Er sah sich unter Zugzwang. Wollte er nicht eine weitere Ewigkeit ins Gespräch vertieft mit einer Hure vor der Klinik stehen, musste er versuchen, die Neugierde der beiden zu befriedigen.
»Wie heißt die Frau?«
»Maria«, beeilte sich Katharina zu sagen. Erst jetzt blickte der Student auf das Mädchen, das Mila begleitete. »Sie liegt in der ersten Klinik. Dunkelblonde Haare, nicht besonders groß, nicht klein, so etwas dazwischen eben.«
»Maria, vierundzwanzig, Erstgeschwängerte, Magd bei Karl Sperl.« Ihnen schien es, als rezitierte er aus einem Buch.
»Das ist sie!«, jubelte Katharina.
Der angehende Arzt presste die Lippen aufeinander und suchte nach den richtigen Worten, während er sich ausgiebig räusperte.
»Zunächst verlief alles gut. In der Nacht klagte die Patientin jedoch über Schmerzen im Unterleib. Zuerst dachte ich, es seien postnatale Kontraktionen. Als dann heute Vormittag leichtes Fieber hinzukam …«
»Wird sie sterben, weil man sie in die erste Abteilung gebracht hat?«, fragte Katharina.
»Wie meinst du das?«
Mila legte den Arm um Katharina und bedeutete ihr, still zu sein.
»Ihr Zustand wird genauestens beobachtet. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich muss mich wirklich sputen. Die Lectio beginnt gleich.« Ignaz Semmelweis eilte in den nächsten Hof davon.
»Woher kennst du den Mann?«, erkundigte sich Katharina auf dem Rückweg.
»Ist ein Kunde von mir, zwar ein seltener, aber ein durchaus vertrauter.« Katharina hatte mittlerweile ein grobes Bild davon, womit die beiden Frauen ihr Geld verdienten. »Er war vor etwa einem Jahr das erste Mal bei mir. Er stammt aus Ungarn. Bei mir holt er sich ein bisschen Zuneigung und redet den Großteil der Zeit. Der war ganz schön verlegen!« Mit lautem Prusten setzte sie hinzu: »Dabei war ich angezogen! Normalerweise lausche ich seinem Kummer mit blankem Busen!« Katharina stimmte in das Gelächter ein, zu komisch war die Vorstellung von dem rezitierenden Studenten, dem dabei die Brüste Milas vor dem rotbäckigen Gesicht wippten.
»Wir versuchen es in zwei Tagen«, lenkte Mila sachlich ein. »Wenn wir dann nichts erreicht haben, musst du alleine zurück nach Ottakring. Du kannst nicht ewig vom Bauern wegbleiben. Die machen sich bestimmt Sorgen um dich.«
Ignaz Semmelweis las sich das von ihm angefertigte Protokoll durch.
Der erste Tag des Wochenbettes verlief ohne wesentliche Besonderheiten. Nachts jedoch klagte die Patientin, wie sie der Nachtpflegerin mitgeteilt hatte, über Bauchschmerzen. Am darauffolgenden Morgen kam leichtes Fieber hinzu. Im Laufe des Tages zeigte sich der Bauch aufgebläht und war empfindsam gegen die leichteste Berührung. Am vierten Tag verfiel die Wöchnerin in ein heftiges Delirium, die Haut war mit klebrigem Schweiß bedeckt und glühte förmlich, aus den Augen sprach das Fieber, Respiration war erschwert.
Angeordnet wurden Aderlässe und Brechmittel. Die Gabe von Opium zur Schmerzlinderung schaffte nur kurzzeitige Erleichterung. Am Morgen des sechsten Tages, dem 15. November 1841, verstarb die Wöchnerin.
Ignaz legte den abschließenden Untersuchungsbericht auf die bereits verfassten Protokolle. Er war mit seiner Genauigkeit und seinen Formulierungen zufrieden und konnte sie guten Gewissens dem Professor zur Beurteilung übergeben. Heute standen keine universitären Verpflichtungen mehr an. Was könnte er mit dem restlichen Tag noch anfangen? Sein Freund hatte keine Zeit, das wusste er. Dieser war im Lehrplan ein Jahr voraus und hatte einen anderen Stundenplan. Seiner Bekanntschaft verdankte er gewissermaßen die Entscheidung für ein Studium der Medizin.
Eigentlich war er mit 19 Jahren für das Rechtsstudium nach Wien gekommen. Sein Vater hatte für ihn das Leben eines Militäranwaltes vorgesehen. Nachdem er den befreundeten Medizinstudenten in eine Anatomievorlesung begleitet hatte, war seine Entscheidung klar. Der Vortrag von Professor Josef Berres hatte ihn dazu gebracht, sich neu zu orientieren. Im darauffolgenden Herbst ließ er die Rechte sausen und schrieb sich für Medizin ein.
