Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Nordländer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847691907
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jetzt bemerkte er die Furcht in der Stimme Cornelias. Theo starrte in die Dunkelheit und versuchte etwas zu erkennen. Nur schwach schien das Licht der nächsten Straßenlaterne durch die zugezogenen Gardinen. Es musste tiefe Nacht sein, denn auf der Straße herrschte absolute Stille. Er konnte in ihrem Zimmer niemanden entdecken.

      „Was macht sie?“, fragte er leise.

      „Nichts. Sie steht nur da und guckt.“

      Theo wollte Cornelia schon dazu auffordern, dem Mädchen zu sagen, dass es sie schlafen lassen sollte, und sich wieder umdrehen, als ihm an eben jener Stelle ein ungewöhnlicher, heller Schleier auffiel, der sich leicht bewegte und hin- und herwaberte. Jetzt lief ihm ein Schauer über den Rücken. Cornelia spürte, wie er sich spannte.

      „Siehst du sie jetzt?“, fragte sie.

      „Ich sehe nur einen Schleier oder einen Nebel, der sich schwach bewegt. Was zum Henker ist das?“

      Cornelia gab keine Antwort. Stattdessen starrte sie reglos auf die Stelle. Was Theo nicht sehen konnte, weil sich der Nebel für ihn nicht veränderte, war die Tatsache, dass die Erscheinung, die vorher nur undeutlich von Cornelia beobachtet werden konnte, plötzlich klar und in Einzelheiten erkennbar wurde, obwohl sie nicht von der Stelle wich. Die Gestalt des Mädchens zeigte sich genauso, wie sie Cornelia in ihrem Blockhaus erschienen war. Doch jetzt stand das Mädchen einige Schritte entfernter.

      Es schien jedoch nicht so verängstigt zu sein wie in Weidlingen, und es weinte offensichtlich nicht. Aber in seinem Gesicht zeichnete sich unverkennbar ein tiefer Kummer ab. Wie beim ersten Mal begann sich der Mund zu bewegen, und Cornelia zweifelte nicht daran, dass das Mädchen ihr auch jetzt etwas sagen wollte. Doch wieder hörte sie keine Stimme. In dem Maße, wie das Kind anscheinend begriff, dass es nicht verstanden wurde, verstärkte sich die Verzweiflung in seinem Gesicht.

      In Cornelia regte sich plötzlich Mitleid, und zur Verwunderung Theos setzte sie sich senkrecht auf und streckte dem Mädchen ihre Hände entgegen.

      „Sprich lauter“, forderte sie das Kind mit erstaunlich fester Stimme auf. „Ich verstehe dich nicht. Wie kann ich dir helfen? Wie heißt du?“

      Das Gesicht des Mädchens schien sich etwas aufzuhellen. Sie sagte noch ein paar Worte und zeigte in eine bestimmte Richtung. Aber sie blieb nach wie vor unhörbar.

      Plötzlich drehte sie ihren Kopf wieder schreckhaft in die eine und die andere Richtung, und ihr Gesicht bekam einen angstvollen Ausdruck. Cornelia wusste, was kommen würde. Sie sank wieder unter ihre Decke und zog sie sich bis zum Kinn. Gleich musste das Mädchen auf der Stelle verschwinden und der furchtbare dunkle Schatten wie ein reißender Wolf auftauchen. In ihrer eigenen Furcht war Cornelia nicht einmal in der Lage, Theo vor dem Erwarteten zu warnen.

      Doch es kam anders. Plötzlich bewegte sich zwar ein Schatten in der Finsternis des Zimmers, aber es war kein Wolf, und das Mädchen verblasste auch nicht. Es war der Schatten eines Menschen, so viel konnte Cornelia erkennen. Und er musste die ganze Zeit unsichtbar neben ihrem Kleiderschrank gestanden haben, während sie vollkommen von der Anwesenheit des Mädchens eingenommen war.

      Der Mann war nicht sehr groß – und er humpelte leicht. Als er auf das Mädchen zuging, erkannte sie vor dem schwach beleuchteten Fenster den Umriss eines beachtlichen Hutes. Kein Zweifel, das musste der Stadtstreicher vom letzten Morgen sein. Aber, verdammt, wie kam er in ihre Wohnung? Und was wollte er mit dem Mädchen?

      Cornelia wollte ihm zurufen, dass er das Kind in Frieden lassen sollte, aber in diesem Augenblick richtete er sein in der Dunkelheit konturloses Gesicht in ihre Richtung und sie schwieg.

      Es war jedoch kein unsichtbarer und doch furchterregender Blick, der Cornelia traf, sondern ein unsichtbarer und besänftigender, als wollte der Mann ihr wortlos mitteilen, dass er dem Kind nichts zuleide tun würde. Hoffentlich war es tatsächlich so und keine Einbildung.

      Der Mann ging auf das Kind zu und streckte einen Arm nach ihm aus. Das Mädchen legte seine Hand bereitwillig in seine. Und dann verblassten beide und verschwanden aus dem Zimmer.

