Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Nordländer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847691907
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      „Ganz frisch. Aber sei vorsichtig, Dirk hat ihn heute gekocht.“

      „Dirk? Wie kommt das? Hat er ein schlechtes Gewissen?“

      „Ich glaube eher, er wollte nicht darauf warten, bis sich ein anderer bequemt, ihn aufzusetzen. Immerhin hat er für uns mitgekocht.“

      In der Redaktion des Hannoverschen Stadtkuriers gab es keine ausgeprägten Hierarchien, welche Aufgaben unbedingt von wem zu erledigen waren, zumindest, solange es um keine wichtigen Geschäftsangelegenheiten ging. Da kochte auch schon einmal der Chef, Dirk Tschaß, selbst den Kaffee für seine Mitarbeiter, so wie an diesem Morgen geschehen. Aber wenn Dirks Name im Zusammenhang mit Kaffeekochen fiel, war das stets eine Garantie für einen fast ungenießbar starken Kaffee, wenn man ihn nicht mit viel Milch oder heißem Wasser verdünnte. An diesem Morgen trank Cornelia ihn unverdünnt, was Silke noch stutziger machte. Aber so sehr sie sich auch bemühte, etwas über die Ursache für Cornelias merkwürdiges Verhalten herauszufinden, es gelang ihr nicht.

      Im Laufe des Vormittags tauchte auch Theo auf. Er hatte ein eigenes Büro, kam aber zuerst zu den beiden Damen herein, gab Cornelia einen flüchtigen Kuss und entschuldigte sich, dass er nicht mit ihr aufgestanden war. Dann eilte er auch schon weiter, um mit Dirk den Artikel über den Kampf der Taubenzüchter gegen Windmühlen zu besprechen. Diese eher spöttisch gemeinte Umschreibung der Veranstaltung, die Theo im entfernten Ostfriesland besucht hatte, wurde dann aber tatsächlich zu der Schlagzeile seines Berichtes.

      Cornelia lächelte nur tiefgründig, als Theos Rücken durch die Tür verschwand. Sie hatte eben zum wiederholten Mal ein Ritual von ihm erlebt. Cornelia glaubte Theo zwar, dass er ein angedeutet schlechtes Gewissen hatte, wenn sie früh raus musste und er weiterschlafen konnte. Dieses schlechte Gewissen regte sich aber natürlich erst, wenn er selbst aufwachte, und nicht schon am Abend davor, wenn er wusste, dass Cornelia früher aufstehen musste als er. Außerdem wäre es in jedem Fall zu schwach ausgeprägt gewesen, als dass er tatsächlich mit ihr aufstand. Aber damit hatte sich Cornelia inzwischen abgefunden und machte es im umgekehrten Fall genauso. Das hatte er davon.

      „Ah, das lange Elend!“, hörte Theo die Stimme von Carlo, einem weiteren Journalisten, aus dem Nachbarbüro, während er durch den Flur ging, auf seinem Weg ins Allerheiligste der Redaktion, den Räumen des Chefs. Die Bemerkung war natürlich ein ironischer Hinweis auf seinen Nachnamen und nicht auf die Wirkung seiner Anwesenheit in der Zeitung. Das Attribut war nicht ernst gemeint. In Wirklichkeit war Carlo Wichmann einen halben Kopf größer und deutlich schmächtiger als Theo. Aber in der Redaktion ging es manchmal sehr übermütig zu.

      „Später Carlo. Hab´ jetzt keine Zeit.“

      Theo und Cornelia sahen sich im Laufe des Tages noch einige Male, aber sie erzählte ihm nichts von ihrer denkwürdigen Begegnung am Morgen. Sie wollte es ihm zwar sagen, aber erst, wenn sie Feierabend hatten und wieder zu Hause waren. Es war nichts für die Ohren der Kollegen, die allzu leicht ihre eigenen, falschen Schlüsse ziehen würden. Zu diesem Zeitpunkt brachte Cornelia ihre Begegnung auch noch nicht mit den Ereignissen in Weidlingen in Verbindung. Immerhin war sie aber bereit, sie in die Serie der merkwürdigen Begebenheiten einzureihen, die ihr in letzter Zeit zuteil geworden waren. Auch wenn sie sich nichts mehr anmerken ließ, beschäftigte sie das alles doch ständig, und sie ertappte sich einige Male, wie sie gedankenverloren aus dem Fenster blickte, ohne draußen etwas wahrzunehmen. Auch Silke fiel die gelegentliche geistige Abwesenheit ihrer Kollegin auf, vermied aber jeden Kommentar, den Cornelia falsch verstehen konnte, und fragte auch sonst nicht nach ihrem Befinden. Cornelia konnte gelegentlich ziemlich launenhaft reagieren. Es war unübersehbar, dass sie irgendetwas beschäftigte, aber Silke hatte beschlossen, darauf zu warten, dass Cornelia von sich aus damit anfing. Bis zum Feierabend wartete sie jedoch vergebens, obwohl sie vor Neugier fast platzte.

