I Ging. Andrea Seidl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrea Seidl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783844263381
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Prozesses. Wir müssen uns das Recht nehmen, unseren eigenen Erkenntnisweg zu finden. Wer immer nur den Fußstapfen anderer folgt, wird am eigenen Weg vorbeigehen.

      Ich habe versucht, im Folgenden einige grundlegende Gedanken darzustellen, auf denen dieses Buch aufbaut. Doch wer sich damit befasst, was die Welt zusammenhält, wie unser Kosmos funktioniert und was unser Menschsein ausmacht, wird früher oder später immer an seine persönlichen und menschlichen Grenzen stoßen. Vieles wird dauerhaft geheimnisvoll und unerklärlich für uns bleiben. Anderes wiederum erfordert einen radikalen Bewusstseinswandel, auf den wir uns nur Schritt für Schritt einlassen können.

      Was ist Wirklichkeit?

      Die Welt ist das, was du von ihr hältst.

      (Grundprinzip des Huna-Schamanismus1)

      Die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit bewegt mich schon lange. Ich erinnere mich noch daran, wie aufgeregt ich war, als ich siebzehnjährig die Bücher von Carlos Castaneda2 entdeckte, in denen von einer „anderen Wirklichkeit“ die Rede war. Der amerikanische Anthropologe erzählt darin, wie er bei einem Schamanen der Yaqui-Indianer in die Lehre ging und mit einer völlig fremdartigen Beschreibung der Welt konfrontiert wurde. Damals, in den Siebzigern, wurde in meinem Bekanntenkreis heiß diskutiert, ob die Erlebnisse Castanedas fiktiv oder echt waren. Ich selbst war tief bewegt, erregt, ja aufgewühlt von dem, was ich da las. Ich konnte nicht erklären, warum, aber ja, ich war überzeugt, dass mir da eine grundlegende Wahrheit begegnete. Castaneda und sein Lehrer Don Juan zeigten mir einen ersten Ausweg aus der engen Weltdeutung meiner Herkunft, die sich zwischen Katholizismus und Materialismus bewegte. Seither hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.

      Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrheit? Die Alltagsvernunft hält sich an das, was funktioniert und empirisch nachgewiesen werden kann: Materie ist fest, die Zeit verläuft linear von der Vergangenheit in die Zukunft, Wirkungen beruhen auf Ursachen... Von solchen „Fakten“ wird abgeleitet, was „realistisch“ sei. Dazu gehören dann auch soziale Gesetzmäßigkeiten wie „Geld regiert die Welt“ oder „Wenn du nett bist, wirst du geliebt“. Gleichzeitig sperrt sich unser materialistisch orientierter Verstand, dem, was wir fühlen und spüren, ebenfalls Realitätsstatus zuzuerkennen. Gefühle, Bedürfnisse, Intuitionen gelten als subjektiv und unzuverlässig und werden deshalb ignoriert. Auf diese Weise kommt es zu dem merkwürdigen Paradox, dass sich oft gerade Menschen, die sich für besonders „realistisch“ halten, über ihre wahren Motive hinwegtäuschen, weil sie eben stereotyp nach draußen schauen und nur dort Wirklichkeit erkennen wollen.

      Letztlich müssen wir uns fragen, ob es die Wirklichkeit überhaupt gibt, bzw. ob wir überhaupt fähig sind, sie zu erkennen. Bei näherem Betrachten entdecken wir ja, dass es offenbar viele sehr persönliche und wandelbare „Wirklichkeiten“ gibt: meine ist anders als deine, die von heute ist anders als die von gestern, die hier ist anders als die dort... Was wir normalerweise für Wirklichkeit halten, entsteht durch Geschichten – Geschichten, die uns erzählt wurden, Geschichten, die wir selbst erzählen, Geschichten über uns und die Welt, die wir von allen Seiten zurückgespiegelt bekommen. Im Grunde kommt unsere Wirklichkeit also durch Projektionen zustande. Wir sehen, was wir schon zu glauben wissen und versuchen, diese Konstruktion dann durch Rationalisierungen zu beweisen. Doch so leben wir an dem, was wirklich ist, vorbei.

      Wir müssen lernen, Vorstellung und Wirklichkeit zu unterscheiden. Je mehr wir unsere Bilder von der Welt in Frage stellen, umso mehr wird sich die Fata Morgana auflösen, die wir für die Realität gehalten haben – um Platz zu machen, für das, was einer Überprüfung standhält.

      Auf der tiefsten Ebene hat unsere Wirklichkeit eine mystische Dimension. Wir wissen nicht wirklich, wer und was wir sind. Die beschränkte Kapazität unseres Denkens kann die Größe unserer Existenz nicht fassen. Wir sind etwas anderes und viel mehr als man uns gelehrt hat. Doch was, können wir nur selbst herausfinden...

