Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Nordländer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847691907
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      An diesem Morgen fiel es ihr aus den erwähnten Gründen sichtlich schwerer als sonst, so früh aufzustehen, (wenn es jemand hätte sehen können). Sie konnte sich zwar nicht daran erinnern, von ihren Erlebnissen in Weidlingen geträumt zu haben, damit hätte sie sogar gerechnet, aber sie war zwischen den Schlafphasen immer wieder aufgewacht mit der Befürchtung, wieder das kleine Mädchen in ihrem Schlafzimmer zu entdecken. Falls sie tatsächlich dort war, hatte Cornelia es nicht bemerkt. Und auch der Schatten schien nicht wieder aufgetaucht zu sein. Davor hatte sie sich noch mehr gefürchtet. Sie war sicher, sie hätte es bemerkt, wenn er da gewesen wäre. Daran dachte sie, während sie noch für eine Weile im Bett liegen blieb, um die Reste ihres Schlafes abzuschütteln, nachdem ihr Wecker geläutet hatte. Vielleicht, überlegte sie, hatte Theo ja tatsächlich Recht mit seiner Behauptung, sie würde in Hannover von derartigen Heimsuchungen verschont bleiben.

      Ein wenig mühsam quälte sich Cornelia aus dem Bett. Ihr Muskelkater war immer noch spürbar, auch wenn er schon schwächer geworden war. Theo hatte sich von ihrem Wecker nicht stören lassen. Wahrscheinlich würde er ihre Abwesenheit erst bemerken, wenn sie sich bereits auf dem Weg zur Arbeit befand. Leise zog sie sich an, schaltete das Licht wieder aus und verließ das Schlafzimmer. Nach einem längeren Aufenthalt im Bad und einem vergleichsweise kurzen Frühstück ging Cornelia aus dem Haus.

      Dieser Montagmorgen begann nach dem sommerlichen Wochenende enttäuschend unfreundlich. Über Nacht waren Wolken aufgezogen, und ein kühler Wind trieb einen leichten Sprühregen vor sich her.

      Cornelia und Theo hatten für ihre Autos keine Unterstellmöglichkeit auf dem Grundstück ihrer Mietwohnung, und da am Wochenende die Parkplätze in ihrer Straße oft belegt waren, hatte Cornelia ihren Wagen in einer kleinen Nebenstraße abstellen müssen. Etwas missmutig machte sie sich auf den Weg. Als sie ihren Wagen fast erreicht hatte, kam ihr ein Mann entgegen. Das war eigentlich nicht sonderlich bemerkenswert, aber Cornelia fiel auf, dass er eine eigenwillig antiquierte und abgetragene Kleidung trug. Unwillkürlich blieb sie stehen. Auf merkwürdige Art passte er nicht in diese Umgebung. Obdachlose hatte sie schon viele gesehen, aber obwohl dieser Mann einen beklagenswert armseligen und heruntergekommenen Eindruck machte, vermittelte er doch nicht das Bild eines dieser bedauernswerten Zeitgenossen. Und in seiner einprägsamen Einzigartigkeit, (zu diesem Zeitpunkt ahnte Cornelia noch nicht einmal, wie einzigartig dieser Mann in Wirklichkeit war), fesselte er ihren Blick, obwohl ihr die Unhöflichkeit, ihn so auffällig anzustarren, durchaus bewusst war.

      Neben einem breitkrempigen, unübersehbar abgetragenen Filzhut, der einen Schatten auf sein Gesicht warf, trug er eine weite, graue und unförmige Hose; unter seiner verfilzten, grünen Wolljacke eine schwarze Stoffweste und an den Füßen bemerkenswert schäbige, braune Lederstiefel, denen die Zeit deutlich zugesetzt hatte. Von dem einen Stiefel hatte sich die Sohle bereits gelöst und ein erkennbarer Spalt klaffte zwischen der Vorderkappe und der Laufsohle. Das rote Tuch, das er verwegen um seinen Hals gewickelt hatte, stach fast wie ein Fremdkörper unter all den anderen Kleidungsstücken hervor.

      Der Mann war etwas kleiner als Cornelia, aber von erkennbar kräftiger Gestalt und humpelte leicht. Unter der breiten Krempe seines Hutes konnte sie nur wenig von seinem Gesicht erkennen und von dem wenigen war das meiste hinter einem mächtigen Vollbart verborgen. Es war ihr unmöglich, sein Alter zu schätzen.

      Sie machte einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen. Der Mann schien Cornelia kaum zu bemerken und sah sie nur kurz an, wenn sie die unauffällige Bewegung seines Gesichtes in ihre Richtung richtig deutete. Dann wandte er seinen Blick wieder auf den Gehweg. Damit hätte ihre für Cornelia denkwürdige Begegnung ein unspektakuläres Ende nehmen können, aber als er auf ihrer Höhe ankam, durchfuhr Cornelia überraschend ein kalter Schauer. Sie erstarrte in ihrer Bewegung, während der Mann ungerührt an ihr vorbeiging. Gleich danach war das Gefühl, in einen eiskalten Luftstrom geraten zu sein, wieder verschwunden. Verwirrt drehte sie sich nach ihm um. Langsam humpelte er den Fußweg entlang. Kurz vor der Kreuzung zur breiteren Querstraße geschah etwas, das Cornelia noch mehr verwirrte.

