Das Kreuz im Apfel. Sabrina Schmid. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabrina Schmid
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762290
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      Sie verschloss dem quäkenden Säugling den Mund, ohne ihn anzusehen. Es ist besser nichts zu spüren, hatte ihr die Mutter kurz vor ihrem Tod zugeflüstert und mit einer schwachen Handbewegung auf Katharinas Herz gezeigt. Katharina war fünf und wusste, dass der Teufel keine Hörner hatte, wie ihn der Dorfpfarrer in seinen Predigten am Sonntag beschrieb. Ob der Pfarrer wusste, dass der Teufel bei ihr zu Hause wohnte? In manchen Nächten hatte ihre Mutter es nicht geschafft, ihn abzuwehren. Ihr Flehen wurde von den Pranken um ihren Hals erstickt. Katharinas Herz hämmerte in diesen Momenten gegen ihre magere Kinderbrust. Sie wagte kaum zu atmen, konnte den Anblick nicht ertragen und sich dennoch nie abwenden. Meist konzentrierte sie sich auf die dunklen Wogen, die wie ausgegossenes Schmutzwasser über das Gesicht der Mutter schwappten. Der Teufel hörte irgendwann auf, die Mutter zu malträtieren und erhob sich nach einem Grunzen.

      Die Erinnerungen an die Mutter waren nach all den Jahren verblasst. Die flüchtige Vorstellung von Liebe war geblieben.

       du bist gebenedeit

       unter den Frauen,

       und gebenedeit ist

       die Frucht deines Leibes, Jesus.

      1

       Juli 1833, Ottakring

      »Eichen, Buchen, Tannen und du musst fangen. Eichen, Tannen, Buchen und du musst suchen«, kichernd liefen Barbara und Elisabeth davon. Josef war sehr lustig anzusehen, wenn ihn die beiden älteren Mädchen abschüttelten und er sich darüber ärgerte. Katharina lehnte sich an den Baumstamm, barg ihr Gesicht in den Händen und drückte die Augen fest zu, um nicht des Schummelns bezichtigt zu werden.

      »Ich komme!«, rief sie und machte sich auf die Suche. Katharina war fünf und somit gleich alt wie Josef, der ebenso wie Elisabeth und Barbara aus Wien kam. Sie hingegen war aus dem Bauch der Mutter gekommen. Manchmal wünschte sie, sie käme ebenso aus Wien. Die Mutter lag seit dem Mittagessen mit Bauchschmerzen im Bett. Sie hatte sie unter angestrengtem Keuchen nach draußen geschickt. Katharina liebte es, mit Barbara und Elisabeth und Josef im Gemüsegarten zu knien, während die Mutter ihnen Geschichten über die verärgerte Karotte erzählte. Katharina musste jedes Mal losprusten, wenn die Karotte orange vor Ärger den Erdapfel als dicke Knolle beschimpfte. Allein mit der Mutter fühlten sich die Kinder glücklich.

      Weniger gern mochte Katharina die Großmutter und den Großvater. Wenn der Pfarrer in der Sonntagspredigt darauf hinwies, seinen Nächsten zu lieben, berief sie sich darauf, dass der Teufel nicht zu diesen Nächsten zählen konnte. Immerhin hatte sie die Mutter und die Geschwister aus Wien lieb. Das musste genügen.

      Die Mutter schrie sich in dieser Nacht die Seele aus dem Leib. Die Kinder saßen zusammengekauert in einer Ecke und weinten still. Im Morgengrauen gebar sie zwei Mädchen, die so winzig waren, dass Katharina es kaum glauben konnte. Wenige Stunden danach schloss ihre Mutter die Augen und öffnete sie trotz inständigen Flehens nicht mehr. Die Großmutter saß ausnahmsweise nicht keifend am Küchentisch und starrte die beiden Säuglinge an.

      Am darauffolgenden Tag packte sie eines der Neugeborenen und fuhr mit dem Wagen davon. Katharina, Josef und die beiden älteren Mädchen blieben mit dem Zwillingsmädchen zurück. Bald entdeckten die Kinder, dass es sich am besten beruhigen ließ, wenn man ihm den kleinen Finger in den Mund steckte. So wechselten sie sich den ganzen Tag darin ab und ließen es mal am eigenen, mal am Finger des anderen saugen, bis die Großmutter am Abend heimkehrte und wortlos das Geschwisterchen und einen weiteren Säugling mitbrachte.

