Die Dämonen vom Ullswater. Steffen König. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Steffen König
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748590774
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mehr verkraften.

      Plötzlich durchschnitt ein kurzer, lauter Knall den Lärm der Straße. Ein Ruck ging durch unser Cab und die schlagartig einsetzende Beschleunigung drückte uns unsanft in die Polster. Der Kutscher hatte offenbar im Gewühl eine freie Schneise entdeckt und gab dem Pferd die Peitsche. Ich hatte ihm einen großzügigen Bonus versprochen, falls er es schaffen sollte, uns in Rekordzeit zum Bahnhof zu bringen, und es schien ganz so, als wollte er sich diesen nicht entgehen lassen. Das Zugtier, ein schwarzer, kräftiger Hackney, machte einen Satz nach vorne und zog unser leichtes Gefährt wie ein Spielzeug hinter sich her. Das Cab schwang heftig schlingernd herum, schleuderte auf die Gegenspur und kam dabei einer entgegenkommenden Droschke gefährlich nahe. Für einen kurzen Augenblick starrte ich in das schreckerfüllte Gesicht ihres Kutschers, der verzweifelt versuchte, sein Gefährt so schnell wie möglich auf die rechte Straßenseite zu lenken, um eine Kollision mit uns zu vermeiden. Seine Droschke machte einen Satz zur Seite und gewann im allerletzten Moment den nötigen Raum, um uns gefahrenfrei zu passieren. Als dann schließlich unsere beiden Wagen, mit nur wenigen Inches Abstand, aneinander vorbeischrammten, konnte ich hören, wie der von uns in Bedrängnis gebrachte Kutscher in schwerem Cockney-Akzent eine ganze Reihe markerschütternder Flüche zu uns herüberbrüllte. Und Recht hatte er, denn schließlich bezahlte ich den Kerl auf dem Kutschbock nicht dafür, uns ins Jenseits zu befördern, sondern so schnell wie möglich zum Bahnhof zu bringen. Ich wollte gerade mit meinem Stock protestierend an das Dach des Cabs hämmern, als ich bemerkte, dass sich das waghalsige Manöver unseres Chauffeurs offenbar auszahlte. Wir nahmen zügig Fahrt auf und kurze Zeit später eilten wir mit hohem Tempo die Gower Street hinunter. Halbwegs besänftigt lehnte ich mich wieder zurück und sah in Erwartung eines strafenden Blickes zu Sophie hinüber. Doch sie starrte scheinbar geistesabwesend auf die Straße hinaus und schien von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen zu haben. Besorgt griff ich nach ihrer Hand, nur um mich zu vergewissern, dass alles mit ihr in Ordnung war. Doch Sophie legte sie wie beiläufig auf den Rand der Cabtür. Es war die unmissverständliche Geste einer Frau, die mir damit zeigen wollte, dass sie offenbar noch immer über die Umstände meines plötzlichen Aufbruches und meinen Entschluss, sie nicht mit nach Penrith zu nehmen, verärgert war. Ich konnte sie verstehen.

      In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatten sich die Ereignisse nahezu überschlagen. Am Vortag, kurz nach Erhalt jener ominösen Sendung aus Penrith, hatte ich mich ohne zu zögern in Penncrofts Büro begeben, um meinen, jetzt noch dringender denn je, benötigten Urlaub einzufordern. Dabei kam mir sehr entgegen, dass Penncroft, dank unserer geschwätzigen Mrs Chadwick, bereits von dem Päckchen erfahren hatte. Gleich zu Beginn unseres Gespräches wollte er wissen, ob meine plötzliche Bitte um Urlaub vielleicht damit zusammenhinge. Ich griff diese sich mir bietende Gelegenheit sofort beim Schopf und tischte ihm eine Geschichte über eine angeblich problematische Situation in meinem Elternhaus auf, deren Klärung meiner sofortigen Anwesenheit bedurfte. Penncroft, offenbar aufgrund seines bevorstehenden Ausfluges an die Küste bester Laune, warf einen kurzen, abschätzenden Blick auf die von mir bearbeiteten Akten und willigte daraufhin sofort ein, mir für die folgenden vierzehn Tage freizugeben. Schon eine knappe halbe Stunde später hatte ich alle meine laufenden Tagesgeschäfte einem sichtlich überraschten Mr Akhurst übergeben, unserer hochgeschätzten Mrs Chadwick zwei geruhsame Wochen gewünscht und eine Droschke Richtung Euston Station bestiegen. Ich erwarb eine Fahrkarte für die zweite Klasse in einem der frühen Züge nach Norden und machte mich dann sofort auf den Weg zu Davidson.

