I Ging. Andrea Seidl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrea Seidl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783844263381
Скачать книгу
und seine dunkle Seite leugnet, projiziert seine unerkannten Schattenseiten auf andere und muss sie dort als „böse“ bekämpfen – notfalls „mit schonungsloser Härte“, wie die Geschichte immer von Neuem zeigt. Gerade das moralische Urteil öffnet destruktiven Tendenzen Tür und Tor. Im Grunde kommt „das Böse“ in die Welt durch wahnhafte Überzeugungen mit totalitärem Anspruch, durch Ideologien, die über das Leben gestellt werden. Und wenn man tief genug gräbt, findet man darunter wieder die Urlüge und den Urschmerz des Ego, dass wir getrennt voneinander seien.

      Meiner Meinung nach können wir auf den Begriff des „Bösen“ ganz verzichten und ihn besser durch „Fehler“, „Irrweg“, „Illusion“ ersetzen – Worte, die den Weg frei machen für Mitgefühl und Verzeihung. Statt einer polarisierenden Moral zu folgen, können wir das Gute neu definieren: als alles, was unserem Wachstum dient, was uns nach Hause zu uns selbst bringt, als alles, was verbindet statt zu trennen.

      Natürlich fragt sich, inwieweit wir tatsächlich auch fähig sind, zu erkennen, was uns weiterbringt. Nur allzu oft müssen wir ja im Rückblick eingestehen, dass das, wogegen wir erbittert angekämpft haben, sich schließlich als unser Glück herausgestellt hat. Doch auch wenn es im Einzelfall schwierig ist, in dem, was uns widerfährt, einen Sinn zu erkennen, können wir doch jede Situation unseres Lebens als spirituelle Aufgabe ansehen und daraus lernen, und ihr auf diese Weise einen konstruktiven Sinn geben.

       1 vgl. Serge Kahili King, der Stadtschamane, Lüchow Berlin, 2003

       2 Carlos Castaneda, Eine andere Wirklichkeit, Fischer, Frankfurt 1973

       3 Byron Katie, Lieben was ist, Goldmann München, 2002

      Die innere Architektur des I Ging

      Nach diesem ausführlichen Exkurs zum geistigen Überbau dieses Buches komme ich nun zurück zu den Konzepten, die für die konkrete Anwendung des I Ging eine Rolle spielen.

      Yin und Yang

      An der Basis steht das uralte polare Konzept von Yin und Yang. Alles, was im Universum geschieht, geht auf diese beiden Urkräfte zurück. Dabei steht Yin für die weibliche Qualität des Kosmos, Yang für das Männliche. Yin wird dargestellt als durchbrochener, Yang als durchgezogener Strich. Da beide Aspekte ständig in Bewegung sind, verwandeln sie sich immer wieder ineinander. Damit gibt es neben dem ruhenden „jungen“ Yin bzw. Yang noch die beiden „alten“ Wandlungsphasen, die dazu tendieren, in den anderen Pol umzuschlagen.

966.png

      Die Trigramme

      Yin und Yang offenbaren sich auf drei kosmischen Erfahrungsebenen, die durch ein vertikales Linienmuster codiert werden: Die Erde (untere Linie) verkörpert den sinnlichen, irdischen Aspekt des Lebens; der Himmel (obere Linie) steht für den spirituellen Aspekt, den Sinn; in der Mitte dazwischen, als Verbindung von Himmel und Erde, steht der Mensch mit seinem Bedürfnis nach Kommunikation und Verbundenheit. Wenn die beiden polaren Kräfte Yin und Yang sich in diesen drei Sphären manifestieren, entstehen 2³ Konfigurationen, also 8 Dreiergruppen – die Trigramme (auch: Halb- oder Teilzeichen). Das I Ging betrachtet sie als die Grundbausteine des Lebens und benennt sie nach archetypischen Elementen der Natur: Himmel, Erde, Donner, Wind, Wasser, Feuer, Berg und See.

985.png

      Die acht Trigramme des „Pa Kua“

835.png

      Die Hexagramme

      Unser menschliches Erleben schwingt zwischen zwei Bewusstseinsebenen (analog zu den Hirnhemisphären), die wiederum jeweils durch ein Trigramm dargestellt werden. So entsteht die aus zwei Trigrammen zusammengesetzte Hexagrammform, die sich in sechs übereinander liegenden Strichen von unten nach oben aufbaut. Das untere Trigramm gilt als das innere und steht für den Körper, die (unbewusste) Innenwelt, unsere Einstellung zu uns selbst. Das obere und äußere Trigramm repräsentiert Tagesbewusstsein und Außenwelt. Damit vereinigt jedes Hexagramm die inneren und äußeren Ebenen der Wirklichkeit.

