Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Nordländer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847691907
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      „Mir ist kalt.“

      „Dir ist kalt? Ich schwitze mich halb tot und du frierst?“

      „Es ist aber so. Nein, jetzt ist es wieder vorbei. Was war das?“

      „Bestimmt der Anflug einer Sommergrippe“, vermutete Theo scherzhaft. „Sozusagen eine Sekundengrippe.“

      „Unsinn, mir fehlt nichts. Und eine Sekundengrippe gibt es nicht.“

      Theo lachte, aber Cornelia schüttelte sich noch einmal unwillkürlich, dann gingen sie weiter. Kurz darauf war dieser kurze Vorfall vergessen.

      Die plötzliche Kälte, von der Cornelia ergriffen wurde, war keine Einbildung, und ihre Ursache war eine wahrlich schaurige. Seit einiger Zeit war der dunkle Schatten, vor dem Cornelia solche tiefe Furcht empfand, nicht mehr in Erscheinung getreten und beinahe in Vergessenheit geraten. Aber er war nicht verschwunden und befand sich in diesem Augenblick auf der Suche nach Hannah, die er schon bei seinem ersten Auftauchen in der Blockhütte verfolgt hatte. Während Heinrich am Gedenkstein sichtbar geworden war, befand sich Hannah unsichtbar in seiner Nähe und war von einer furchtbaren Angst erfüllt. Sie wusste, dass der Schatten hinter ihr her war, und nur in der Nähe von Heinrich war sie vor ihm sicher. Deshalb hielt sie sich möglichst immer bei ihm auf. Beide kannten die Identität des dunklen Schattens und wussten, von welch furchtbarer Art dieses Wesen tatsächlich war. Es handelte sich nicht um einen Menschen, nicht einmal um den Geist eines verstorbenen Menschen, sondern um einen Dämon, einen echten Dämon. Wenn er auch nicht unmittelbar mit Heinrich in Verbindung stand, auch wenn er gelegentlich gemeinsam mit ihm auftauchte, so hatte er doch einen unheilvollen Einfluss auf das Schicksal von Hannah, die in Wirklichkeit Walburga war, die irdische Tochter von Heinrich, und nicht einmal nach ihrem irdischen Tod wollte der Dämon von ihr ablassen.

      Von diesen Zusammenhängen ahnten Cornelia und Theo nichts. Sie bekamen nur gelegentlich ihre Auswirkungen in die irdische Welt zu spüren und eine davon war der kurze Augenblick, als Cornelia von der Kälte des Schattens gestreift wurde, der nicht weit von ihr zwischen den Bäumen des Waldes lauerte.

      Daran, dass sich dieser Schatten in ihrer Nähe aufhalten könnte, dachten sie nicht. Und der kurze Eindruck, den er bei Cornelia hinterlassen hatte, reichte nicht aus, um ihre Sinne auf ihn zu lenken.

      „Ich bin froh, dass unser Besuch des Gedenksteins doch nicht umsonst war, wie ich zuerst dachte“, meinte Cornelia.

      „Er war nicht nur nicht umsonst, ich finde, wir haben sogar mehr herausgefunden, als ich dachte“, sagte Theo. „Na ja, war eigentlich auch nicht schwierig, denn ich hatte mir eigentlich nicht viel davon versprochen.“

      „Ich mir aber. Zumindest hatte ich gehofft, dass er immer noch so mitteilsam ist, wie es der Fall war, als ich ihn entdeckte. Ist das nicht irre? Hast du jemals gehört, dass ein gewöhnlicher Findling, auch wenn er einem so tragischen Ereignis geweiht ist, überhaupt eine solche Wirkung auf einen Menschen haben kann? Das ist doch eine Geschichte, die uns bestimmt keiner glaubt.“

      „Stimmt, sie ist irre, und glauben wird sie auch niemand. Und doch scheint es nicht einmalig zu sein. Bisher habe ich über solche Fälle immer spöttisch gelächelt. Ab und zu liest oder hört man ja von solchen Dingen. Inzwischen bin ich aber geneigt, manchen einen gewissen Wahrheitsgehalt zuzugestehen, obwohl ich kein Beispiel nennen könnte. Aber in solchen Fällen wird oft im Zusammenhang mit mystischen Orten gesprochen. Wie ein solcher sieht mir derjenige, wo Heinrichs Erinnerungsstein steht, aber nicht aus.“

      „Aber ist es nicht genau das, was einen mystischen Ort ausmacht, seine Unscheinbarkeit? Das Geheimnisvolle ist meistens unsichtbar, deshalb ist es doch geheimnisvoll.“

      „Was hier aber wohl nicht der Fall ist, wie wir heute erlebt haben“, meinte Theo. „Bleibt immer noch herauszufinden, was dieser ganze Spuk soll.“

      Cornelia fing an zu lachen.

