Ich überlegte einen Moment, musste mir aber eingestehen, dass mir nichts dergleichen aufgefallen war. »Nein, das ist mir leider entgangen. Aber Sie wirkten irritiert, als Sie es wogen.«
Davidson lächelte nachsichtig. »Nun, zumindest haben Sie das bemerkt, junger Mann.«
Er erhob sich, ging zum Labortisch und nahm das Artefakt in die Hand. »Dieser Teil hier«, erklärte er und tippte mit dem Finger an das Kristallei, »ist hart und säurebeständig wie Diamant, jedoch weitaus leichter. Ebenso verhält es sich mit dem Material, aus dem die Fassung, das Kugelgelenk und diese seltsamen, krallenartigen Fortsätze bestehen. Sie haben selbst erlebt, wie ich es den stärksten Säuren ausgesetzt habe, ohne den geringsten Effekt zu erzielen. Nicht einmal der Diamantschneider hat Spuren darauf hinterlassen.«
Davidson drehte das Artefakt vor meinen Augen hin und her. Er übertrieb nicht im Geringsten. Trotz der vorangegangenen Versuche war die Oberfläche des Objektes noch immer völlig glatt und makellos. Noch nie hatte ich ein derart widerstandsfähiges Material gesehen.
»Wie um alles in der Welt war jemand in der Lage, so etwas herzustellen?«, fragte ich.
Davidson zuckte die Achseln und legte das Artefakt zurück auf den Tisch. »Genau das ist hier die Frage, Mr Walden. Sehen Sie«, setzte er zögerlich hinzu. »Vielleicht könnte ich mich noch dazu durchringen, dieses Kristallei als das Produkt eines begnadeten Edelsteinschleifers anzuerkennen, als den fulminanten Höhepunkt einer langen Handwerkertradition. Nicht so aber den Rest dieses Objektes. Das Material, aus dem die Fassung und diese eigenartigen Krallen bestehen, ist mir ein absolutes Rätsel. Es ist leicht und hart zugleich. Die leichtesten Metalle, die ich kenne, sind Magnesium und Aluminium. Beide hätte ich ohne Probleme mit dem Fingernagel einritzen können. Dieses hier jedoch widersteht dem härtesten Material, das uns zur Verfügung steht – Diamant. Niemand hätte so eine Legierung vor Hunderten oder sogar Tausenden von Jahren herstellen können.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Sie meinen also, dieses Objekt wurde erst vor Kurzem gefertigt, aus neuartigen Materialien, mit Hilfe moderner Werkzeugmaschinen?«
Davidson schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein, Mr Walden, eben nicht! Auch heutzutage sind wir nicht in der Lage, so etwas zu fertigen. Dieses Metall hier«, dabei deutete er auf den Schaft mit der Kralle, »würde, wäre es in großem Maßstab verfügbar, ohne Zweifel den modernen Maschinenbau revolutionieren!«
Ungläubig starrte ich auf das seltsame Gebilde auf dem Labortisch. Es war mir einfach unbegreiflich, wie etwas, das entfernt Ähnlichkeit mit einem antiken Kristallleuchter hatte und zufällig im Wald gefunden worden war, solch fantastische Eigenschaften aufweisen konnte. Seltsam fasziniert ließ ich meine Fingerspitzen über die Konturen des Artefaktes gleiten. »Wenn dieses Objekt wirklich so außergewöhnlich ist, wie Sie behaupten, und selbst die modernsten Werkstätten Englands nicht in der Lage wären, es zu reproduzieren, ja, wo zum Teufel soll es denn Ihrer Meinung nach hergekommen sein?«
Davidson nahm seine Brille ab und rieb sich die Schläfen. »Ich weiß es nicht, Mr Walden. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht stammt es aus dem sagenumwobenen Atlantis«, fügte er mit einem gequälten Lächeln hinzu und setzte seine Brille wieder auf. »Aber im Ernst, fragen Sie Mr Halford. Vielleicht verrät uns der Fundort des Artefaktes mehr über seine Herkunft. Ich bin mit meinem Latein leider am Ende.«
Sichtlich ermattet schlurfte er zur anderen Seite des Labors, entzündete eine Petroleumlampe und schaltete die elektrische Beleuchtung aus. »Kommen Sie, Mr Walden, lassen Sie uns oben noch einen kleinen Imbiss einnehmen, bevor ich das Schriftstück für Mr Halford aufsetze. Meine Frau macht vorzügliche Gurkensandwiches.«
Ich wollte meinem Gastgeber gerade die Treppe hinauffolgen, als mir einfiel, dass das Artefakt noch auf dem Labortisch lag. Nicholas hatte ausdrücklich darauf bestanden, dass ich es nach der Analyse wieder an mich nahm. Durch das Halbdunkel des Labors schaute ich zum Tisch hinüber. Im ersten Moment glaubte ich, meine vom vielen Schreiben übermüdeten Augen spielten mir einen Streich. Aber es gab keinen Zweifel. Von dem Artefakt ging ein schwaches, bläuliches Leuchten aus! Ich stürzte zur Treppe und rief Davidson zurück. Der Chemiker kam aufgeregt die Stufen heruntergepoltert und blickte mich fragend an. »Was ist denn los, Mr Walden? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Wortlos deutete ich auf die Lichtquelle. Davidson kniff die Augen zusammen und blickte angestrengt in das Halbdämmern. »Was in Gottes Namen ...!«
Gebannt starrten wir einige Augenblicke auf das gespenstisch blaue Leuchten, das aus dem Inneren des Kristalls zu kommen schien. Davidson, als Chemiker mit derartigen Erscheinungen weitaus vertrauter als ich, erlangte als Erster seine Fassung zurück. Er ging zum Labortisch, stellte die Lampe ab und beugte sich vorsichtig über das Artefakt. Dabei näherte er sich dem Objekt so weit, dass seine Nasenspitze beinahe den Kristall berührte und der bläuliche Schein seinem Gesicht ein groteskes, koboldhaftes Aussehen verlieh.
