Die Dämonen vom Ullswater. Steffen König. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Steffen König
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748590774
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schnell in einen tiefen, erholsamen Schlaf fielen. Wie Du Dir sicher vorstellen kannst, ist es mir unter diesen Bedingungen selten gelungen, etwas zu Papier zu bringen, das ich Dir hätte schicken können. Wenn ich dann doch einmal die Zeit fand, einige Zeilen an Dich zu verfassen, war ich gezwungen, diese so lange mit mir herumzutragen, bis wir wieder in Gegenden kamen, die ein halbwegs vertrauenswürdiges Postamt vorweisen konnten. Vertrauenswürdig deshalb, weil Du Dir einfach keine Vorstellung davon machen kannst, wie stiefmütterlich die Briefbeförderung in vielen Teilen Europas gehandhabt wird. Ich für meinen Teil habe mir seitdem hoch und heilig geschworen, nie wieder ein böses Wort über unser zuverlässiges, britisches Postwesen zu verlieren, geschweige denn unseren armen Briefträger Mr Bartlett noch einmal mit Vaters Hunden zu ärgern, wobei ich, ehrlich gesagt, über den letzten Punkt noch einmal nachdenken werde. Zumindest wirst Du jetzt nachvollziehen können, warum ich irgendwann damit begonnen habe, meine Briefe an Dich zu nummerieren. Ich bin weiß Gott gespannt darauf, zu erfahren, wie viele von ihnen – bei Nummer 13 rechne ich übrigens mit Totalverlust – letztendlich London erreicht haben.

      Aber genug der Ausflüchte. All diese Umstände rechtfertigen natürlich nicht im Geringsten mein beharrliches Schweigen während der letzten Monate und ich erwarte deshalb nicht von Dir, dass Du Dich, nach so langer Zeit, von mir mit diesen hastig zusammengeschriebenen Zeilen abspeisen lässt. Aber bitte glaube mir, Alan, mittlerweile bin ich mir meiner Nachlässigkeit unserer Freundschaft gegenüber durchaus bewusst. Schon seit meiner Ankunft hier in Paris zerbreche ich mir ununterbrochen den Kopf über eine adäquate Wiedergutmachung. Wie ich von Mutter erfahren habe, hattet ihr, Sophie und Du, bisher keine Gelegenheit, Eure Hochzeitsreise anzutreten. Nun, ich kann Euch zwar keine Weltreise bieten, aber zumindest sollte es mir gelingen, Euch für ein paar Tage vom Londoner Großstadtmief zu erlösen, indem ich Euch einlade, einige Zeit im Ferienhaus meiner Eltern zu verbringen. Ich glaube mich zu erinnern, Dir schon einmal von dem Haus erzählt zu haben. Es liegt in der Grafschaft Cumberland, zirka fünf bis sechs Meilen südwestlich von Penrith. Mein Vater nutzte es in den letzten Jahren vorwiegend als Unterkunft bei seinen Angelausflügen zum Ullswater. Ich werde natürlich dafür sorgen, dass Euch bei Eurer Ankunft ein Einspänner, Fahrräder und eine reichlich gefüllte Speisekammer zur Verfügung stehen. Darüber hinaus hat Vater sicher nichts dagegen, wenn Du seine Angelausrüstung benutzt.

      Was mich betrifft, so werde ich es mir als Gastgeber natürlich nicht nehmen lassen, Euch einige Tage dort oben in Cumberland Gesellschaft zu leisten, bevor mich meine Pflichten wieder nach London zurückrufen. Nach meiner Abreise werdet Ihr dann das ganze Haus für Euch allein haben, was sicher sehr reizvoll sein dürfte. Ich kann jetzt nur noch hoffen, dieses Angebot erreicht Dich nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn, wie Du mir sicherlich zustimmen wirst, wäre es sehr bedauerlich, wenn wir uns diese einmalige Gelegenheit auf ein baldiges Wiedersehen entgehen ließen. Sollten sich keine weiteren Verzögerungen ergeben, werde ich voraussichtlich zu dem Zeitpunkt, an dem Dich dieser Brief erreicht, wieder englischen Boden unter den Füßen haben. Meine Pläne sehen vor, bei meinen Eltern in Exceter ein bis zwei Tage zu verschnaufen und dann weiter Richtung Penrith zu reisen. Du solltest mich dann dort ab dem Dreiundzwanzigsten telegrafisch erreichen können. Die genaue Adresse habe ich Dir weiter unten notiert. Teile mir bitte so schnell wie möglich Deine Entscheidung mit, damit ich im Falle einer positiven Zusage alles Weitere arrangieren kann! Um Dir die Zeit bis zu unserem Wiedersehen zu verkürzen, habe ich Dir eine kurze Zusammenfassung der interessantesten Ereignisse meiner letzten Reiseetappe beigelegt. Vieles von dem, was Du dort lesen wirst, wurde von mir allerdings erst im Nachhinein mit Hilfe meiner Tagebuchaufzeichnungen niedergeschrieben. Vergib mir also bitte die kleinen Ungenauigkeiten, die sich eventuell hier und dort eingeschlichen haben. Aber mit etwas Glück werde ich Sophie und Dir bald alles persönlich erzählen können. In der Hoffnung, Euch demnächst gesund und munter in die Arme schließen zu können, verbleibe ich mit herzlichen Grüßen und wünsche Euch noch eine nicht allzu hektische Zeit in London.

