Das Kreuz im Apfel. Sabrina Schmid. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabrina Schmid
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762290
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er dem Onkel Bericht erstattete, befreite ich ihn von den Eisstückchen. Er hat gesagt, dass es wichtig sei, die Sprache nicht zu vergessen. Man könne nie wissen.«

      »Kluger Mann. Der Kaiser spricht immerhin deutsch«, meinte Mila. »Und hattest du es gut dort?«, fragte Mila bang.

      »Oh ja, und wie«, schwärmte Katharina und ein Leuchten zeigte sich in ihren vorhin noch so traurigen Augen. »Tante Mařka meinte, ich könne sie beide Vater und Mutter nennen. Das konnte ich nicht.« Sie sah ihre Mama noch nach all den Jahren mit geschlossenen Augen und kalter Haut auf der Bettstatt liegen. »Von da an hatte ich einen Onkel und eine Tante und zwei Cousinen. Der Onkel konnte Geschichten erzählen, da kam einem das Staunen. Ich habe ihm so gerne zugehört, wenn er etwas erzählt hat. Er meinte oft, ich sei naseweis und viel zu neugierig. Im Frühling kamen viele Leute vorbei. Manchmal war ein Schindelmacher für längere Zeit auf dem Gut, um das Dach der Scheune oder des Stalls zu reparieren. Wir hatten einige Stück Vieh und mindestens zwei Schweine und ganz viel Geflügel. Da schlüpften die Küken eins nach dem anderen. Der Frühling war wundervoll, mit all den Blumen. Zuerst blühten Huflattich, Gänseblümchen und Fingerkraut. Zu unseren Aufgaben gehörte es, die Haselnusssträucher im Vorgarten auf die winzig kleinen roten Fruchtblüten hin zu untersuchen. Weißt du, die Anzahl der Blüten sagt einem, wie viele Nüsse es geben wird.«

      »Das sind bestimmt eine ganze Menge. Kannst du gut zählen?«, fragte Mila, der von dem Wortschwall des Mädchens der Kopf schwirrte.

      »Natürlich. Ich war in der Schule. Ein Jahr nachdem ich zur Tante und zum Onkel gekommen war, wurden ich und Lorča in die Schule in Radnice geschickt. Wir brauchten fünfundzwanzig Minuten runter, bei gutem Wetter. Im Winter war der Weg beschwerlicher. Im Herbst konnte es mit all dem Matsch auch eine ziemliche Plackerei sein.«

      »Sie haben dich gerngehabt, wie mir scheint. Warum musstest du weg? Wie alt bist du?«

      »Zehn. Mit zehn Jahren wird man aus der Findelanstaltspflege entlassen. Wenn man nicht bei der Pflegefamilie bleiben kann, wird man zurückgeschickt und die überstellen einen dann zur eigenen Familie oder an die Heimatgemeinde.«

      »Warum konntest du nicht bleiben?«, fragte Mila erneut.

      »Der Onkel ist gestorben«, presste Katharina hervor. Milas Betroffenheit war echt. Sie wartete geduldig bis die Kleine sich gefangen hatte und von alleine weitererzählte. »Es war ein Unfall. Einige Tage nach Weihnachten erhielt er vom Grafen den Auftrag, Bäume zu fällen. Der umstürzende Baum begrub ihn unter sich. Die Tante brach ohnmächtig zusammen, als man den toten Onkel nach Hause brachte. Im Frühjahr teilte sie mir mit, dass sie nach Třeboň umziehen würden. Ihre älteste Tochter Bedřiska wohnt dort seit zwei Jahren bei einem Notar und dessen lediger Schwester. Er war ein Freund des Onkels. Auch Lorča wäre im Herbst dorthin geschickt worden. Dann starb der Onkel, und die Tante stimmte dem unerwarteten Heiratsantrag des Notars zu. Ich bettelte, sie begleiten zu dürfen. Der Notar wollte das nicht. Ich nannte ihn einen gemeinen Hund. Doch die Tante meinte, es wäre rechtschaffen genug, eine Witwe mit zwei Töchtern zu heiraten. Mehr könne sie nicht verlangen. Tante Mařka und Lorča packten ihre Sachen und bestiegen weinend eine Kutsche. Am gleichen Tag wurde ich von einem Mann, den ich nicht kannte, in einen Wagen gesetzt und ich verließ das Forsthaus. Ich habe nicht geweint. Dafür kann ich jetzt nicht mehr damit aufhören.«

      Mila durchbrach die Stille und klopfte sich auf die Oberschenkel. »Das Forsthaus liegt hinter dir, aber vor dir noch dein ganzes Leben, und es wird ein glückliches sein!« Mila glaubte nicht an ihre Worte, wie hätte sie auch. Sie war froh, als Katharina die herankriechende Angst rechtzeitig unterbrach.

