Das Kreuz im Apfel. Sabrina Schmid. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabrina Schmid
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742762290
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die er von der Findelanstalt hatte, befanden sich im August 1833 fünf Kinder bei dieser Pflegepartei. Diese hohe Zahl hielt ihn dazu an, trotz seines bisherigen guten Bildes, das er von der Kostpartei hatte, eine außertourliche Visitation anzusetzen. Seine Zählung vor Ort ergab vier vernachlässigte und von Kot besudelte Säuglinge. Eines davon war mit Sicherheit bereits einige Stunden tot. In den Ecken kauerten vier größere Kinder. Er hatte der Pflegefrau die Papiere aus der Hand gerissen und sie aufgefordert, ihr die zwei Säuglinge aus der Findelanstalt anzuzeigen. Eines der älteren Mädchen hatte wie verrückt zu schreien begonnen, als die Frau auf die zwei schwächsten, aber noch lebenden Säuglinge deutete: »Die sind aus dem Bauch der Mutter!« Der Visitator stand in der nach kranken Ausscheidungen stinkenden Stube und schwor sich, das Schreiben mit seiner Kündigung noch am selben Tag aufzusetzen. Er flüchtete mit einem lebenden Säugling, zwei größeren Mädchen, einem Jungen und einem in Tücher eingeschlagenen kleinen Leichnam aus der Dunkelheit dieser Höllengruft. Ob er die richtigen Kinder mitgenommen hatte, konnte er nicht gesichert sagen. Es waren zumindest fünf an der Zahl, das Geschlecht stimmte und das Alter kam in etwa hin.

      Noch in derselben Woche erschien die Polizei in Begleitung des vierzigjährigen Pfarrers. Die Großmutter bestritt unter Berufung auf Gott die Existenz von zwei weiteren Säuglingen im Haus, wie es der Visitator Mückisch in seinem Bericht vermerkt hatte. Die kleinen Körper der Zwillingsmädchen wurden nur wenige fingerbreit unter der Erde im Gemüsegarten zwischen den Kürbissen entdeckt. Katharina war froh, dass die Großmutter sie nicht zwischen den Karotten verscharrt hatte. Die Großeltern wurden unter lautem Protest aus der Stube geführt und weg waren sie.

      Katharina stand vor dem schäbigen Haus und starrte ihnen hinterher. Pfarrer Lutner bedeutete ihr, ihm zu folgen. Der Visitator hatte ihn in einem Schreiben dazu angewiesen, das Kind für einige Tage in seine Obhut zu nehmen, bis die Zuständigkeit für die Versorgung des Mädchens geklärt sei. Johann Lutner wünschte sich zum wiederholten Male in seine alte Pfarre in Hollern bei Bruck an der Leitha zurück.

      Vor ihnen tauchten der Pfarrhof und die Kirche auf. Er erinnerte sich nur zu gut an seine Ankunft vor einem Jahr in der Pfarrei Ottakring. Die Aufschrift ober der Kirchentüre Dilexi decorem domus tuae stellte sich nach einem ersten Rundgang als Ironie erster Güteklasse heraus. Die Kirche war innen rot und gelb gefärbelt, recht stark in die Augen fallend. Der Tabernakel, die Kanzel und die Orgel waren grün angestrichen. Der Kanzel gegenüber stand ein grün angestrichener Kasten mit einem Krippel. Zwei geschnitzte und bemalte Engel von ungleicher Größe auf braunen Fußgestellen thronten auf dem Hochaltar, auf welchem nur vier alte zerbrochene Leuchter standen. Auf beiden Seiten der Wand waren zwei Bretter angenagelt, nach der Form Johannes und Maria ausgeschnitten. In der Mitte des Altars an der Wand hing die Abbildung des sterbenden Heilands am Kreuze in einem schwarz angestrichenen, weichen Rahmen. Dieses Bild ließ er zwar putzen, aber das Gemälde blieb wegen seines Alters undeutlich und schwarz. Seit seiner Ankunft war er nur auf Übelstände gestoßen. Er hatte mit konsequenter Strenge versucht, die Kassen und das Armeninstitut zu ordnen und die Kirchenzucht zu heben. Seine Bemühungen brachten ihm Widerstand und Anfeindungen ein. Unter sich hielten die Ottakringer nicht zusammen, aber gegen jene, welche hier nicht aufgewachsen waren, war der Zusammenhalt ein fester.

      »Du bist nicht getauft«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr, als sie am Tisch im Pfarrhaus Platz genommen hatte. Die zwei Fenster auf die Gasse und das eine in den Hof des größeren Zimmers waren klein und fast quadratisch und neben einem winzigen Winkelfenster die einzige Tageslichtquelle. »Du bist jeden Sonntag in der Kirche gesessen und nicht getauft.« Die Zimmerdecke war nur ein Sturzboden, mit Brettern überschlagen. »Ich dachte immer, du seiest aus dem Findelhaus, wie die anderen.«

      »Nein, Herr Pfarrer, ich komme nicht aus Wien. Ich komme aus dem Bauch meiner Mama«, klärte sie den Pfarrer auf, der die Welt nicht zu verstehen schien.

