Unten am Berg kommt ein Quell hervor:
Das Bild der Jugend.
So nährt der Edle durch gründliches Handeln seinen Charakter.
Nach einer langen Phase der unterirdischen Reise durch das Berginnere findet das Quellwasser endlich hinaus an die Oberfläche. Die frische, klare Quelle steht als Metapher für das jugendliche Stadium der Unerfahrenheit, aber auch für den ewig jungen Teil in uns, der sich immer wieder ins Unbekannte wagt. Der Berg wiederum verkörpert die Höhen der Weisheit und Erfahrung, die es zu erringen gibt.
Wenn das junge, lebhafte Quellwasser jetzt nach draußen sprudelt, kommt es in einer völlig fremden Umgebung an. Es strotzt vor Energie, hat aber keinerlei Orientierung. Da es jedoch in seiner Natur liegt, stetig zu fließen, überwindet es auf genau diese Weise auch seine Schwierigkeiten: nach und nach füllt es alle Abgründe, Senken und Vertiefungen aus, die sein Weiterkommen behindern, um schließlich darüber hinwegzufließen.
Genau wie der Bach in den Bergen, muss auch unser Leben seine Bahn finden. Dabei können wir die Umstände, die uns begegnen, zu unseren Lehrern machen. Dieser gründliche Lernprozess erlaubt uns nicht, eine Lektion zu überspringen, er verlangt, dass wir beharrlich alle unsere Wissenslücken ausfüllen. Unser springlebendiges, ungezähmtes inneres Kind kann seinen Weg ja nur durch die Konfrontation mit festen Grenzen finden. Schade wäre es allerdings, wenn seine Spontaneität dabei mehr als unbedingt notwendig eingeschränkt würde.
Berg und Quelle, so unterschiedlich sie sind, brauchen und bereichern einander. Das harte Gestein des Berges ist nötig, um das Wasser zu reinigen und zu energetisieren. Dafür verleiht die Quelle dem schroffen Fels eine Spur freundlicher Heiterkeit.
Genauso ist es mit alten und jungen, kompetenten und unwissenden Menschen, mit Lehrern und Schülern: sie können voneinander viel lernen. Die labile aber formbare Jugend findet beim Alter Halt und Unterstützung, das Alte kann sich durch die frischen Impulse der Jungen aufmuntern und inspirieren lassen.
Die Schule des Lebens
Die Jugendtorheit hat Gelingen.
Nicht ich suche den jungen Toren. Der junge Tor sucht mich.
Beim ersten Orakel gebe ich Auskunft.
Fragt er zwei-, dreimal, so ist das Belästigung.
Wenn er belästigt, so gebe ich keine Auskunft.
Fördernd ist Beharrlichkeit.
Dieses Hexagramm spricht von einem Zustand der Unreife und Unwissenheit: Wir treffen auf eine völlig neue Situation und wissen zunächst nicht, wie wir damit umgehen sollen. Das fühlt sich unsicher und gefährlich an, wir können so viele Fehler machen... Da so vieles noch im Dunkeln liegt, sind wir nicht einmal in der Lage, klar zu artikulieren, wo unser Problem eigentlich liegt. Doch solange man noch am Anfang steht, ist diese Unschlüssigkeit nicht weiter schlimm. Wir werden sie überwinden, wenn wir nur einen geeigneten Lehrer finden - und oft ist dieser Lehrer das Leben selbst.
Wir alle sind stets sowohl Lehrende wie auch Lernende, je nach dem Grad unserer Erfahrung. Dabei stehen Lehrer und Schüler in einem ganz besonderen Verhältnis zueinander. Die erste und wichtigste Regel betrifft ihre korrekte Annäherung: Es ist immer der Schüler, der sich aus eigener Initiative an den Meister wenden muss. Nur wenn er sich seine Wissensdefizite eingesteht, wird er aktiv dazulernen wollen. Diese Art von Bescheidenheit ist die Voraussetzung, dass der Schüler die Lektionen seines Lehrers respektvoll anerkennt. Für den Lehrer heißt das, dass er in aller Ruhe warten soll, bis er angesprochen wird. Nur wenn er sich nicht von sich aus anbietet und ungefragt Ratschläge verteilt, werden seine Lehren erfolgreich angenommen.
Weiterhin sollte ein guter Lehrer sich niemals autoritär oder rigide gebärden. Seine Aufgabe ist es, klare Antworten zu geben, während der Schüler diese Informationen akzeptieren soll, ohne sie weiter anzuzweifeln. Sollte der Schüler allerdings aufdringlich, misstrauisch oder gedankenlos weiterfragen, belästigt er den Lehrer. Ein weiser Lehrer wird sich daraufhin zurückziehen und den unverschämten Schüler schweigend ignorieren.