      „Was ist daran denn so lustig?“, fragte Theo irritiert.

      „Na ja, du hast »Spuk« gesagt.“

      „Ja, und? Stimmt doch, oder?“

      „Hatte ich das nicht schon vor ein paar Tagen so ausgedrückt?“

      „Ich weiß“, gab Theo zu. „Aber da war ich noch nicht so weit.“

      „Aber jetzt glaubst du es auch.“

      „Habe ich das nicht gesagt? Und deshalb will ich ja auch herausfinden, was dahintersteckt.“

      „Falls es uns jemals gelingt. Immerhin bist du jetzt überzeugt, dass es Geistererscheinungen wirklich gibt“, stellte Cornelia mit Genugtuung fest. „Allein dafür hat sich unser Ausflug gelohnt.“

      Für eine Weile gingen die beiden schweigend und in Gedanken vertieft Hand in Hand nebeneinander her. Plötzlich blickte Cornelia Theo an, wie nach einem Geistesblitz. Und so war es auch.

      „Hältst du es für unmöglich, dass Hannah die Tochter von Heinrich war?“, fragte sie.

      „Wie könnte ich das? Aber wie kommst du jetzt darauf?“

      „Es ist doch auffällig, dass sie immer wieder in seiner Begleitung auftaucht. Daraus schließe ich, dass zwischen den beiden ein Zusammenhang besteht. Was liegt da näher, als dass Heinrich zu irdischen Lebzeiten der Vater von Hannah war. Sicher hatte sie einen anderen Namen, aber das hätte jetzt keine Bedeutung. Immerhin scheint er eine gewisse Schutzfunktion für sie zu haben.“

      „Deswegen muss er nicht unbedingt ihr Vater gewesen sein, aber auszuschließen ist es ganz sicher auch nicht“, meinte Theo. „Es wäre leichter herauszufinden, wenn die beiden mit uns sprechen würden. Aber abgesehen davon, ich glaube, Hannah ist früh gestorben.“

      „Meinst du?“

      „Das jedenfalls erscheint mir sicher. Heinrich ist als Erwachsener ums Leben gekommen. Das geht schon aus dem Gedenkstein hervor. Auch wenn sein Alter unbekannt ist. Aber das weiß ich auch aus eigener Erfahrung. Und er erscheint dir als Geist in der Gestalt eines erwachsenen Mannes, Hannah dagegen zeigt sich stets als Kind.“

      „Als Mensch würde ich sie auf zehn bis zwölf Jahre schätzen“, meinte Cornelia.

      Theo nickte.

      „Vermutlich ist sie in dem Alter gestorben. Da kommt mir so ein Gedanke.“

      „Der wäre?“

      „Na ja, er ist so gut wie jeder andere, das gebe ich zu – aber mein Gefühl sagt mir, dass es so ist. An dem Tag seines Todes wurde seine Tochter geboren. Damals war es nicht ungewöhnlich, dass Kinder früh starben. Vielleicht will Heinrich die Verantwortung, der er in seinem Erdenleben nicht mehr nachkommen konnte, auf diese Weise gerecht werden.“

      „Möglich, obwohl ich es für sehr spekulativ halte. Ich glaube eher, dass er sie vor irgendetwas beschützt“, überlegte Cornelia.

      „Zum Beispiel vor dem dunklen Schatten, was immer der darstellt“, erinnerte Theo. „Aber das läuft aufs Gleiche hinaus, finde ich.“

      „Zum Beispiel, ja. Himmel, den hatte ich schon fast vergessen.“

      Das, was sie sich überlegt hatten, konnte nur Spekulation sein. Für eine unwiderlegbare Deutung der Erscheinungen fehlten ihnen jegliche Beweise. Das meiste mussten sie aus dem schließen, was sie gesehen und erlebt hatten. Und das alles erschien sehr vage und zusammenhangslos.

      „Das haben wir uns jetzt aber alles schön zurechtgereimt“, fand Cornelia dann auch, und ihre Stimme klang alles andere als überzeugt.

      „Was anderes können wir im Augenblick tun?“, sagte Theo. „Auf jeden Fall sind wir da in eine Geschichte geraten, die wir nicht einfach ignorieren können. Ich behaupte sogar, dass wir eine nicht ganz unwichtige Rolle spielen.“

      „Du meinst, wir sind nicht nur zufällige Zuschauer in einem interaktiven Schauspiel?“

      „Das ist aber eine ungemein moderne Beschreibung dieser Geschichte“, meinte Theo lächelnd.