      »Die schönsten Erinnerungen habe ich an Weihnachten. Schon einige Tage vor den Feiertagen gab es viel Geheimniskrämerei, Verstecken und Vorbereitungen. Die ganze Wohnung wurde geputzt, hinter die Fenster kam grünes Moos mit Strohsternen. Der Duft von Äpfeln, Weihnachtsstriezel, Lebkuchen, Vanille und Schokolade erfüllte das ganze Haus.« Katharina gähnte und legte den Kopf an Milas Schulter. Mit träger Stimme erzählte sie mehr für sich selbst als für Mila von ihren Erinnerungen an Weihnachten weiter. »Als es endlich dunkel wurde, deckten die Dienstmägde den Tisch. Alle mussten sich waschen und ordentlich anziehen. Der Onkel sprach das Gebet. Die Augen aller hoffen auf Dich, Herr, und du gibst ihnen Speisen zur rechten Zeit. Du öffnest deine Hand … und weiter weiß ich es nicht mehr. Es war sehr andächtig. Das Essen schmeckte herrlich und als der Strudel auf den Tisch kam, konnte ich kaum noch einen Bissen hinunterbringen. Da musste noch jeder von dem Obst kosten, damit man das ganze Jahr über gesund bliebe, und einen Apfel auseinanderschneiden, um zu sehen, ob darin ein Kreuz oder ein Stern sein würde. Dies sagt einem voraus, ob es ein gutes oder schlechtes Jahr werden wird.« Mila kannte diesen böhmischen Brauch. »Der Onkel hatte beim letzten Weihnachtsfest ein Kreuz.«

      Mila strich dem Mädchen über den Kopf und dachte an ihr eigenes Kind.

      4

       Ottakring

      Mit dem Schreiben aus der Findelanstalt in ihrer Rocktasche trottete Katharina dem verdrossen dreinblickenden Beamten mit dem geschwungenen Schnauzbart hinterher. »Das Schreiben hast du bei dir?«, versicherte er sich überflüssigerweise. Er hatte ihr dabei zugeschaut, wie sie es eingesteckt hatte. Zufrieden mit der Antwort schritt er auf den Pfarrhof zu. Das Häuschen sah anders aus, als sie es in Erinnerung hatte. An die Brücke, welche über den Bach an die Tür führte, konnte sie sich nicht erinnern. Der Beamte klopfte dreimal und blickte auf seine beschlagene Taschenuhr. Sie verzog den kindlichen Mund und zupfte den Beamten am Ärmel.

      »Mit Asche bekommen Sie die Uhr zum Glänzen«, beratschlagte Katharina ihn. Sie hatte den Bediensteten vor dem Weihnachtsfest geholfen, das kostbare und selten verwendete Silbergeschirr auf Hochglanz zu polieren.

      »Kannst dir gleich angewöhnen, dass auf dich nichts gegeben wird«, fuhr er sie an.

      »Gott zum Gruß«, sagte der Pfarrer und schaute den Mann fragend an. Katharina erkannte Pfarrer Lutner sofort. Wie sie zugeben musste an seinem Buckel.

      »Kommissär Traxler mein Name, ich komme vom Magistratsdepartment der k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien und soll ihnen Katharina Hochstätter, normalalt geworden und somit aus der Findelanstaltspflege entlassen, überstellen.« Galt früher noch als Normalalter fünfzehn Jahre, konnten die Kinder seit einigen Jahren nur mehr mit einer zehnjährigen Versorgung rechnen. Üblicherweise hatte den ersten Anspruch auf das Kind die Mutter, danach die Pflegefrau.

      Johann Lutner blickte auf das Mädchen herab und erinnerte sich deutlich an die Fünfjährige, die ihn darüber aufgeklärt hatte, dass der Teufel keine Hörner hatte.

      Da der Geistliche wortlos dastand, ergriff der Beamte erneut das Wort. »Es hat ein Schreiben mit den entsprechenden Anweisungen der Findelanstalt bei sich. Ich empfehle mich.« Katharina blickte Pfarrer Lutner an. Dieser fasste sich und reichte dem Mädchen eine rötlich gefleckte Hand, mit stark geschwollenen Fingergelenken.

      »Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt! Groß bist du geworden. Wenn ich daran denke, wie klein und schmächtig du warst, als …«, der Pfarrer hielt inne. Er wusste nicht, ob sich das Kind überhaupt erinnerte und hoffte für sie, sie täte es nicht.

      »Das Pfarrhaus habe ich anders in Erinnerung«, sagte sie in bemühtem Deutsch. Ihre Sprechweise war ganz anders als die seiner Seelsorgegemeinde.

      »Deine Erinnerung trügt dich nicht«, entgegnete er. »Vor drei Jahren wurde der Pfarrhof neu gebaut und mit Ziegeln gedeckt.« Er deutete nach oben.

      »Schaut das Haus, in dem ich geboren wurde, auch anders aus?«

      »Das Haus steht nicht mehr. Vor drei Jahren hat es hier in Ottakring gebrannt. Vormittags gegen zehn Uhr stiegen aus dem an den Pfarrhof angrenzenden Bauernhaus heftige Flammen auf. Durch den starken Wind griff das Feuer rasch auf die umliegenden Gebäude über. Über fünfzig Häuser wurden vernichtet. Lediglich die Kirche und rund dreißig Häuser blieben von dem Feuerinferno verschont. Komm rein und zeig mir den Brief.«

      Er hatte Mühe, die lange Litanei des Verfassers zu entziffern. »Kann der Pflegling