      Wie Nicholas schon richtig vermutet hatte, war es kein Problem gewesen, die Adresse des Mannes in Erfahrung zu bringen. Er bewohnte eine großzügige Stadtwohnung in Kensington am südlichen Ende des Kensington Gardens. Er selbst präsentierte sich mir als ein grauhaariger Gentleman fortgeschrittenen Alters mit einem wild abstehenden Backenbart und einer Nickelbrille auf der Nase. Nachdem ich mich ihm vorgestellt und mein Anliegen vorgetragen hatte, geleitete er mich sofort hinunter in den Keller, wo sich sein opulent ausgestattetes Privatlaboratorium befand. Ich war sichtlich beeindruckt. Nicholas hatte zwar erwähnt, Davidson sei Chemiker, aber der Ausstattung seines Labors nach zu urteilen, war dieser Mann scheinbar auch in vielen anderen Fachgebieten heimisch. Die hohen Regale an den Wänden waren überfrachtet mit dickleibigen Büchern, losen Schriftstücken, Formelsammlungen und wissenschaftlichen Abhandlungen zu allen nur erdenklichen Themen. Die Menge an Dokumenten war beachtlich und hätte wahrlich jeder Universitätsbibliothek zur Ehre gereicht. Mein Gastgeber führte mich in einen Bereich seines Labors, der offenbar praktischen Versuchen diente. An den Wänden standen nun schwere, zernarbte Holztische, auf denen sich allerlei wissenschaftliches Gerät drängte. Davidson trat einige Schritte zur Seite und betätigte einen kleinen Schalter an der Wand. Plötzlich erstrahlte der ganze Raum im hellen Schein elektrischer Lampen. Er öffnete einen Schrank und holte eine Flasche samt Gläsern hervor. »Kann ich Ihnen einen Brandy anbieten?«

      Ich nahm dankend an und wir setzten uns auf ein paar klapprige Holzstühle. Mein Gegenüber wartete ab, bis ich an meinem Glas genippt hatte, und beugte sich dann ungeduldig zu mir herüber. »Nun denn, Mr Walden. Zeigen Sie mir doch mal, was Sie da haben.«

      Ich holte Nicholas' Fundstück hervor und wickelte es vorsichtig aus dem grauen Leinentuch. Kaum hatte Davidson das seltsame Objekt erblickt, stieß er einen leisen Pfiff aus und musterte es mit der für einen Gelehrten üblichen Faszination.

      »Erlauben Sie?«, fragte er und streckte begierig seine Hände danach aus.

      »Sicher«, entgegnete ich und reichte ihm mein bizarres Mitbringsel.

      Davidson hob das Objekt vorsichtig mit den Fingerspitzen aus dem Tuch und trug es zu einem seiner Arbeitstische hinüber. »Und wo noch mal, sagten Sie, hat Mr Halford dieses ungewöhnliche Stück gefunden?«

      »In einem Waldstück bei Penrith«, antwortete ich. »So stand es jedenfalls in dem beiliegenden Schreiben.«

      »Höchst interessant«, murmelte er und beugte sich mit einer Lupe über das Gebilde.

      Während ich langsam weiter meinen Brandy trank, sah ich dabei zu, wie mein Gastgeber aufgeregt vor seinem Arbeitstisch hin- und hersprang und das Objekt neugierig von allen Seiten beäugte.

      »Können Sie schon sagen, was es ist?«, wollte ich wissen.

      Davidson drehte sich um und schaute mich vorwurfsvoll über den Rand seiner Brille hinweg an. »Junger Mann, einmal davon abgesehen, dass es mit Ihrer Geduld nicht zum Besten bestellt zu sein scheint, müssen Sie mir schon die notwendige Zeit zugestehen, dieses Objekt angemessen zu untersuchen. Wissenschaft, Mr Walden, die Suche nach der Wahrheit, ist keinesfalls ein Wettrennen, auch wenn es Leute gibt, die da anderer Meinung sind.«

      »Bitte vergeben Sie mir«, ich hob beschwichtigend die Hände, »ich wollte Sie auf keinen Fall ...«

      »Schon gut, schon gut«, winkte Davidson ab. »Ich weiß, die Zeit sitzt Ihnen im Nacken, also lassen Sie uns zügig an die Arbeit gehen und herausfinden, was es mit diesem bemerkenswerten Objekt auf sich hat. Übrigens, junger Mann, wo wir schon einmal dabei sind, verfügen Sie über eine einigermaßen saubere Handschrift?«

      Ich bejahte und so verbrachten wir die folgenden Stunden damit, den von mir mitgebrachten Gegenstand auf das Genaueste zu untersuchen. Dazu betrachtete Davidson zunächst jedes Detail des Objektes sorgfältig unter dem Mikroskop, erfasste seine Maße und stellte bis auf die zehntel Unze genau sein Gewicht fest. Anschließend führte er eine Reihe chemischer Tests an dem eiförmigen Kristall und dem Material der Fassung durch. Zuletzt versuchte er noch, eine Probe vom metallenen Teil des Artefaktes zu erhalten, was ihm aber trotz Einsatzes eines Diamantschneiders nicht gelingen wollte. In der Zwischenzeit notierte ich auf Davidsons Geheiß alle gewonnenen Erkenntnisse in ein Notizbuch.

      Als die Untersuchungen abgeschlossen waren, erhob sich mein Gastgeber und begann unschlüssig im Labor auf und ab zu gehen. Dabei machte er immer wieder vor einem seiner Bücherregale halt, zog ein Buch daraus hervor, blätterte darin, schüttelte den Kopf und stellte es enttäuscht wieder zurück. Nachdem er auf diese Weise ungefähr ein Dutzend Werke zurate gezogen hatte, setzte er sich wieder auf einen der alten Holzstühle, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Brandyglas und blickte nachdenklich zu mir herüber. »Wissen Sie, junger Mann, Sie werden gerade Zeuge von etwas, dem bisher nicht viele Menschen in meiner