»Erzähl mir was von dir. Ich kann nicht neben dir schlafen und so wenig über dich wissen. Da weiß ich ja mehr über meine Kunden.«
»Es geht dir auf dem Sperlhof nicht schlecht«, schloss Sepherl Katharinas Bericht ihrer dreizehnjährigen Lebenserfahrung. »Stell ich mir schön vor, auf einem Hof. Zumindest immer was zu beißen.«
»Der Bauer hat keine Verwendung für mich«, warf Katharina ein. »Bei einem anderen Bauern will ich nicht in Stellung gehen. Eigentlich will ich überhaupt nicht als Magd in Stellung gehen.«
»Kannst in eine Fabrik. Rate ich dir aber nicht. Hab ich versucht, du weißt schon, sozusagen um einer ehrenhaften Arbeit nachzugehen. Die saugen dich dort mehr aus als ein Freier.«
»Ich will frei und nicht mehr der Gnade oder Ungnade anderer ausgeliefert sein!«, rief Katharina.
»Frei?«
»So wie ihr! Ich brauche nicht viel. Eine kleine Dachkammer wie diese würde mir reichen. Ihr könnt gehen, wann ihr wollt und …«
»… und jeder kann uns vögeln, wenn er genug Geld hat.«
Katharina blickte die Frau fragend an.
»Du hast keine Ahnung, welchem Gewerbe Mila und ich nachgehen, richtig? Wir sind alles andere als frei«, dabei spie sie das letzte Wort förmlich aus. »Wir sind die niedrigsten Mägde der Männer. Wir sind die Untersten der Gesellschaft, wir sind frei zu sterben, und kein Hahn würde danach krähen.«
»Aber«, setzte Katharina kleinlaut an.
»Nichts aber! Es ist ein Leichtes, an dem ganzen Jammer zu zerbrechen.« Für Sepherl war die Unterhaltung beendet und sie gab dies zu verstehen, als sie ihr Milas Bettstatt zuwies.
»Sie hofft, du könntest ihr helfen.« Katharina erkannte die Stimme Sepherls. »Wie kommst auf die hirnrissige Idee, der Kleinen deine Hilfe anzubieten?« Katharina lugte durch die halb geöffneten Augenlider.
»Bis sie aus der Vormundschaft dieses Betvaters entlassen wird, bleibt sie an Ort und Stelle. Danach schauen wir weiter.«
Mit einem Satz sprang Katharina auf. »Ich muss heute die Maria besuchen!«
»Vor dem Mittagessen gibt’s sowieso keine Besuche dort. Erst wenn die Ärzte den Wöchnerinnen bis nach Jerusalem gefingert haben, lassen sie dich vielleicht rein.« Mila übersah geflissentlich die dargereichte Hand und umarmte ihre Gefängnisbekanntschaft fest und ehrlich.
»Vielleicht?«, fragte Katharina.
»Oder hat diese Maria für die Zahlklasse geblecht? Im Gebärhaus hat man überhaupt keine Rechte, nur Pflichten. Rechne lieber damit, deine Freundin heute nicht mehr zu sehen.«
»Ich muss wissen, wie es ihr geht und was es geworden ist. Es ist so traurig, dass wir es nicht mitnehmen können. Ich weiß, wo sie sie hingebracht haben. Abteilung eins«, verkündete Katharina.
»Dann lebt sie hoffentlich noch«, murmelte Sepherl.
»Warum soll sie nicht mehr leben?«, fragte Katharina entsetzt.
»Hör nicht auf das Geschwätz von der da«, beschwichtigte Mila.