»Phosphoreszenz würde ich sagen, vielleicht sogar Elektrolumineszenz. Sehr, sehr ungewöhnlich«, murmelte er leise vor sich hin.
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, kommentierte ich Davidsons Bemerkungen.
Der Chemiker blickte kurz zu mir herüber und wandte sich dann wieder dem Artefakt zu. »Solcherart Erscheinungen können verschiedene Ursachen haben, Mr Walden. Entweder enthält der Kristall fluoreszierende Phosphorverbindungen oder elektrische Entladungen in seinem Inneren sind dafür verantwortlich.«
Ich glaubte zu verstehen. »Es handelt sich dabei also um ein natürliches Phänomen?«
Davidson richtete sich auf. »In diesem Fall würde ich nicht darauf wetten, junger Mann. In Anbetracht der zahlreichen Merkwürdigkeiten, auf die wir im Laufe der Untersuchung gestoßen sind, halte ich es durchaus für möglich, dass dieses Leuchten irgendwie künstlich herbeigeführt worden ist. Aber lassen Sie mich zunächst noch etwas versuchen.«
Davidson nahm das Artefakt und spannte es in eine Art Haltevorrichtung. Dann rollte er fingerdicke Stromkabel auf dem Laborboden aus und verband sie auf der einen Seite mit der Haltevorrichtung und auf der anderen mit einem elektrischen Transformator. Fasziniert betrachtete ich das Treiben des alten Mannes, dessen Müdigkeit plötzlich wie weggeblasen schien. Nachdem er alles zu seiner Zufriedenheit installiert hatte, packte er meinen Arm und zog mich hinter das Transformatorengehäuse. »Geben Sie jetzt Acht, Mr Walden.«
Davidson drehte an einem großen Handrad und beobachtete dabei abwechselnd das Artefakt und zwei kleine Zeigerinstrumente, die am Transformator angebracht waren. Noch immer war mir nicht ganz klar, was er eigentlich vorhatte. Mein Gastgeber schien jedoch meine Irritation bemerkt zu haben und fühlte sich genötigt, ein Wort der Erklärung abzugeben. »Sehen Sie«, und dabei deutete er auf die Stromleitungen, die sich quer durch sein Labor schlängelten. »Ich entnehme Elektrizität aus dem städtischen Stromnetz und speise sie in diesen Transformator ein. Mithilfe dieser Stellräder hier bin ich in der Lage, Stromstärke und Spannung beliebig zu variieren. Die so umgespannte Elektrizität leite ich dann direkt in die Spitze des Kristalls.«
Davidsons Ausführungen klangen einleuchtend, aber dennoch konnte ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass der Mann, anstatt seriöse Forschung zu betreiben, nur seinem Spieltrieb frönte. Aber vielleicht verkannte ich ihn. Vielleicht war dies sein letzter, verzweifelter Versuch, dem seltsamen Objekt doch noch seine Geheimnisse zu entreißen. Ich hoffte nur, er wusste, was er tat. Davidson, der meinen skeptischen Gesichtsausdruck scheinbar nicht bemerkt hatte, setzte unbekümmert seine Erläuterungen fort.
»Wenn nun die Leuchterscheinung, die wir hier beobachten, auf herkömmliche Phosphoreszenz zurückzuführen ist, dann dürfte nach dem Anlegen einer Spannung keinerlei Veränderung zu beobachten sein. Sollte sich jedoch die Intensität des emittierten Lichtes