      »Hm«, brachte dieser nur hervor.

      Und weil Katharina immer noch das Gefühl hatte, dass der Pfarrer zu wenig wusste, beschloss sie, ihn auch über den Teufel aufzuklären. »Keine Hörner, Herr Pfarrer, keine Hörner«, schloss sie ihren Bericht über den Teufel in ihrem Haus und beobachtete dabei die fahler werdende Gesichtsfarbe des Geistlichen.

      »Du wirst getauft. Ungetauft im Pfarrhaus, das geht nicht an.«

      Zwei Tage blieb Katharina beim Pfarrer, ehe der Dorfrichter Franz Sallinger sie abholte und in das große Haus mit den vielen Kindern bringen ließ. Sie saß am Tisch mit Kindern, die sie nicht kannte, und wurde von einer Frau mit weißer Schürze und weißer Haube beim Essen beaufsichtigt. Auf den aufgereihten Matratzen am Boden neben der Wand schliefen die Säuglinge. Sie selbst zählte zu den Größeren und trotzdem fühlte sie sich so ganz ohne ihre Mutter und ihre Geschwister recht klein. Ihre Vorfreude, Barbara, Elisabeth und Josef in dem Findelhaus wiederzusehen, wurde enttäuscht. Sie waren nicht da.

      Sie beschloss, die Wärterin mit der Haube zu fragen. Diese meinte nur, dass sie bestimmt bei einer neuen Pflegefamilie seien. »Täuschlinge bleiben nie so lange, außer sie sind recht krank.«

      »Was ist ein Täuschling?«, fragte Katharina, das letzte Wort lang dehnend.

      »Beim Essen wird nicht gesprochen«, erinnerte die Aufseherin.

      »Bin ich ein Täuschling?«

      »Täuschlinge sind von den Kostplätzen zurückgestellte Kinder, aus den verschiedensten Gründen. Du bist ein zeitweilig aufgenommenes Kind.«

      »Was ist das?«

      »Kinder, die nicht aus dem Findelhaus stammen.«

      »Aha, Kinder aus dem Bauch der Mutter.« Katharina schob sich das nächste zu große Erdapfelstück in den Mund. »Ich verstehe.«

      3

       Juli 1838, Gefangenenhaus

      »Hör auf zu weinen«, forderte eine energische Stimme. Bald würde in der Zelle tiefe Dunkelheit herrschen. »Das entstellt dein Gesicht.«

      Katharina zog den Rotz hoch und schaute die Frau in der hinteren Ecke verstohlen an. Das Auffälligste an ihr waren die Haare, die sich um ihr helles Gesicht kringelten.

      »Die waren immer schon so«, meinte sie als Antwort auf Katharinas unausgesprochene Frage. »Die dagegen«, und zeigte dabei auf Brüste, die beinahe aus dem Mieder hüpften, »kamen erst später.« Sie erhob sich, strich den Rock glatt und kam auf Katharina zu. Für eine Frau hatte sie eine beachtliche Größe. »Ich heiße Mila, eigentlich Milleta, aber das ist den Kunden zu lang, deshalb Mila.« Mila wartete, dass das Mädchen ihren Namen nannte. »Willst du nichts sagen oder kannst du nicht?«

      »Du bist sehr groß«, sagte Katharina auf Böhmisch. Mila horchte auf, als sie ihre Landesprache aus dem Mund des Mädchens hörte.

      »Das sagen meine Kunden auch oft«, entgegnete Mila in derselben Sprache. »Hätte nicht gedacht, dass du aus Böhmen kommst. Siehst eigentlich nicht danach aus.«

      »Ich habe dort gelebt. Geboren bin ich woanders.«

      »Wusste ich es!«, freute sich Mila und sah sich in ihrer Fähigkeit bestätigt, Menschen nach dem Aussehen ihrer Herkunft zuordnen zu können. »Sag mir erst deinen Namen und dann erzähl, warum du geweint hast. Sogar die Freier nennen einen Namen, bevor sie loslegen.«

      Katharinas Unterlippe zitterte. Sie erinnerte sich an die Einsamkeit, die sie im Findelhaus verspürt hatte und die sie erneut überrollte. Die Wärterin beglückwünschte sie damals mit aufrichtiger Freude. Die Frau, die sie aufnahm, war die Gattin des Forstverwalters irgendeines böhmischen Grafen und hatte selbst zwei Mädchen. Das jüngste war in ihrem Alter und lange Zeit recht krank. Der Graf hatte das kranke Kind zu einem bekannten Wiener Arzt bringen lassen. Das Mädchen war gesundet und als gottgefälliges Werk wollte die Frau des Forstverwalters ein Kind aufnehmen. Mit der Anweisung, sich mit dem Fragen zurückzuhalten, war Katharina der ihr fremden Frau übergeben worden, deren Sprache sie nicht verstand.

      »Heißt das, du hast Deutsch verlernt?«

      »Es gab