1026.png

      Die Kombination aller acht Trigramme ergibt 8² Möglichkeiten - die 64 Hexagramme mit ihren insgesamt 384 (64x6) Linien. Sie veranschaulichen die Fülle aller nur erdenklichen menschlichen Situationen und Fragen (alles in allem kann das I Ging 64 x 64, also 4096 verschiedene Antworten geben).

      Diese Hexagramme sind keine statischen, sondern fließende, dynamische Muster. Jedes trägt einen anderen Namen und beschreibt einen anderen Wandlungszustand im großen Fluss des Tao. Ihre tiefere Bedeutung eröffnet sich in den beigefügten Naturbildern und Deutungen, weiterhin in den Ausführungen zu den einzelnen Wandlungslinien. Dabei wurden die ursprünglich sehr knappen Botschaften des Urtextes bereits in der chinesischen Originalversion durch ausführliche Kommentare ergänzt und erklärt.

      Strukturanalyse

      Die gelehrten Männer, die über die Geschichte hinweg das I Ging erforschten, prüften diese 64 Strichmuster nach verschiedensten Kriterien: Sie beobachteten das Verhältnis der beiden Trigramme zueinander, sie betrachteten Faktoren wie die Bewegungsrichtung der Halbzeichen und Kernzeichen, sie fragten nach der Botschaft des „lauernden Gegenzeichens“. Sie untersuchten die so genannten prägenden Linien jedes Hexagramms und die Beziehung der sechs Linien untereinander. Bei den Wandellinien spielt es eine Rolle, auf welcher Position sie sich befinden, ob sie einen korrekten Platz einnehmen oder nicht, ob sie im Kommen oder Gehen sind…

      Die Ergebnisse dieser Untersuchungen habe ich in meine Texte einfließen lassen, aber nicht explizit ausgeführt. Das I Ging kann auch problemlos angewendet werden, ohne dass man sich mit diesen hoch komplizierten Analysen befasst (Wer tiefer in die innere Architektur des I Ging eindringen möchte, den verweise ich auf die Arbeiten von Wilhelm, Adrian und van Osten).

      „Gebrauchsanweisung“

      Die alten Chinesen hatten ein kompliziertes und langwieriges Ritual, um das Orakel zu befragen. Die dabei verwendeten Schafgarbenstengel und der I Ging-Foliant wurden in Seide eingeschlagen und nur zu ganz besonderen Momenten unter tiefen Verbeugungen hervorgeholt. Sie durften keinesfalls durch profane Handlungen entweiht werden.

      Ich persönlich meine, dass wir nicht Inhalt und Form verwechseln sollten. Ein Buch ist nicht mehr als Papier und Pappe, und wenn hier etwas „heilig“ ist, kann das nur die Begegnung mit der kosmischen Intelligenz sein. Es ist zwar völlig in Ordnung, wenn sich jemand ein persönliches Ritual gestalten möchte, doch sollte er es mit der Verehrung der I Ging-Utensilien nicht übertreiben. Gott sei Dank ist es auch gar nicht mehr nötig, eine Stunde lang Schafgarbenbündel immer wieder neu zu gruppieren, um das Orakel zu befragen. Stattdessen wird heutzutage fast durchgängig die einfache Münzmethode angewandt. Ich werde Ihnen hier nur diese eine Methode vorstellen, und auch das auf sehr pragmatische Weise, ohne überflüssigen Hokuspokus.

      Bei aller Zwanglosigkeit spielt es dennoch eine große Rolle, dass wir uns für eine Befragung Zeit nehmen und dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden. Unser Geist kann sich nur öffnen, wenn wir einen geschützten Raum haben – so wie bei der Meditation oder beim Gebet.

      Die Frage

      Am Anfang einer I-Ging-Sitzung steht die Frage. Je klarer wir sie fassen können, desto einleuchtender wird unsere Kommunikation mit dem Orakel. Doch unser Kopf ist oft so verwirrt von der Unzahl der Gedanken, die um ein Konfliktthema kreisen, dass wir besser bei unseren Gefühlen nachspüren sollten. Sie zeigen uns, wo sich die Energie staut, wo wir Unterstützung brauchen.

      Viele Autoren empfehlen, dass wir die Fragen, die wir an das I Ging richten samt der erhaltenen Antworten möglichst genau notieren, vielleicht sogar archivieren. Das hat gewiss seine Vorteile,