      „Trug er eine Axt bei sich?“, fragte Theo.

      „Eine Axt? Warum gerade eine Axt?“, wunderte sich Cornelia.

      „Weil so, wie du ihn mir beschrieben hast, ein Holzfäller aussehen könnte.“

      „Mitten in Hannover und ohne Kettensäge“, erwiderte Cornelia trocken. „Ganz sicher.“

      „Ich meine ja nur. Aber die Beschreibung passt eher auf einen Holzfäller aus vergangenen Zeiten.“

      Das war eine Ansicht, die Cornelia nicht unbedingt teilte, und sie wusste auch nicht, wie Theo darauf kam.

      „Ja, der Gedanke ist mir natürlich sofort gekommen“, meinte sie spitz. „Der einzige Holzfäller, den ich kenne, ohne ihn allerdings jemals gesehen zu haben, und auf den die Beschreibung vielleicht passen würde, wurde dummerweise im achtzehnten Jahrhundert erschlagen, und an ihn erinnert nur noch ein gewisser Gedenkstein. Er wird es also kaum gewesen sein.“

      „Spotte nicht“, meinte Theo mit mildem Tadel. „Woher soll ich das wissen?“

      Cornelia blickte Theo kurz verwirrt an und fragte sich, wie er das jetzt gemeint hatte. Aber dann lachten beide.

      Der Gedanke, dass sie sich vielleicht irrten, kam ihnen gar nicht erst, denn er wäre zu ungeheuerlich gewesen, als dass sie ihn hätten akzeptieren können.

      Schon beim Abendessen hatte es Cornelia nicht mehr ausgehalten und ihrem Freund von ihrem Erlebnis am Morgen dieses Tages erzählt. Für ihn war es eine ganz gewöhnliche Begegnung mit einem Stadtstreicher, die Cornelia vielleicht nur falsch eingeschätzt hatte. Der Mann und die Frau, die behauptet hatten, ihn nicht gesehen zu haben, waren entweder ziemlich blind gewesen, oder so in ihr Gespräch vertieft, dass der Stadtstreicher ihnen tatsächlich nicht aufgefallen war. So etwas war Theo auch schon passiert. Außerdem war es ein kühler, feuchter Morgen gewesen, da konnte man schon einmal einen Schauer in einem kühlen Windstoß empfinden. Der Körpergeruch? Na ja, dann war seine Körperpflege eben gründlicher, als seine Erscheinung vermuten ließ. Und schließlich hatte seine Freundin wohl doch zu viel Zeit vertrödelt, um ihn noch einzuholen.

      „Eigentlich“, meinte Theo, „war es eine ganz normale Begegnung, finde ich.“

      Cornelia widersprach nicht so energisch, wie er erwartet hatte. Vielleicht hatte Theo ja Recht, obwohl er nicht wissen konnte, wie sie in jenem Moment empfand. Aber sie konnte nach seinen Erklärungsversuchen tatsächlich nur noch die seltsame Kleidung des Mannes als Grund für ihre Behauptung anführen, dass die Begegnung mit ihm so seltsam war. Und selbst die war vielleicht nur eine Marotte dieses Mannes.

      Cornelia seufzte.

      „Ja, vielleicht messe ich der Angelegenheit tatsächlich zu viel Bedeutung bei“, meinte sie.

      „Das ist in deiner derzeitigen Situation ganz normal“, sagte Theo verständnisvoll. „Aber du wirst sehen, in ein paar Tagen ist wieder alles in Ordnung.“

      „Meinst du? Na ja, kann schon sein.“

      Theos Worte sollten zwar verständnisvoll klingen, aber ein, vielleicht ungewollter, mitleidig-spöttischer Unterton war nicht zu überhören. Und der hätte bei Cornelia gewiss zu einer trotzigen Reaktion geführt, wenn sie nicht zu nachdenklich gewesen wäre, um ihn zu bemerken.

      Als einige Zeit später das Licht in der Wohnung von Theo und Cornelia ausging, stand unten auf der Straße im Schatten eines Baumes die Gestalt eines Mannes mit einem auffallend breitkrempigen Hut und starrte für einige Zeit hinauf zu ihren Fenstern. Das Licht der Straßenlaterne ließ kaum seine ärmliche Bekleidung erkennen. Dann drehte er sich um und verschwand humpelnd in der Dunkelheit. Niemand, der in diesem Augenblick auf dem Gehweg entlanggekommen wäre, hätte den Fußgänger sehen können.

      Mitten in der Nacht rüttelte etwas an Theos Schulter. Nur widerwillig wachte er auf und knurrte unverständlich.

      „Pst, leise!“, hörte er das beschwörende Flüstern von Cornelia.

      „Was ist denn los?“

      „Sie ist wieder da. Da, neben dem Fenster.“

      Theo drehte sich auf den Rücken und richtete sich auf.

      „Wer ist da?“

      „Na