      Wenn die Welt, die wir wahrnehmen, unsere eigene Konstruktion ist, was ja auch von den modernen Neurowissenschaften bestätigt wird, dann sagt sie mehr über uns selbst als wahrnehmendes Subjekt aus, als über das Objekt unserer Betrachtung. Der Quantenphysiker Werner Heisenberg schlachtete schon vor fast einem Jahrhundert die heilige Kuh der traditionellen Naturwissenschaften, indem er auf der Quantenebene feststellte, dass objektive Beobachtung unmöglich ist, weil jede Beobachtung das Beobachtete schon verändert. Möglicherweise gibt es gar keine objektive Welt, nur die Welt unserer subjektiven Erfahrungen, in der sich all unsere verborgenen Motive und Überzeugungen spiegeln. Die Spiegelfunktion der Welt enthüllt uns auch, dass es im Grunde gar kein Ego gibt, dass das Ich die fundamentalste aller Illusionen ist – und auch da stimmt die Hirnforschung zu. Das soll nicht heißen, dass wir uns nur einbilden würden, da zu sein, sondern es heißt, dass wir nicht als individuelle Persönlichkeit, nicht getrennt von unserer Welt und den anderen Menschen existieren, dass wir gewissermaßen auch sie sind… Und da schließt sich der Kreis zwischen neuester Forschung und alter spiritueller Weisheit. Die indische Philosophie hat das ganz schlicht zusammengefasst: Tat twam asi oder: Ich bin du.

      Das Ego

      Über das Ego wird im spirituellen Kontext viel geredet, und auch in diesem Buch spielt es eine große Rolle. Allerdings bleibt dieser Begriff oft unscharf und verwirrend. Deshalb möchte ich kurz definieren, was ich mit Ego meine.

      Das Ego ist unsere falsche Vorstellung von Trennung und Besonderheit. Solange wir unbewusst fest daran glauben, dass wir ein vereinzeltes Wesen sind, fühlen wir uns abgetrennt und verlassen, ausgesetzt in einer feindlichen Welt. Diese Isolation erzeugt quälende Angst und damit Leiden, Konflikte und Kampf. In unserem Inneren klafft ein Abgrund, den wir gut vor uns selbst zu verbergen wissen. Wir kompensieren unser geheimes Grauen mit dem schmeichelhaften Mythos, dass wir etwas ganz Besonderes und Individuelles seien: schon als menschliche Gattung wollen wir ja die „Krone der Schöpfung“ verkörpern und auch unter Unseresgleichen versuchen wir herauszuragen – als müssten wir unsere Daseinsberechtigung erst beweisen. Wenn wir nämlich nichts „Besonderes“ vorweisen können, droht uns das Ego rasch damit, dass wir „nichts“ seien, wertlos, nichtig. Daraus entsteht ein endloser aufreibender Wettlauf und Überlebenskampf mit den anderen, die wir als Konkurrenten wahrnehmen: Wir müssen uns anstrengen, um „jemand“ zu sein, wir zweifeln, ob wir „gut genug“ sind, wir müssen nach „oben“ – egal, ob wir da oben Geld, Intellekt, Karriere oder Gott hinprojizieren. Um unser gähnendes Selbstwertloch nicht anschauen zu müssen, entwickeln wir unechte Selbstbilder. Wir klammern alles Mögliche aus unserer Persönlichkeit aus, was wir gelernt haben, als wertlos zu betrachten. Zugleich identifizieren wir uns mit Eigenschaften, die allgemein als wünschenswert gelten: Wir legen uns also eine Maske zu, ein falsches Selbst.

      Diese archetypische Dynamik hat C.G. Jung als das untrennbare Paar von Persönlichkeit (Persona) und Schatten beschrieben. Sie gehört zwangsläufig zu unserer Sozialisation, wir können ihr nicht entgehen, doch wir dürfen auch nicht dort stehen bleiben. Solange wir uns nur mit einem Bruchteil von dem identifizieren, was wir sind, werden wir niemals sicheren Boden unter den Füßen spüren. Das Leben wird irreal und anstrengend, weil wir unser künstliches Selbstbild ständig kontrollieren müssen. Und wenn wir einmal locker lassen, müssen wir schon befürchten, dass die verdrängten Schattenanteile wieder nach oben drängen und wer weiß was anstellen.

      Unsicher und ängstlich wie es ist, braucht unser falsches Selbst äußere Anerkennung, um sich zu stabilisieren - und davon gibt es immer zu wenig. Da es in einem ewigen Mangelgefühl lebt, will es immer mehr, mehr, mehr...

      Wenn wir im Ego sind, denken wir in Gegensätzen und vergleichen ständig: richtig-falsch, gut-böse, schön-hässlich. Nach Möglichkeit wollen wir besser abschneiden als andere, was aber oft misslingt. Und selbst wenn es glückt, stellt sich die ersehnte innere Sicherheit nicht ein. Das Ego sieht sich selbst immer als Opfer, und es meint, permanent kämpfen zu müssen. Doch alle Lösungsvorschläge, die es uns macht, alle Geschichten, die es uns über die Welt erzählt, führen immer tiefer in die Angst. Sie müssen scheitern, da der Fehler an der Wurzel sitzt, in der Weltdeutung des Ego, im grundlegenden Programm der Getrenntheit.

      Das kollektive Ego

      Das Ego hat zwei Erscheinungsformen: