Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Nordländer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847691907
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beiden auf seine erwartungsvolle Spannung wegen der Geburt seines Kindes. Und sie würden ihm nicht allein die Freude überlassen. Natürlich würden sie Heinrich nach Hause begleiten, und wenn das Kind schon da sein sollte, musste Heinrich ihnen tüchtig einen ausgeben. Und diese Aussicht hob auch ihre Stimmung, allerdings nicht genug, um heitere Gesänge anzustimmen. Dafür hatten sie am späteren Abend vielleicht mehr Grund.

      Die drei Holzfäller waren mit ihrem Tagwerk zufrieden. Der Stoß mit den aufgearbeiteten Baumstämmen und der Haufen mit den Ästen zeugten davon, dass sie nicht müßig gewesen waren. Wenn sie selbst auch kaum mehr als ein Lob dafür erhoffen konnten, dass sie mehr geleistet hatten, als von ihnen erwartet wurde, ihr Lohn würde deswegen nicht höher ausfallen, so konnten sie zumindest mit einem gewissen Wohlgefallen auf ihre Arbeit schauen.

      Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als sie sich auf den Heimweg machten. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Heinrich bemerkte, dass er etwas verloren hatte. Es war eine Art Talisman, ein kleiner Beutel mit einer Brosche seiner Frau, den er ständig an seinem Gürtel trug, wenn er zur Arbeit ging. Zum Unwillen seiner beiden Kompagnons, die der Meinung waren, dass er den Beutel in der Helligkeit des nächsten Tages wohl eher wiederfinden würde, und sie ihm dann auch bei der Suche helfen wollten, kehrte er trotzdem noch einmal um, mit der Begründung, dass der Beutel mit der Brosche morgen gewiss unter dem Schnee lag und sie ihn bestimmt nicht wiederfinden würden. Er wollte ihn aber wiederhaben. Die beiden blieben, wo sie waren, um auf Heinrich zu warten. Und in dem kalten Wind, der durch die Bäume rauschte, und dem zunehmenden Schneefall wurde es ein sehr ungemütliches Warten.

      Als Heinrich nach einer angemessenen Zeit noch nicht wieder zurückgekehrt war, verwandelte sich ihr Unmut in Ärger, und sie beschlossen, ihn zu suchen. Inzwischen war es schon ziemlich finster geworden, und zu ihrem Ärger gesellte sich die Feststellung, erst in der Dunkelheit wieder nach Hause zu kommen.

      Von Heinrich gab es nirgends eine Spur. Sie hörten keine Zweige brechen, wo er hätte umherstapfen müssen, und auf ihre Rufe antwortete er nicht. Für einige Zeit stolperten sie durch den Wald, ohne ein Lebenszeichen von ihm entdecken. Zu allem Ärger über seinen Dickkopf kam jetzt die Sorge, dass ihm etwas zugestoßen war. Allerdings konnten sie sich kaum vorstellen, was das sein konnte. Wölfe, und nur die konnten einem Menschen gefährlich werden, waren in dieser Gegend sehr selten geworden. Wenn sie Heinrich aber nicht bald fanden, dann mussten sie zurück ins Dorf und mehr Männer zusammentrommeln, um ihn zu suchen. Heinrich würde erfrieren, wenn er über Nacht im Wald blieb.

      Dann, sie hatten schließlich den Entschluss gefasst, doch endlich eine Suchmannschaft auf die Beine zu stellen, stolperte Hans Güldner über ein Hindernis am Boden und kam zu Fall. Schimpfend rappelte er sich wieder auf und gab dem Hindernis einen wütenden Tritt, um erstaunt festzustellen, dass er weich nachgab, wie ein Tierkadaver. Sie hatten kein Licht dabei, und so mussten sie den Gegenstand mit ihren Händen untersuchen. Sehr schnell und mit wachsendem Schrecken stellten sie fest, dass da ein Mensch vor ihnen lag, und die klebrige Flüssigkeit an ihren Händen fühlte sich an und roch wie Blut. Sie fanden schnell heraus, dass es sich um Heinrich handelte. Vielleicht lebte er noch, aber er war nicht bei Bewusstsein. Unter den gegebenen Umständen konnten sie kaum herausfinden, was ihm zugestoßen war. Sie hatten nichts gehört, was angesichts der Geräusche des heftigen Windes in den Baumkronen auch nur schwer möglich gewesen wäre.

      Nach einem anstrengenden Marsch zurück nach Wiedling, auf dem sie Heinrich die ganze Strecke tragen mussten, kamen sie endlich bei ihm zu Hause an, brachten ihn dort in die Küche und legten ihn auf die Bank. In der ganzen Zeit war er anscheinend nicht mehr zu Bewusstsein gekommen, denn er hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben. Und jetzt, im trüben Licht der Öllampen, stellten sie fest, dass er tot war. Woher er die Verletzung an seinem Kopf hatte, konnten sie sich nicht denken. Sie rührte auf keinen Fall von einem Sturz. Sie war ihm eher mit einem eisernen Hilfsmittel beigebracht worden, und wahrscheinlich war er schon tot gewesen, als sie ihn fanden. Der Gedanke, dass Heinrich nur ein kleines Stück von ihnen entfernt umgebracht worden war, erfüllte sie mit Entsetzen, aber so musste es gewesen sein. Hans deckte ihn mit einem Laken zu, das ihm von einer der Frauen, die bei der Geburt halfen, gegeben wurde. Das geschah, als die Wehen bei Heinrichs Frau einsetzten.

      Der Holzfäller verließ das Haus, um den Pastor und den Dorfschulzen zu benachrichtigen, wie es in einem solchen Fall üblich war. Der Dorfschulze würde nach der Polizei schicken. Ein Arzt wurde jetzt nicht mehr benötigt. Aber bis er da gewesen wäre, er hätte aus dem entfernten Brelingen kommen müssen, wäre auf jeden Fall viel Zeit vergangen und seine Ankunft vielleicht ohnehin zu spät erfolgt.

      Zu ihrem Glück hatte die Ehefrau Heinrichs von all dem nichts mitbekommen. Sie lag in einem Raum nebenan und war sehr mit sich selbst beschäftigt, während die Hebamme und die drei anderen Frauen Vorbereitungen für die Geburt ihres Kindes trafen. Dass zwischendurch eine der Hilfsfrauen mit einem Laken das Geburtszimmer verließ, blieb ihr verborgen, und trotz der Trauer, die in der Küche herrschte, verhielten sich die Anwesenden andächtig still, damit Heinrichs Frau in ihrem Zustand ja nichts davon erfuhr. Sie würde es früh genug tun, und ihr seelischer Schmerz würde größer sein als der körperliche durch die Wehen. Selbst die drei Kinder Heinrichs, denen die Tragödie nicht vorenthalten werden konnte, blieben stumm in ihrer Trübsal und ihrer Verzweiflung.

      Heinrichs Frau brachte ein Mädchen zur Welt. Es war gesund und kräftig und außergewöhnlich hübsch für ein Neugeborenes. Hätte Heinrich es noch erleben können, wäre er stolz und glücklich gewesen. Sie wurde Walburga genannt.

      So brachte ein tragisches Schicksal an ein und demselben Tag großes Leid und große Freude in die Familie. Doch Walburga durfte kaum mehr als zwölf Jahre im irdischen Leben bleiben.

      Der Beutel mit der Brosche von Heinrichs Frau wurde tatsächlich gefunden, aber an einem Ort und zu einer Zeit, mit denen keiner mehr rechnete.

      Als Theo die Augen aufschlug, wusste er nicht, wo er war. Er wusste zwar, dass er Theo hieß, natürlich hieß er Theo, Theophemus Elend, aber ein Teil von ihm besaß die Identität eines Holzfällers namens Heinrich, und den hatte soeben ein furchtbares Schicksal ereilt. Der überlebende Theo fühlte sich in seinem Wesen zerrissen, denn sein zweites Ich war in einer schaurigen Nacht durch einen Mord ums Leben gekommen, an dessen Einzelheiten sich Theo nicht mehr erinnern konnte. Nur undeutlich war ihm gegenwärtig, dass seine Frau in der gleichen Nacht ein Kind bekam. Aber das gewahrte er wie eine verblasste Erinnerung aus ferner Vergangenheit.

      Theo verharrte in diesem Augenblick in einer Gemütsverfassung, die all seine Sinne lähmte. Er hörte weder das leise Schnarchen von Cornelia noch fiel ihm die vollkommene Dunkelheit auf, die ihn umgab. Es war zwar Dreiviertelmond, aber der war schon wieder unter den Horizont getaucht, und die Gardinen waren dicht genug, um das Licht der Sterne nicht in das Zimmer zu lassen. Theo lag da und war erfüllt von einer Entrückung aus seinem bisherigen Dasein, die er später weder beschreiben noch begreifen konnte. Er konnte sich nicht einmal einreden, dass so der Zustand zwischen Leben und Tod sein musste – das Gefühl, im einen nicht mehr zu sein, und im anderen noch nicht. Dabei nahmen die beiden Wesen, die er für eine kurze Zeit gewesen war, eben diese Zustände ein: Der eine lebte noch, der andere war gestorben. Doch der überlebende Teil wurde durch den verstorbenen angezogen, und Theo spürte, wie er sich gegen diese Kraft anstemmen musste.

      Dann gelang es ihm, diesen lähmenden Zustand zu überwinden und in die Gegenwart zurückzufinden. Sein gegenwärtiges Wesen setzte sich durch und warf die zweite, fremde Identität ab. Es erkannte, dass er nur Theo hieß, Theo war und wohin er gehörte. Und jetzt, als er sich auf seine wahre Existenz besonnen hatte, traf ihn das Furchtbare dessen, was er gerade erlebt hatte, wie ein Schlag. Er richtete sich abrupt auf und schaltete das Licht an.

      „Was ist denn?“, beschwerte sich Cornelia im Halbschlaf.

      „Heinrich ist tot. Er wurde ermordet.“

      „Mitten in der Nacht? Hatte das nicht bis morgen Zeit?“ Cornelia drehte sich um. Schneller als gewöhnlich um diese Nachtzeit wurde auch sie wach. „Wer ist Heinrich? Und warum wurde er ermordet?“

      Es dauerte eine Weile, bis Cornelia auf den Gedanken kamen, Theos Traum mit dem umgebrachten Holzfäller aus dem achtzehnten Jahrhundert in Verbindung