      2

       September 1833, Wien

      »Die Zustände in der Außenpflege sind vielerorts untragbar! Davor können wir nicht die Augen verschließen!«

      »Die Leitung verschließt keineswegs die Augen davor. Fällt so eine Pflegepartei dem Visitator ins Auge, wird sie mit sofortigem Entzug des Pfleglings bestraft.«

      »Der letzte Fall ist äußerst pikant. Beim Bericht des Visitators überkommt einen das Schaudern. Es zeigt erneut, dass die derzeitigen Kontrollen nicht ausreichen. Über Jahre hinweg hatte dieses Weib aus Ottakring Kinder aus dem Findelhaus in Pflege. Keiner wusste, welch unehrbarer und verwerflicher Machenschaften sie sich dazu bediente. Im Protokoll heißt es und ich zitiere: Nachdem ich an ihrer verschlossenen Tür eine geraume Weile gewartet hatte, kam sie, angeblich aus der Apotheke zurück, und welcher Anblick bot sich mir nun in der bewussten Stube dar! Auf einem elenden, über zwei Tische gebreiteten Strohlager lagen vier Findlinge, keiner noch zwei Monate alt, nebeneinander; drei davon vom Durchfall besudelt, der vierte, vielleicht seit einer Stunde schon, tot … Die Untersuchung des Falles wurde umgehend eingeleitet und was dabei herauskam, kann getrost als verbrecherisch bezeichnet werden.« Der Redner machte eine bedeutungsschwere Pause, um die versammelte Kommission auf die erschreckenden Einzelheiten der Untersuchung einzustimmen.

      »Vom Herbst 1825 bis zum ersten Halbjahr 1833 nahm die verheiratete Bäuerin Therese Hochstätter siebzehn Findlinge auf. Die ersten sieben starben nach spätestens einem Monat. Die Verordnung des Findelhauses, nur an Brustparteien abzugeben, umging diese Person, indem sie ihre erst kürzlich niedergekommene Tochter schickte. Die beiden etwa siebenjährigen Mädchen und der fünfjährige Junge, die trotz erbärmlicher Zustände der Säuglinge, guter Gesundheit vorzufinden waren, befinden sich mittlerweile in anderweitiger Pflege. Über die Zuständigkeit für das Mädchen, das Katharina genannt wird, jedoch nirgends aufscheint, weder bei der weltlichen Obrigkeit noch im Taufregister, wird derzeit noch beraten. Der Pfarrer, ein gewisser Johann Lutner, gibt an, nichts von den Zuständen gewusst zu haben. Er hat die Pfarre in Ottakring vor einem Jahr von dem verstorbenen Pfarrer Gregor Kaller übernommen. Dieser hatte der Therese Hochstätter jahrelang die Ehrzeugnisse ausgestellt.« Der Kommissär massierte seine Schläfe, bevor er mit seinem Schreckensbericht fortfuhr. »Johann Hochstätter gab bei der Vernehmung zu, seine Tochter mehrmals geschwängert zu haben. Wie viele Kinder er tatsächlich mit ihr gezeugt hatte, konnte er nicht konkret angeben. Mit den Betrügereien am Findelhaus hatte er angeblich nichts zu tun. Dies war alleiniges Nebengeschäft seiner Gattin. Zwei der vier Säuglinge, die der Visitator Mückisch laut seinem Bericht auf dem Küchentisch aufgereiht vorfand, stammten aus dem Findelhaus. Unhaltbare Zustände! Diese raffgierigen Frauen tun den Findlingen nicht einmal die nötigste Pflege an.«

      »Das ist keine neue Erkenntnis, so traurig sie sein mag. Die Findlingspflege hat sich in gewissen Regionen sozusagen zu einem eigenen Erwerbszweig entwickelt. Da kann noch so oft an den Christenmenschen appelliert werden. Reiche, wohlsituierte Familien nehmen selten einen Findling auf. In der Regel sind es die armen Volksklassen, die sich mit dem Kostgeld oft selbst über die Runden bringen.«

      »Die ordentliche Versorgung der Kinder muss trotz dieser Tatsache sichergestellt werden. Darin sind wir uns hoffentlich einig. Eine neue Regelung über die Kontrollorgane wird hermüssen.«

      »Werte Herren, nicht nur die Zustände außerhalb sind untragbar, auch der Zustand im Haus.«

      »Wie dürfen wir das auffassen?«

      »Ich zitiere gerne eine Stelle aus dem Bericht besagten Arztes. Er ist seit dem Jahr 1810 Aufseher der Findelanstalt. Ich kenne ein Weib, welches in einem Jahr zum 13. Male einen lebenden Findling gegen einen unter ihren Händen gestorbenen erhielt.«

      »Worauf genau wollen Sie hinaus?«

      »Stellt sich das nicht verständlich dar? Dann erkläre ich es gerne. Diesen gottlosen Weibern wird durch die losen Gesetze der Findelanstalt noch die Hand gereicht. Wie kann es angehen, dass eine Frau ihre Tochter vorschickt, ausgestattet mit fremden Zeugnissen, und einen Findling nach dem anderen überreicht bekommt. Wie kann es angehen, dass der Pfarrer gutgläubig Sittlichkeitszeugnisse ausstellt, obwohl in dem Hause Notzucht und wer weiß was noch vorgeht? Es muss von Grund auf an anderen Stellen angesetzt werden. Eine härtere Reglementierung der Abgabe und vor allem eine stärkere Kontrolle der Pflegefrauen vor der Zuteilung eines Kindes müssen her!«

      Doktor