»Von wegen Geschwätz! Ich sag nur, was wahr ist.«
»Wahr hin oder her, man kann zur Abwechslung seine verdammte Goschen halten.«
»Die ist in der Metzgerabteilung gelandet! Wenn diese Maria den Löffel abgibt, dann muss die Kleine das verkraften. Man sollte sie darauf vorbereiten. Da setzt bei dir der Beschützertrieb ein, was? Deshalb willst du der Kleinen unbedingt helfen, weil du es bei deinem eigenen Kind nicht konntest.« Sepherl fasste Milas Schweigen als Zustimmung auf weiterzureden. »Schau, Mädel. Wahrscheinlich geht’s ihr gut. Du musst aber wissen, dass diese Abteilung im Gebärhaus nicht unbedingt die sicherste ist. Die erste Abteilung untersteht den Ärzten, die zweite den Hebammen. Die zweite genießt einfach einen besseren Ruf. Viel weniger Tote, verstehst? Das würden die hochverehrten Studierten niemals zugeben.«
Katharina wandte sich nach einem bitteren Schluck aus dem Becher an Mila. »Du hast ein Kind?«
»Hatte«, antwortete diese. »Gönn mir noch zwei, drei Stunden Schlaf. Dann begleite ich dich zum Gebärhaus.« Damit erhob sich Mila von der Kiste und legte sich auf ihre Matratze.
9
»Kollegen, Sie müssen schon etwas näher herantreten, oder soll ich etwa aus dieser Entfernung zu Ihnen plärren?« Der Arzt fixierte seine vier Studenten. »Ich weiß, ich weiß, vor dem toten Körper scheut man sich weniger. Sie wollen doch nicht nur am leblosen Material üben. Diese vierundzwanzigjährige Magd wurde gestern am frühen Nachmittag mit eröffnenden Wehen aufgenommen. Nachdem der Austreibungsprozess zum Erliegen gekommen war, wurde vom Accoucheur mittels Zange ein normalgroßer Knabe entbunden«, rezitierte Johann Klein, Leiter der Gebärklinik, Marias Gebärverlauf.
Sie lag in dem von Studenten umkreisten Bett und erinnerte sich mit Schaudern an den vorherigen Abend. Der Accoucheur zog und zog mit der Zange, ihren Schmerzensschreien schenkte er kein Gehör. Zum Glück war sie nicht durchgehend bei Bewusstsein und irgendwann gab ihr Körper dem Willen des Arztes nach. Ihr Unterleib fühlte sich zerrissen an, schmerzte bei den Demonstrationen des Klinikleiters. Die Studenten begafften jeden Handgriff des Professors genau, begafften sie.
»Sie!«, forderte er einen dicklichen Studios auf. »Erproben Sie Ihre Fähigkeiten.« Damit trat er zwei Schritte zurück und machte den Platz frei für den Schüler. »Mit Gefühl, Sie Tölpel! Denken Sie an Hippokrates.«
Maria schloss die Augen, um den Klinikleiter nicht weiter sehen zu müssen. Der schüchterne Student hatte zehnmal mehr Gefühl als er und der Fleischer von gestern. Sie würde alsbald aus diesem Bette aufstehen und wenn nötig zur Türe rauskriechen, nur um von diesem Ort wegzukommen. Maria hoffte darauf, dass Katharina sie heute wirklich besuchen käme. Ein vertrautes Gesicht konnte sie gut gebrauchen.
»Semmelweis!«, polterte die Stimme weiter. »Ihre Patientin, bis zur Entlassung. Ich erwarte täglich einen schriftlichen Untersuchungsbericht. Meine Herren, folgen Sie mir zum nächsten Untersuchungsmaterial.«
»Keine Besuche! Wir sind randvoll mit Patientinnen, da wollen wir nicht noch mehr Leute im Haus«, ordnete die Aufseherin an.
»Aber wie es ihr geht, können Sie uns sagen. Ist alles gut gegangen?«, erfragte Mila an Katharinas Stelle.
»Kind ist da. Ein Knabe. Geburt war schwierig. Kommt morgen, da kann die Wöchnerin vielleicht aufstehen, die haben sie fast zerrissen.« Katharina schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Immerhin lebte sie, und morgen könnte sie Maria ganz bestimmt sehen.
Auch am nächsten Tag begleitete Mila sie zu dem Eingang im östlichsten Trakt des Krankenhauses. Sie wurden zur Enttäuschung beider erneut abgewiesen. Die Patientin fühle sich nicht wohl und könne nicht aufstehen. Unschlüssig blieben die beiden auf der Treppe stehen. Da öffnete sich die Türe des Haupteinganges und ein junger Mann trat heraus.
»Wenn das nicht mein angehender Medizinikus ist!«, rief Mila amüsiert aus. Überrascht glotzte er sie an und blickte sich dann rasch um.
»Fräulein Mila.«