      Beinahe schwungvoll und ungleich munterer als Cornelia um diese Tageszeit, bog ein Paar mittleren Alters, offensichtlich in ein angeregtes Gespräch vertieft, in den Gehweg der kleinen Nebenstraße. Nichts deutete darauf hin, dass der Fremde ihnen aus dem Weg gehen wollte oder die beiden ihm Platz zu machen bereit waren. Nur wenige Schritte, bevor sie aufeinanderprallten, geschah etwas Merkwürdiges. Das Paar machte doch endlich einen Schritt auseinander, um den Mann zwischen sich hindurchzulassen, würdigten ihn aber keines Blickes und ihren Gesichtern, mehr zueinander gewandt als nach vorne, war anzusehen, dass sie den Mann nicht einmal wahrnahmen. Das war umso merkwürdiger, weil seine Erscheinung durchaus eines auffälligen Blickes wert war.

      Und dann kam es zu der gleichen Reaktion der beiden wie kurz zuvor bei Cornelia. Als sich der Fremde genau zwischen ihnen befand, durchlief die beiden erkennbar ein plötzliches Frösteln. Sie verstummten in ihrem Gespräch, sahen sich ratlos an und schlossen unwillkürlich ihre Jacken fester. Keiner der beiden warf auch nur den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf den Mann zwischen ihnen. Erst jetzt schienen sie sich zu wundern, dass sie einen Schritt auseinandergegangen waren. Sie hielten für einen Augenblick an und blickten sich um, dann schüttelte der Partner der Frau verblüfft den Kopf. Schweigend setzten sie ihren Weg fort und kamen auf Cornelia zu. Die beiden grüßten und wollten schon weitergehen, als sie Cornelia ansprach.

      „Ein seltsamer Mann, oder?“, sagte sie und zeigte in seine Richtung. „Ich habe mich auch über ihn gewundert. Ich finde, er war so – komisch.“

      Die beiden drehten sich zur Kreuzung um.

      „Verzeihung“, bat der Mann. „Von wem reden Sie?“

      „Na, von dem, der gerade zwischen ihnen hindurch -.“

      Cornelia unterbrach sich. Es war offensichtlich, dass sie niemanden gesehen hatten.

      „Ach nichts“, erklärte sie verlegen. Mehr fiel ihr auch nicht ein.

      Sie war froh, dass die beiden anscheinend in Eile waren und keine Fragen stellten. Was hätte sie unter diesen Umständen erwidern sollen? Es war eine groteske Situation. Ein wenig mitleidig lächelnd gingen die beiden weiter.

      Das gibt es doch gar nicht, dachte Cornelia. Der Fremde war schon um die Ecke, als sie hinter ihm herlief. Er konnte noch nicht weit sein. Sie hatte zwar keine rechte Vorstellung, was sie vorhatte, hoffte aber, ihn noch einzuholen. Und dann die Überraschung: Der Mann war weg. So weit sie in alle Richtungen blicken konnte, war nichts mehr von ihm zu sehen. Er war spurlos verschwunden.

      „Mist!“, sagte Cornelia leise. „Ich war zu langsam.“

      Nachdenklich und noch verwirrter als zuvor fuhr sie zur Arbeit. Zumindest für sie war die Begegnung mit diesem Fremden fast schon unheimlich.

      Erst später fiel ihr auf, dass er weder einen unangenehmen, wie es eigentlich bei seiner Erscheinung zu erwarten gewesen wäre, und so nahe, wie sie sich gekommen waren, noch überhaupt einen Geruch verströmt hatte. Dass sie seine Schritte nicht gehört hatte, konnte sie sich ja noch mit weichen Stiefelsohlen erklären, aber er hätte zumindest spürbare Ausdünstungen von sich geben müssen.

      Durch diese Verzögerung und einen kurzen Verkehrsstau an einer Kreuzung wäre Cornelia beinahe zu spät beim Hannoverschen Stadtkurier angekommen. Eine Minute vor ihrem Dienstbeginn erreichte sie im Laufschritt ihr Büro.

      „Na, wieder einmal so ein verflixter Montagmorgen, was?“, empfing ihre Kollegin Silke sie feixend.

      „Wie?“, fragte Cornelia sie geistesabwesend.

      „Ich sagte -,“ wollte Silke wiederholen, aber Cornelia kam ihr zuvor.

      „Ach so, ja. Ja, wirklich verflixt“, meinte Cornelia etwas zusammenhangslos und ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen, ohne ihre Jacke an den Haken gehängt zu haben. Nachdenklich blickte sie durch das Fenster in den grauen Himmel. „Und ein verflixtes Wochenende“, murmelte sie.

      Silke betrachtete ihre Kollegin neugierig.

      „Conny, stimmt etwas nicht? Hast du Ärger?“

      „Hm, was? Ärger?“,