      Dein treu ergebener Freund Nicholas

      Wie vom Blitz getroffen, sprang ich auf und riss dabei beinahe das Tablett mit dem Tee vom Tisch. Aufgeregt begann ich im Zimmer auf und ab zu laufen. Meine Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Nicholas hatte sich mit diesem Einfall wieder einmal selbst übertroffen. Nicht nur, dass mich die Aussicht, die nächste Zeit inmitten der grünen Wiesen und schattigen Wälder von Cumberland verbringen zu können, wahrhaft euphorisch stimmte, nein, auch der Zeitpunkt seiner Einladung kam für mich in Anbetracht meiner angegriffenen Psyche in einem denkbar günstigen Augenblick. Immer wieder überflog ich seine Zeilen, als fürchtete ich, mein übermüdeter Verstand könnte mir einen Streich gespielt haben. Ich konnte es kaum erwarten, Sophie von dieser freudigen Angelegenheit zu berichten. Ich sah sie bereits vor mir, wie ihre Augen bei der Erwähnung von Cumberland anfangen würden zu strahlen, und sie dies wieder zum Anlass nähme, Geschichten von ihrem Onkel William aus Keswick zu erzählen, der sie als kleines Mädchen oft in seinem Ruderboot hinaus zum Angeln auf den Derwent Water mitgenommen hatte. Aber zunächst einmal musste ich mich vergewissern, dass sich unseren Reiseplänen keine unvorhergesehenen Hindernisse in den Weg stellten. Ich wusste, Penncroft plante die Kanzlei gegen Ende der Woche für einige Zeit zu verlassen, um seinem Bruder an der Küste einen Besuch abzustatten. Da sich die meisten unserer Klienten während der heißen Sommermonate selten in London aufhielten, hatte seine Abwesenheit während dieser Zeit zwar keinen negativen Einfluss auf den Kanzleibetrieb, setzte mich aber unter nicht unerheblichen Zeitdruck. Aus Erfahrung wusste ich nämlich, dass sich Penncrofts Stellvertreter Mr Akhurst selten dazu hinreißen ließ, kurzfristige Urlaubsanträge zu bewilligen. So war ich wohl oder übel gezwungen, innerhalb der nächsten drei Tage bei Penncroft vorzusprechen, wenn mein Anliegen nicht auf Akhursts taube Ohren stoßen sollte. Schon allein dieser Gedanke löste ein gewisses Unbehagen bei mir aus, das sich umso mehr verstärkte, je länger mein Blick über die hoch aufragenden Papierberge meines Schreibtisches wanderte. Ich machte mir keinerlei Hoffnungen, von Penncroft auch nur angehört zu werden, solange ich ihm nicht ein beträchtliches Pensum erledigter Aufgaben präsentieren konnte. Aber vielleicht war dies genau die Motivation, die ich brauchte. Ich würde an den folgenden Tagen einfach früher in die Kanzlei kommen, meine Mittagspause verkürzen und jeden Abend an Penncrofts Tür klopfen, um ihm einen neuen Stapel fertiggestellter Berichte vorzulegen. Ich war überzeugt, eine derart übertriebene Zurschaustellung emsigen Tatendranges musste Penncroft dazu veranlassen, meiner Bitte um ein paar freie Tage ohne größere Umschweife zu entsprechen. Und so machte ich mich an die Arbeit.

      Bestärkt durch die Aussicht, dem heißen, stickigen London bald den Rücken kehren zu können, nahm meine Produktivität ungeahnte Ausmaße an und ich stellte mit Erstaunen fest, zu welchen Leistungen ein Mensch doch imstande war, wenn er nur ausreichend motiviert wurde. Ich schrieb wie im Fieber und gegen Abend hatte ich nicht nur den Bradshaw-Bericht fertiggestellt, sondern auch ein halbes Dutzend weiterer Schriftstücke, die schon seit einigen Wochen in meiner Ablage verstaubten.

      Als ich endlich die Kanzlei verließ, stellte ich mit Überraschung fest, dass ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Die Sonne war bereits hinter den Dächern versunken und der fahle Schein der Gaslaternen breitete sich flackernd in den Straßen aus. Mir wurde bewusst, dass Sophie schon seit Stunden auf mich wartete. Zügig lenkte ich meine Schritte Richtung Holborn.

      In der Farringdon Road kam ich an einem kleinen Buchladen vorüber, der überraschenderweise zu dieser späten Stunde noch geöffnet hatte. Plötzlich kam mir eine Idee. Ich betrat das Geschäft und erkundigte mich beim Verkäufer, ob er Prospekte oder Broschüren jedweder Art über Cumberland im Angebot hatte. Tatsächlich führte er eine kleine Auswahl von Bildbänden, Wanderkarten und Reiseführern unterschiedlichster Qualität. Ich entschied mich für ein gebundenes, reich bebildertes Exemplar von Dixon’s »Cumberland Guide«, legte die Einladung von Nicholas zwischen die ersten beiden Seiten und ließ es vom Verkäufer in Geschenkpapier einschlagen. Ich hoffte, dieses kleine Mitbringsel würde Sophie für meine späte Ankunft entschädigen und gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf originelle Art und Weise auf Nicholas' Brief lenken. Letztendlich stellten sich aber meine Bedenken hinsichtlich meiner Verspätung als gegenstandslos heraus. Da uns die finanziellen Möglichkeiten zum Unterhalt einer Haushälterin fehlten, war Sophie oft auf sich allein gestellt und an manchen Tagen bis in die Dämmerung hinein unterwegs, um Besorgungen zu machen, wie auch an diesem Abend. Als