Sein Freund war vermutlich unterwegs zu seiner Vorlesung von Carl von Rokitansky. Er bewunderte Rokitansky, obwohl er momentan nur die Stellung eines außerordentlichen Professors bekleidete.
Vielleicht könnte er Mila einen Besuch abstatten. Er wusste von einer Wärterin, dass das seltsame Mädchen am Tag vor dem Tod seiner Patientin, hartnäckig auf Einlass bestanden hatte. Die Aufseherin war an diesem Tag mildtätig gelaunt und ließ sie ein. Das Delirium war zu weit vorgeschritten, als dass die Todgeweihte ihren Besuch noch wahrnehmen hätte können.
»Unser zufälliges Zusammentreffen vor dem Gebärhaus hat Sie offenbar daran erinnert, dass Sie mich schändlich vernachlässigen«, beklagte sich Mila bei Ignaz.
»Die Verpflichtungen, die Verpflichtungen …«, rechtfertigte er sich. Er erkannte einen Scherz meistens nicht.
»Recht so, aus Ihnen soll etwas werden«, lobte Mila ihn. »Ich hoffe, Sie vergessen mich dann nicht ganz.« Sie mochte ihn, er war ein angenehmer Kunde aus gutem Hause. Seinem Vater, einem angesehenen Geschäftsmann, gehörte ein riesiges Gemischtwarengeschäft im ungarischen Tabán. Soweit sie sich erinnern konnte, irgendetwas mit einem Elefanten. Dort konnte man, laut Ignaz’ Aussage, so gut wie alles erstehen. Er erzählte ihr häufig von seiner Familie, die er in einsamen Momenten vermisste. Seine Mutter hatte zehn Kinder zur Welt gebracht, das letzte tot. Die beiden jüngsten Kinder, zwei Mädchen, kamen nicht über das Kleinkindalter hinaus. Ignaz war der Fünftgeborene. Alle sechs Söhne wurden auf das erzbischöfliche Gymnasium geschickt. Ein älterer Bruder ergriff das Amt des Priesters, einer wurde Beamter und der älteste trat in die Fußstapfen des Vaters. Seine einzige lebende Schwester heiratete vor ein paar Jahren einen Bekannten der Familie, einen Apotheker. Was er ihr über die beiden jüngeren Brüder erzählt hatte, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Dem geschäftlichen Erfolg des Vaters war es zu verdanken, dass Ignaz sich hin und wieder das Vergnügen leisten konnte, ihr einen Besuch abzustatten.
»Sollte ich die Medizin revolutionieren und Geschichte schreiben, Sie werde ich ganz bestimmt nicht vergessen!«, schmeichelte er ihr.
»Weniger tote Frauen in den Gebärkliniken wären erstrebenswert.«
»Die Geburtshilfe ist nicht gerade ein angesehenes Fachgebiet. Dort für Furore zu sorgen, wird ein Schweres.«
»Lässt Sie der Tod Ihrer letzten Patientin so kalt, dass Ihnen nur Ihr künftiges Ansehen in den Sinn kommt?«
»Es tut mir leid, ich vergaß Ihre indirekte Verbindung zu der Verstorbenen.« Das mochte sie auch an ihm; alles was er sagte, meinte er aufrichtig.
»Sie ist nur eine von vielen, die jährlich den Tod im Kindbett finden.«
»Wie hat das Mädchen den Tod der Frau aufgenommen?«, hakte er nach.
»Sie hat sich auf den Weg zurück zu ihren Dienstleuten gemacht und ich hoffe, sie bleibt dort. Der Tod dieser Frau hat zumindest etwas Gutes. Ihr Dienstherr braucht einen Ersatz und Katharina kann dieser Ersatz sein. Wenn sie nur will.« Nachdenklich blickte Mila durch den Raum. »Woran sterben all diese Frauen?«
»Man weiß es nicht, allgemein ist die Rede von zeitweisen Epidemien, von Miasmen, die über den Gebärenden schweben, Verunreinigung des Inneren. Die Erklärungsversuche sind mannigfaltig und sehr vage.«
»Es wäre jedenfalls ein Verdienst an der Menschheit, dem Ursprung dieses Massensterbens auf den Grund zu gehen«, warf Mila ein. Sein betrübter Gesichtsausdruck erregte ihr Mitleid.
»Genug der Worte, Herr Doktor,