Die Dämonen vom Ullswater. Steffen König. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Steffen König
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748590774
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den großen Schrank neben der Tür, als ich eintrat und meine Aktentasche auf die Flurkommode warf. Überrascht kam Sophie aus der Küche gelaufen. Noch bevor sie ein Wort sagen konnte, überreichte ich ihr das Päckchen aus der Farringdon Road. Misstrauisch wiegte sie es für einen Augenblick in ihren Händen. Schließlich zerriss sie das Seidenpapier und holte den Reiseführer daraus hervor. Neugierig begann sie, darin zu blättern. Es dauerte nicht lange und sie entdeckte Nicholas' Brief zwischen den Seiten. Kaum hatte sie den Inhalt überflogen, da sprang sie auch schon freudig in meine Arme, küsste mich und sagte mir, wie sehr sie sich darauf freute, endlich wieder mit mir verreisen zu können. Zärtlich erwiderte ich ihren Kuss, erklärte ihr aber daraufhin mit gespieltem Ernst, dass sie wohl allein fahren müsse, da ich, bekäme ich nicht bald etwas Warmes zu essen, bis dahin mit Sicherheit an Entkräftung gestorben sei. Mit einem Lächeln verschwand sie wieder in der Küche.

      Nach dem Abendessen machten wir es uns dann im Wohnzimmer gemütlich, öffneten eine gute Flasche Wein und schmiedeten aufgeregt bis weit nach Mitternacht Urlaubspläne. Dabei leistete uns der von mir mitgebrachte Reiseführer hervorragende Dienste. Je länger wir in ihm blätterten, desto faszinierender und verlockender schienen uns die idyllischen Landschaften, die er uns zeigte, und nur allzu bereitwillig nahmen wir seine zahlreichen Empfehlungen in die Liste der von uns favorisierten Ausflugsziele auf. Am Ende mussten wir allerdings feststellen, dass wir, um alle von uns notierten Sehenswürdigkeiten zu bereisen, sicherlich mehr als einen Monat benötigt hätten. Ich erklärte Sophie, es sei schon schwierig genug, überhaupt ein paar freie Tage von Penncroft zu ergattern, und selbst wenn es mir gelänge, könnten wir uns glücklich schätzen, sollten es mehr als zwei Wochen am Stück werden. Sophie meinte daraufhin, ganz gleich, wie viele Tage ich dem alten Penncroft auch abringen würde, sie freue sich auf jeden einzelnen, den sie zusammen mit mir im wundervollen Cumberland verbringen könne. Und vielleicht, so fügte sie aufgeregt hinzu, wäre es ja sogar möglich, ihren Onkel in Keswick zu besuchen. Ich schmunzelte über diese nicht ganz unerwartete Bemerkung, befürchtete aber, Sophie könnte um so enttäuschter sein, sollten sich meine Bemühungen als erfolglos erweisen. Schließlich einigten wir uns beim zu Bett gehen darauf, mit unserer Reiseplanung noch so lange zu warten, bis ich mit Sicherheit wusste, dass Penncroft meiner Bitte entsprechen würde. Denn immerhin, so gab ich Sophie zu bedenken, gäbe es nichts, was den alten Rechtsverdreher davon abhalten könnte, meinen Urlaubsantrag abzulehnen und mir für die Zeit seiner Abwesenheit noch mehr Arbeit aufzuhalsen. Sophie erwiderte zunächst nichts auf meine schwarzmalerischen Äußerungen und schaute mich stattdessen nur nachdenklich an. Schließlich küsste sie mich mit einem geheimnisvollen Lächeln auf die Schläfe, hauchte mir ein »Viel Glück« ins Ohr und legte dann ihren Kopf auf meine Brust. Ich löschte das Licht und zog sie nahe an mich heran. Ihr gleichmäßiger Atem und der kaum wahrnehmbare Geruch ihres Parfüms wiegten mich schon bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es sollte der erholsamste Schlaf seit Wochen werden.

      An den darauffolgenden Tagen unterwarf ich mich dann rigoros einer seit meinem Studium nicht mehr zelebrierten Arbeitsdisziplin. Ich betrat im Morgengrauen die Kanzlei, aß in den wenigen Pausen, die ich mir gönnte, hastig meine Mahlzeiten und vergrub mich ansonsten bis tief in die Nacht fanatisch schreibend in meinem Büro. Ich kam gut voran, und während ich dabei zusah, wie die Aktenberge auf meinem Schreibtisch schrumpften, zerstreuten sich allmählich auch die letzten Zweifel, die ich hinsichtlich des Erfolges meiner Anstrengungen hegte. Und dann war es geschafft! Am Nachmittag des 26. Juli hatte ich schließlich alle Berichte abgearbeitet. Jetzt endlich hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, in Penncrofts Büro zu spazieren und ihm mein lang gehegtes Anliegen vorzutragen. Aufgeregt, wie ein Schuljunge vor einer Klassenarbeit, klemmte ich mir den gerade fertig gestellten Stapel Berichte unter den Arm und war gerade dabei, das Zimmer zu verlassen, als Mrs Chadwick mit gehetztem Gesichtsausdruck hereinstürmte und mir im Vorbeigehen einen unförmigen Gegenstand in die Hand drückte. Sie plapperte irgendetwas von »... gerade für Sie abgegeben worden ...« und »... keine Zeit ...« und hatte, noch ehe ich eine Bemerkung machen konnte, den Raum schon wieder verlassen. Irritiert starrte ich auf ein braunes Päckchen in meiner Hand und lauschte dabei den sich entfernenden Schritten Mrs Chadwicks. Nachdem ich meine Gedanken wieder einigermaßen beisammen hatte, ging ich zurück an meinen Schreibtisch, legte die Akten ab und machte mich daran, die merkwürdige Sendung zu untersuchen. Wieder einmal konnte ich keinerlei Absender entdecken und wieder einmal war ich der direkte Adressat. Darüber hinaus hatte ich beträchtliche Schwierigkeiten, die krakelige Schrift zu entziffern. Ungeduldig zerriss ich das Packpapier. Zum Vorschein kam ein graues, fest verschnürtes Stoffbündel, an dem mit einem Gummiband ein Zettel befestigt war. Ich entfaltete ihn und begann zu lesen:

      »Alan, seltsame Dinge geschehen nachts in den Wäldern von Cumberland. Ich kann noch nichts Näheres sagen, aber offenbar scheint es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer von mir kürzlich beobachteten Erscheinung und diesem merkwürdigen Objekt zu geben, das ich heute Morgen im Wald nahe dem Haus gefunden habe. Trotz einer ausführlichen Untersuchung war ich nicht in der Lage, seine Herkunft oder dessen Verwendungszweck zu ergründen. Sogar das Material, aus dem es besteht, scheint ungewöhnlich zu sein. Ich stehe vor einem Rätsel. Aber es gibt da jemanden, der mir weiterhelfen könnte. John Davidson, ein alter Freund meines Vaters, ist ausgebildeter Chemiker. Er besitzt mehrere Drogerien in London und wohnt irgendwo im Westen der Stadt. Du wirst seine Adresse ohne Schwierigkeiten in jedem aktuellen Branchenverzeichnis finden. Bitte bringe ihm das Objekt. Er soll es untersuchen und feststellen, was es damit auf sich hat. Sobald Davidson die Analyse abgeschlossen hat, nimmst Du das Stück wieder an Dich und bringst es mir. Ich erwarte Dich dann am Freitag gegen Mittag am Bahnhof von Penrith. Alan, ich zähle auf Deine Hilfe!

      Nicholas«

      Immer wieder überflog ich die eigenartige Botschaft. Es bestand kein Zweifel, diese Nachricht stammte von Nicholas. Es war eindeutig seine Handschrift und sogar einen gewissen Davidson hatte er mir gegenüber schon einmal erwähnt. Ich wendete den Zettel, um zu sehen, ob es noch mehr Text gab. Aber da war nichts, nur diese seltsam verworrenen Zeilen auf der Vorderseite. Ein Blick auf den Poststempel verriet mir, dass das Päckchen am 24. Juli aufgegeben worden war. Demnach erwartete mich Nicholas schon morgen in Penrith. Aber worum zum Teufel ging es hier? Die Nachricht war konfus und verwirrend. Welcherart Erscheinung wollte er beobachtet haben? Und was für seltsame Dinge sollten sich seiner Meinung nach in den Wäldern von Cumberland abspielen? Wollte er mir etwa einen Streich spielen? Immerhin gab es da noch dieses Objekt, das ich von Davidson analysieren lassen sollte. Ich nahm das Stoffbündel zur Hand und schnitt es vorsichtig auf. Zum Vorschein kam ein höchst seltsames Gebilde. Es war eine schimmernde, kristallene Masse von der ungefähren Form und Größe eines Hühnereies. Das stumpfe Ende dieses Objektes steckte in einer Art metallener Fassung, an deren hinterem Ende so etwas wie ein kompliziertes Kugelgelenk angebracht war, aus dem drei lange, Furcht einflößende Krallenfinger hervorragten, die mit kleinen, spitzen Widerhaken versehen waren. Ich konnte nur raten, was ich hier vor mir hatte. Meine Vermutungen reichten von einer seltenen, antiken Waffe über ein Gerät zum Fischfang bis hin zu einem religiösen Kultgegenstand. Aber letztendlich konnte ich mir keinen Reim auf dieses abstoßend hässliche Ding machen. Nur eines wusste ich mit ziemlicher Sicherheit, meine Reisepläne hatten sich soeben geändert.

      2. Das Artefakt

      Sophie saß schweigend neben mir, als sich unser Hansom stockend seinen Weg durch das allmorgendliche Verkehrsgetümmel auf der Charing Cross Road bahnte. Ich saß nach vorne geneigt, die Hände auf meinen Spazierstock gestützt, und beobachtete mit wachsender Unruhe die wimmelnde Masse aus Droschken und Menschen, die sich träge durch die staubigen Straßen von London wälzte und ein schnelles Vorankommen unseres Gefährtes verhinderte. Es war einfach lächerlich. Noch vor wenigen Tagen döste ich in meinem Arbeitszimmer übermüdet vor mich hin und zählte die Stunden bis zum Büroschluss. Nun lief mir die Zeit davon. In einer knappen halben Stunde sollte mein Zug von Euston Station aus in Richtung Penrith gehen. Aber meine Reise schien unter keinem guten Stern zu stehen. Schon zu Beginn hatte sich unser Aufbruch um mehrere Minuten verzögert, als es mir nicht gleich gelang, eine unbesetzte Droschke zu ergattern. Zu allem Überfluss war dann auch noch in einer der belebten Seitenstraßen, die zur Gower Street führten, ein Brauereiwagen umgekippt und versperrte mit seinen auslaufenden Fässern nahezu die gesamte Fahrspur.