Am nächsten Morgen schwebte der Duft von frisch gebrühtem Kaffee durch die Wohnung und ich hörte, wie Sophie geschäftig mit dem Frühstücksgeschirr klapperte. Entgegen meinen Erwartungen fühlte ich mich relativ ausgeruht und voller Tatendrang. Fest davon überzeugt, unser Streit vom Vorabend sei beigelegt, kleidete ich mich zügig an und begab mich frohen Mutes in das Wohnzimmer. Schon bald bemerkte ich jedoch, dass sich an unserer angespannten Situation nichts geändert hatte. Sophie setzte offenbar am Frühstückstisch ihren am Vorabend begonnenen, lautlosen Protest fort und schien mich weitestgehend zu ignorieren. Nur der Umstand, dass ich gedanklich schon bei meinem Treffen mit Nicholas war, ließ mich dieser Tatsache zunächst keine weitere Beachtung schenken. Selbst als wir kurz danach hektisch das Haus verließen und uns auf den Weg zum Bahnhof machten, kamen nur die nötigsten Bemerkungen über ihre Lippen. Später, als wir dann den Euston Square passierten und es nur noch eine Frage von wenigen Minuten war, bis der Bahnhof in Sicht kommen würde, begann ich mir langsam Gedanken über unseren bevorstehenden Abschied zu machen. Ich hatte kein Verlangen, mich mit quälenden Gewissensbissen in ein unbekanntes Abenteuer zu stürzen, bevor ich mit Sophie nicht ins Reine gekommen wäre.
Unser Cab stoppte und ich wurde abrupt in die Wirklichkeit Londons zurückgerissen. Vor uns ragte das mächtige Säulenportal der Euston Station auf. Ich war erleichtert. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass ich noch genug Zeit hatte, bequem meinen Zug zu erreichen. Ich bezahlte den Kutscher und verkniff mir dabei einen bissigen Kommentar bezüglich seiner Fahrweise. Sophie war bereits ausgestiegen und wartete in einiger Entfernung mit unbeweglicher Miene vor dem Eingang der Bahnhofshalle. Ich konnte nur raten, was in ihr vorging. Womöglich war sie immer noch darüber verärgert, dass ich sie nicht mitnahm. Warum wollte sie nicht verstehen, dass es so besser für sie war, dass ich sie nur vor unnötigen Gefahren schützen wollte? Resignierend musste ich mir eingestehen, dass ich trotz der vielen Jahre, die ich sie nun schon kannte, vor einem Rätsel stand. In diesen Momenten wünschte ich mir, ich würde die komplizierte Psyche der Frauen besser verstehen. Aber was die Gründe auch waren, ich war einem für mich zu diesem Zeitpunkt weitaus größeren Rätsel auf der Spur, einem Rätsel, das sich durch ein Päckchen aus Penrith manifestiert hatte und von dessen Lösung mich, so glaubte ich damals, nur noch eine mehrstündige Bahnfahrt trennte.
Entschlossen griff ich meine Reisetasche, nahm Sophie bei der Hand und setzte, ohne ihre Reaktion abzuwarten, meinen Weg Richtung Bahnhofshalle fort. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich bemerkte, dass sie keine Anstalten machte, sich meinem Griff zu entziehen. Vielleicht konnte ich in dieser Angelegenheit doch noch mit ihrem Segen rechnen. Als wir den Bahnsteig erreichten, wartete dort schon mein Zug. Kofferträger und Bedienstete verluden gerade die letzten Gepäckstücke in die Waggons, und an den offenen Abteilfenstern und Einstiegen verabschiedete man sich bereits von seinen Angehörigen und Freunden. Am hinteren Ende der Bahnhofshalle wedelte ein korpulenter Schaffner ungeduldig mit den Händen und drängte die letzten Passagiere zum Einsteigen. Der Bahnsteig begann sich allmählich zu leeren und jeden Moment konnte das Signal zur Abfahrt gegeben werden. Ich wuchtete meine Reisetasche in den nächstgelegenen Einstieg und drehte mich voller Erwartung zu Sophie herum. Zunächst versuchte sie meinen Blicken auszuweichen, doch schließlich blickte sie auf und schaute mir in die Augen. Als sich unsere Blicke trafen, stiegen in mir wieder jene Schuldgefühle auf, die mich bereits seit unserer Auseinandersetzung in der letzten Nacht verfolgten. Ich versuchte, mich davon frei zu machen, indem ich mir immer wieder die makaberen Ereignisse in Davidsons Labor ins Gedächtnis rief. Aber vielleicht war meine Vorsicht übertrieben. Was hätte es geschadet, wenn ich sie mitgenommen hätte. Mir wurde klar, in diesem Moment wünschte ich mir von ihr nichts weiter als Verständnis, ja vielleicht sogar Vergebung für mein ungestümes, kindsköpfiges Handeln. Hilflos stand ich vor ihr, schaute in ihre dunklen Augen und hoffte sehnsüchtig auf ein Zeichen. Als dann schließlich das unverkennbare Geräusch sich schließender Waggontüren die baldige Abfahrt meines Zuges ankündigte, erlosch in mir der letzte Funke Hoffnung auf Versöhnung.
Enttäuscht wollte ich bereits in den Waggon steigen, als ein kleines Wunder geschah. Sophies Züge entspannten sich und der Hauch eines Lächelns begann, ihre Lippen zu umspielen. Mein Herz machte einen Freudensprung. Ich nahm sie in den Arm und küsste sie. Mir war es egal, was die anderen Leute dachten. Sie erwiderte meinen Kuss und flüsterte mir ins Ohr, ich solle auf mich aufpassen. Ich versprach ihr, keine unnötigen Risiken einzugehen und so bald wie möglich zu telegrafieren. Ich wollte ihr noch mehr sagen, aber in diesem Moment hatte sich bereits der korpulente Schaffner neben uns aufgebaut und nötigte mich mit strenger Miene zum Einsteigen. Ich gab Sophie noch einen flüchtigen Kuss und beeilte mich, in den Waggon zu klettern. Beinahe wäre ich dabei über meine Reisetasche gefallen, die ich kurz zuvor am Einstieg abgestellt hatte. Mein Missgeschick entlockte dem Schaffner lediglich ein missmutiges Kopfschütteln, bevor er seine Kelle hob und dem Lokführer freie Fahrt gab. Sekunden später ging eine sanfte Erschütterung durch den Waggon und der Zug nahm langsam Fahrt auf. Durch das geöffnete Fenster in meinem Abteil konnte ich Sophies zierliche Gestalt erkennen. Ich hob meine Hand und winkte ihr zum Abschied zu. Unsicher und zögerlich erwiderte sie meine Geste. Ich bedauerte, sie jetzt zurücklassen zu müssen. Die letzten Stunden mussten hektisch und enttäuschend zugleich für sie gewesen sein. Aber ich war fest entschlossen, alles wieder gut zu machen. Doch zunächst musste ich klären, was dort in Cumberland vor sich ging. Unwillkürlich begannen meine Gedanken wieder um das merkwürdige Artefakt zu kreisen. In der Zwischenzeit dampfte der Zug mit stetig wachsender Geschwindigkeit weiter Richtung Norden. Ich jedoch stand gedankenversunken am Fenster meines Abteils und bemerkte nicht einmal mehr, wie Sophies Gestalt langsam in der Ferne verblasste und die Euston Station allmählich im grauen, anonymen Häusermeer Londons versank.
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