zu tun, und das schon seit vielen Jahren. Nach dem Abitur wollte er Lehrer werden, die erste Fehlentscheidung. Als er es endlich bemerkt hatte, begann er Germanistik zu studieren. Ebenfalls ein Fehler, wie er später fand. Am Ende stand er ohne Abschluss da. Dann lernte er Saskia kennen, die vielbeschäftigte, hoffnungsvolle und aufstrebende Journalistin, die immer nur ihre Karriere im Kopf hatte. Und dennoch heiratete er sie. Der nächste große Fehler in seinem Leben. Dann folgte seine Arbeit bei diesem kleinen Zeitschriftenverlag. Saskia hatte ihm diese Stelle vermittelt. Er lektorierte Artikel über Architektur und Designermöbel. Später schrieb er kleinere Artikel für ein Uhrenmagazin des Verlags.

      Die Arbeit gefiel ihm nicht besonders und Saskia bekam er kaum noch zu Gesicht, weil sie beständig auf