      Cornelia blieb noch eine Weile reglos und stumm liegen. Plötzlich fürchtete sie, dass der dunkle Schatten doch noch auftauchte, aber je länger sie wartete, ohne dass etwas geschah, desto sicherer wurde sie, dass er dieses Mal wegbleiben würde. Theo neben ihr schwieg ebenfalls, aber sein gepresster Atem verriet ihr, dass er nicht schlief. Dann schaltete sie entschlossen das Licht ein. Ihr Schlafzimmer sah so aus wie immer. Sie und Theo waren wieder allein. Jetzt sah sie, dass er eine ungesund fahle Gesichtsfarbe hatte.

      „Ich muss erst einmal eine rauchen“, stellte sie fest, warf ihre Decke zur Seite, stand auf, streifte ihren Bademantel über und ging in die Küche.

      „Was hast du gesehen?“, fragte sie Theo, nachdem sie ein Glas Wasser getrunken hatte. Und gesehen musste er etwas haben, vielleicht sogar gespürt, sonst hätte er nicht so sichtbar fassungslos reagiert. Er rauchte zwar nicht, machte sich aber eine Flasche Bier auf. Es war Viertel nach zwei, und beide waren sie jetzt hellwach.

      „Von dem Kind nur einen konturlosen Nebel, wenn es das Kind war und der Nebel tatsächlich vorhanden und meine Augen mich nicht getrogen haben“, erwiderte er in einer Weise, die seine Aufgewühltheit verriet.

      „Es war da. Ich habe es so klar und deutlich gesehen wie an einem hellen Tag.“

      „Ja, mag sein. Und dann kam dieser andere Nebel, finsterer, dichter, so kam er mir vor. Er berührte den hellen, kleineren Nebel und beide lösten sich auf.“

      „Mehr hast du nicht gesehen?“, fragte Cornelia enttäuscht.

      Theo schüttelte den Kopf.

      „Nein, aber ich weiß, dass etwas da war, etwas, das mir eisige Schauer über den Rücken getrieben hat. Etwas Unnatürliches, das Angst macht.“

      Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Cornelia blickte ihrem Freund ins Gesicht. So mitgenommen hatte sie ihn noch nicht einmal erlebt, als er sein letztes Auto zu einem Totalschaden zusammengefahren hatte, ihm glücklicherweise aber kaum etwas passiert war. Es war offensichtlich, dass ihm die Erscheinungen in ihrem Schlafzimmer mehr zu schaffen machten als Cornelia. Sie stellte fest, dass ihr diese Begegnung mit dem Mädchen und die unerwartete Gegenwart des Stadtstreichers weniger Angst gemacht hatte, als es in Weidlingen der Fall gewesen war, als ihr nur das Mädchen gegenüberstand. Vielleicht, überlegte sie, lag das auch an der Abwesenheit des Schattens.

      Dieses Mal war es anders gewesen als in ihrem Blockhaus. Da hatte sie nur Angst gehabt. Jetzt hatte sie zwischen Angstattacken und einer seltsamen Zuneigung zu dem Mädchen geschwankt. Mit der Anwesenheit des Mannes konnte sie nichts anfangen, aber offenbar kannte er das Mädchen, und es schien ihm zu vertrauen. Eine spürbare Bedrohung war jedenfalls nicht von ihm ausgegangen. Er schien ihr, Cornelia, sogar etwas Beruhigendes mitteilen zu wollen.

      Cornelia schilderte Theo den Hergang so detailliert, wie es ihre Erinnerung zuließ, und er war erstaunt zu hören, dass zwischen dem Stadtstreicher – oder war es doch ein Holzfäller? – und dem Kind irgendein Zusammenhang bestand. Es gab jedoch keinerlei Hinweise darauf, warum ausgerechnet Cornelia von den beiden offensichtlich mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgt wurde. Vielleicht steckten diese Hinweise aber in den stummen Worten des Mädchens. Keiner von beiden glaubte, dass es grundlos versuchte, mit Cornelia in Verbindung zu treten.

      Theo war anfangs ziemlich skeptisch gegenüber Cornelias Schilderungen gewesen. Dabei zweifelte er gar nicht daran, dass sie etwas Ungewöhnliches erlebt hatte. So, wie sie sich verhalten hatte, waren ihr gewiss ein paar nicht alltägliche Erscheinungen begegnet. Aber er war sich nicht sicher, ob ihren Erlebnissen tatsächlich eine Struktur zugrunde lag und es nicht unscharfe traumartige Erfahrungen waren. Solche waren selbst ihm schon begegnet, und er wusste es auch von einigen wenigen Freunden. Doch jetzt, und obwohl er keine klaren Bilder von dem Geschehenen hatte, war er schon geneigter zu glauben, dass irgendein tieferer Sinn hinter all diesen Erscheinungen steckte. Und der Schlüssel zu der Lösung dieses Phänomens war das Mädchen. Wenn es ihnen gelingen würde, es zu finden, dann würden sie auch die Antworten auf ihre Fragen bekommen. Sie mussten es nur irgendwie finden. Theo fragte sich, wie sie und der