Dieses Zeichen beschreibt also die Schule des Lebens und die Aufgabe der Individuation, der Selbstwerdung. Am Ausgangspunkt steht ein unreflektiertes, noch kindliches Wesen, das kaum für die Abenteuer des Lebens gewappnet ist. Zugleich wünscht es sich aber nichts sehnlicher, als Hals über Kopf hineinzuspringen. Ob und wie dieser junge Tor seinen Platz in der Welt entdeckt, hängt auch davon ab, dass er sich seine unschuldige Sichtweise, seinen Anfängergeist, bewahren kann. Denn wer unerfahren ist, muss sich aktiv der Welt öffnen, um zu fragen und auch zu hinterfragen.
Wenn wir uns jetzt in der Situation eines solchen Frischlings befinden, sollten wir aufrichtig unsere Ratlosigkeit zugeben und bewusst nach Unterstützung suchen. Auch wenn wir im Moment nicht wirklich wissen, was wir tun, steht die Antwort bereits im Raum, wir können sie nur noch nicht sehen. Wer unentwegt über ein und derselben Frage grübelt, wirbelt nur Schlamm auf und blickt immer weniger durch. Aber selbst das ist in Ordnung: wir müssen nicht vorgeben, dass wir schon wüssten, was das alles bedeutet. Was zunächst wie ein Hindernis aussieht, will uns im Grunde lehren, bewusster zu werden und unsere Einseitigkeit zu korrigieren. Die aktuelle Verwirrung blockiert unseren Handlungsdrang, für den es einfach noch zu früh ist. Doch wenn wir uns mit dem Leben fließend fortbewegen, dann werden wir wachsen und reifen. Mit genug Ausdauer verwandeln wir uns mit der Zeit selbst von Unwissenden zu Weisen.
Darüber hinaus hat die Jugendtorheit noch eine andere Botschaft: Das Hexagramm verheißt Gelingen, weil der junge Tor die Lehren der Zeit in mancher Weise besser versteht als ein ausgewachsener Experte, der meint, sich schon auszukennen. Gerade Spontaneität und Intuition verbinden uns mit dem Strom der Dinge. Manchmal ist es ja durchaus wichtig, seinen Kopf zu verlieren und wieder zum Kind zu werden. Gerade wenn wir uns in den Umständen gefangen fühlen, hilft es oft, ganz simple aber mutige Fragen zu stellen und in aller Unschuld Tabus zu durchbrechen. Wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ müssen wir die kollektiven Halluzinationen auflösen, indem wir die Dinge mit den unverdorbenen Augen eines Kindes wahrnehmen und benennen. Nur wenn wir uns als kindliche Narren sehen können, sind wir innerlich klar genug, um unsere Selbsttäuschungen zu entlarven.
Der spirituelle Lernprozess
Bei der Suche nach einer erlösenden Antwort für unsere tiefsten Lebensfragen können wir uns an einen Lehrer, aber auch an ein Orakel wenden. Denn aus ihm spricht unser kosmischer Lehrer, der Heilige Geist.
Wir sollten aber wissen, dass wir immer nur einmal Auskunft bekommen. Diese eine Antwort gilt es, wirken zu lassen und geduldig mit ihr zu arbeiten. Bewusstwerdung und Perspektivenwechsel brauchen ja Zeit, um sich zu entwickeln. Wenn wir die Botschaften der kosmischen Intelligenz anzweifeln und immer wieder nachhaken, trübt sich die Klarheit der Aussagen, bis schließlich völlige Konfusion herrscht. Je mehr wir fragen, desto tiefer verstricken wir uns in unsere Unwissenheit. Die Lösung kommt niemals durch Nachdenken. Sie kann nur aus der geistigen Welt empfangen werden, unverhofft und einmalig.
Solange wir noch neu in der Orakelschule sind, zeigt sich der kosmische Lehrer einfühlsam und nachsichtig angesichts unserer zahllosen Irrtümer und Fehlurteile, wohl wissend, dass wir unser inneres Programm nur schrittweise verwandeln können. Konsequent zieht er unseren Blick immer wieder auf unsere unterdrückte innere Wahrheit. So fassen wir zunehmend Vertrauen zu unseren Gefühlen und verstehen das Wesen des Tao immer besser.
Gerade bei unerfahrenen Orakelschülern mischt sich noch häufig das Ego in die Fragestellung ein. Für diesen Fall warnt uns das Hexagramm Die Jugendtorheit vor einem Irrweg. Vor allem wenn es ohne Wandellinien erscheint, sollten wir vorerst keine Fragen mehr stellen, bis wir uns überprüft und unsere Haltung korrigiert haben.
Wandellinie 1
Um den Toren zu entwickeln,
ist es fördernd, den Menschen in Zucht zu nehmen.
Man soll die Fesseln abnehmen.
So